Mr. Mitch macht tiefgefrorenen Grime für einsame Momente auf einer Eisscholle

23.02.2015
Foto:Pani Paul / © Planet µ
Emo-Grime? Jedenfalls ist Mr. Mitch‘ Version des Genres eine eigene. Vor allem deshalb, weil sie etwas zusammenbringt, das erstmal nicht zusammen gehört. Wie Mr. Mitch über eine Müslipackung und ein Sportgeschäft seinen Weg gefunden hat.

Ein kühles Emotionsbündel? Gibt’s nicht. Man sagt ja nicht umsonst, »der/die ist total unterkühlt«, wenn man ausdrücken will, dass vom Gegenüber keine Gefühlsausbrüche oder emotionale Inbrunst zu erwarten sind. Kälte und Gefühle verschiedener Art: passen nicht zusammen.

Mr. Mitch wirft das mit seinem Debütalbum durcheinander; bringt zusammen, was sich doch eigentlich widerspricht: Auf »Parallel Memories« gießt er Grime zu einer Eisskulptur und vergießt doch ein Meer aus Gefühlen. Es strömt gleichzeitig Kälte und geballte Emotion aus diesem Album. Als Hörer assoziiert man Kühlhäuser, kalte Fließen, Eisglötze und bibberndes Metall, wenn man die Synthesizer hört, das mechanische Piepsen und die generischen Geräusche. Aber als Hörer fühlt man hier auch. Fühlt trotzdem. Und zwar nicht nur, wenn die Stimme des Blackstreet-Sample fleht, »don’t leave me girl«.

Minimale Ausstattung, (aber) Raum für Gefühle

Alle Töne frösteln, ein eisiger Schimmer liegt auf den Instrumentals. Doch nicht nur hauchen diese Töne einem den kalten Atem ins Gesicht, nein, sie sind obendrauf noch karg, minimalistisch, schnörkellos; sind Zimmer ohne Möbel, Landschaften ohne Bäume. Alles auf »Parallel Memories« klingt, als habe es Mr. Mitch geschliffen bis es glatt und leer scheint wie eine Eislaufhalle in der Morgendämmerung. Menschenleer und dunkel glitzernd, so mutet »Parallel Memories« an. Und trotzdem fleht es und weint es, windet sich und plärrt. »Das Gefühl transportiere ich über die Melodien«, erklärt Mr. Mitch, »so können Gefühle in einem Song existieren, egal wie minimalistisch er ist«. Das ihm das gelingt, ist eine Kunst. Seine Kunst. Mr. Mitch erschafft mit minimaler Ausstattung maximale Gefühlsdichte.

Bis vor einem Jahr war das noch ganz anders. Bis »Parallel Memories« erschien, war Mr. Mitch dafür bekannt, Songs über die Tanzfläche zu jagen, die absolut keine filigranen Eisgebilde waren – eher mutierte Riesenkröten auf Steroiden. Ein Beispiel dafür ist »Viking«, 2013 auf Big Dada erschienen, inklusive ODB-Sample und HudMo-esquen Zappelphilippismus.

Zimmer ohne Möbel, Landschaften ohne Bäume: alles scheint leer und doch voller Gefühl.

Als DJ und als Produzent machte sich der Musiker so in London einen Namen. Gemeinsam mit Slackk, Logos und Oil Gang veranstaltet er die Partyreihe Boxed, die Grime in seiner ganzen Bandbreite abdeckt und das Genre wieder fester im Londoner Nachtleben verankerte. Ein Genre, das von einer handvoll Produzenten vor Monitoren neu erdacht wurde, drang plötzlich wieder raus in die stets progressive Musikszene Londons. Außerdem gründete Mr. Mitch 2010 sein eigenes Label, Gobstopper Records, sowie ein Jahr später Beatfighter, ein Online-Portal auf dem sich Produzenten clashen, ein instrumentales Äquivalent zu den bekannten Battle-Rap Seiten.

