Es ist tatsächlich nur ein Mann der sich hinter dem kryptischen Namen Nostalgia77 verbirgt: Benedic Lamdin. Man mag dieser Feststellung kaum glauben schenken, wenn man bedenkt, dass einer allein eine solche Menge an Musik produzieren kann. Sein Oeuvre erstreckt sich von eigenen Aufnahmen als Nostalgia77 oder auch als Nostalgia77 Octet mit angehängter Jazz-Band, bis hin zu seiner Tätigkeit als Produzent diversern Künstlern. The Sleepwalking Society ist jedenfalls sein elftes(!) Album. Es ist ein für Nostalgia77 typisches geworden. Wie schon seine Vorgänger Songs For My Funeral, The Garden und Everything Under The Sun rahmt der Jazz diesen Release. HipHop-Beats, Funk-Intonation und Soul-Stimme werden dem beigefügt. Doch der Sound, den Lamdin kreiert, war trotz der allseits bekannten Komponenten, von Beginn an ein ganz eigener. Doch auch Lamdin fing klein an. Als Sohn einer Klavierlehrerin und Sängerin und eines singenden Vaters bekam er die Musik zwar in die Wiege gelegt, doch was ihn wirklich beeindruckte, waren LPs wie Can’s Tago Mago oder Charles Mingus‘ Ah Um. »Wir waren alle infiziert von Dance-Music, von Hip Hop & Drum’n’Bass. Aber diese Mingus-Scheibe… it’s a big one.« Diese Liebe zur Rhythmik kann man noch heute aus seiner Musik heraushören.
Kontrolle ersetzt Improvisation»Es ist weniger live eingespielt diesmal. Viel kontrollierter.«
Benedic Lamdin
Doch nicht nur die Rhythmik sticht bei den Produktionen heraus, auch sind sehr häufig einfach tolle Stimmen zu hören. So auch bei The Sleepwalking Society. Mit Josa Peit wurde ein weiteres Talent von Benedic Lamdin zu Tage befördert. »Josa mailte mir, nachdem sie einige alte Platten von mir gehört hatte, ein paar ihrer Songs. Mir gefiel das und ich konnte direkt ihre Stimme auf meinen Songs hören. Also lud ich sie nach London ein.« Josa Peits Stimme ist einmalig: fragil, rauchig, hauchend. Und doch hat sie eine Bestimmtheit und Kraft, die einen nicht teilnahmslos lässt. Ähnlich wie auch die Musik von Nostalgia77 oszilliert sie zwischen der Fragilität der Jazz-Arrangements und der rauhen Kraft des Funk. Schon der Album-Opener Sleepwalker, der sofort an die Songs auf The Garden erinnert, hat auf der einen Seite den schläppenden HipHop-lastigen Beat, auf der anderen Seite durch die Stimme und Instrumentalisierung eine Leichtigkeit, die sich jedoch in Unsicherheit umkehrt und doch nachdrücklich wirkt. Noch stärker ist dieses Gefühl vielleicht nur auf Simmerdown, das mit seiner starken Melodie ins tiefste Mark trifft. Die Songs entstünden immer zuerst an der Gitarre, erzählt Lamdin. »Ich machte dann daraus ein Demo, schickte es Josa und schrieb ihn danach fertig, schaute mit unserem Bass-Player Riaan auf die Arrangements und ging ins Studio, um die Rhythmus-Sektion aufzunehmen.« Ein stark kontrollierter Produktionsweg also, wohingegen die Nostalgia77-Octet Aufnahmen viel mehr aus Sessions entstanden. Lamdin behielt bei The Sleepwalking Society die Zügel in der Hand. »Es ist weniger live eingespielt als bei den eher Session-basierten Aufnahmen anderer Alben. Viel kontrollierter.«
Musik ist keine Entität»Ich finde, dass Musik nicht in einem Vakuum existieren sollte. Sie ist Teil des Lebens.«
Benedic Lamdin
Lamdin schafft es jedoch auch auf seinem neuen Album einen tiefen, organischen Sound zu fassen, die Spontaneität vermittelt. Bei Mockingbird setzt Lamdin beispielsweise auf ein repetitives Grundmuster, um darauf ein Saxophon zu setzen, das der Jazz-Improvisation nahe steht. Vielleicht ist es gerade diese Mischung aus Freiheit und Kontrolle, die auf The Sleepwalking Society einen solchen Mehrwert produziert. Und nicht nur auf dieses Album übertragen: Lamdins ganzes Schaffen basiert auf einer solchen Vielfältigkeit. Durch die vielen Projekte, die der Brite verfolgt, kann er genau diese unterschiedlichen Pole in sich vereinen. Das zeigen auch seine Planungen für die nächste Zeit: »Ich mag es, eine gewisse Vielfältigkeit in meiner Arbeit zu haben. Ich arbeite an einem weiteren Nostalgia77-Album, vielleicht noch eines mit mehr Songs und eines mit mehr Jazz-Sachen. Außerdem arbeite ich an Songs und Mixes für kleinere Jazz-Gruppen in London und an zwei Alben, eines mit Jeb Loy Nichols und eines mit Sister Mary.« Genug zu tun also für Benedic Lamdin. Viele freie Tage bleiben da nicht übrig. »Die Zeit in der ich nicht arbeite, verbringe ich mit meiner Familie, ich wurde vor sechs Monaten Vater. Aber ich verbinde das alles auch. Ich finde, dass Musik nicht in einem Vakuum existieren sollte. Sie ist Teil des Lebens.« Musik ist für Lamdin also immer an etwas gekoppelt. »Ein Großteil interessanter Musik ist stets mit etwas außerhalb der Musik verbunden.« Musik ist keine selbstreferentielle Entität. Vielleicht ist das die Lektion, die Lamdin propagiert. Kein abgehobener Selbstzweck, sondern immer die Nähe zum Leben, zum Alltag suchend. Diese Persönlichkeit ist zu hören. Auch The Sleepwalking Society ist ein irgendwie heimeliges Stück Musik. Nicht viele schaffen es, Musik zu machen, von der man sich ertappt fühlt. »Ich bin glücklich, wenn Leute ehrlich sagen können, ihnen gefällt meine Musik.«