Volle Kanone anstatt Minimalismus also. Die Gangart änderte sich 2014 – für den Betrachter schlagartig und überraschend: Die »Peace Dubs« folgten auf jedermanns War Dubs; ein verlangsamter, entschlackter Sound folgte auf bedrohliche Basswalzen. Aber Mr. Mitch selbst wendete sich nicht etwa abrupt einem neuen Sound zu, er produzierte zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren vornehmlich Stücke, die mehr nach Frieden denn nach Krieg klangen. Aber er zeigte sie der Öffentlichkeit nicht, sondern saß, wie er selbst sagt, auf seinen Songs, bis sich endlich der Zeitpunkt richtig angefühlt habe.

Vom Müsli über JD Sports zu RinseFM

Es ist nicht das erste Mal in der Karriere des heute 26jährigen, dass er eigenes Material lange zurückhält. Aber von von vorne: Alles beginnt als Mr. Mitch, noch ausschließlich als Miles Mitchell unterwegs, an einem Küchentisch sitzt. Einem Küchentisch in Catford, das zu Lewisham und damit zu einem der gefährlichsten Stadtteilen Londons gehört. Dort hievt er eines Tages das Programm »HipHop DJ« vom Boden einer Müslipackung. »Fruity Loops« heißt der logische Nachfolger. Damit beginnt er bereits im Alter von 12 Jahren erste Songs zu bauen. Die Einflüsse sind schon damals jene, die man auch heute noch seiner Musik anhört: Seine Eltern hören Soul, Mr. Mitch entdeckt schnell eine Vorliebe für R&B; allen voran die Produktionen von Timbaland faszinieren ihn. Außerdem beginnt Crime zu dieser Zeit die ersten großen Wellen zu schlagen und die So Solid Crew steigt schnell zu Miles Mitchells wichtigsten Inspirationsquellen auf. Electro-Pop-Acts wie Metronomy oder Hot Chip schärfen außerdem sein Gehör für eingängige Melodien.

Emo-Crime, Eski Goth? Mr. Mitch hat seine eigene Version von Grime geschaffen.

Der weite Kreis an Einflüssen schließt sich mit einem Einkauf bei JD Sports. Dort sitzt Miles damals und ist begeistert von dem, was da durch die Boxen dröhnt: »Wow, das hört sich an, als wären es zwei Songs in einem!«. Miles fragt daraufhin den Ladenbesitzer, was er da höre und bekommt von diesem eine Mix-CD von DJ Spoony in die Hand gedrückt – so findet Mr. Mitch zu UK Garage und bald darauf auch seine eigenen Produktionen gut. Doch ihm fehlt das Selbstbewusstsein, sie zu präsentieren. Eines Tages lädt ihn Flukes, mit dem Miles Mitchell damals oft Musik macht, ein, ihn zu Sticky ins Studio zu begleiten. Miles lehnt ab. Zwar ist Sticky für ihn damals ein großes Vorbild, aber die Idee gemeinsam mit diesem in einem noch größeren Studio zu sitzen, schüchtert ihn ein.

Flukes geht hin. Und erreicht wenig später mit seinem »Wifey Riddim« die Ohren der Menschen. Es braucht bis zum zweiten Jahr seines Studiums der Medienproduktion, dass sich Miles Mitchell fragt: Halt mal, warum produziere ich eigentlich keine Musik? Auf RinseFM hört er schließlich Elijah und Skilliam mit denen er sich auf einer Wellenlänge fühlt. Er traut sich, schickt den beiden seine Musik und landet bald selbst auf RinseFM. Der Durchbruch ist geschafft.

Mr. Mitch einsam auf der Polarkappe

Um die fünf Jahre nach seinem ersten Airplay erscheint auf Planet µ »Parallel Memories«, mit dem Mr. Mitch der Welt seine ganz eigene Version von Grime vorstellt. Aber ist das überhaupt noch Grime? Vielleicht kann man es Emo-Crime nennen, vielleicht Eski Goth, wie es auf T Shirts zu lesen ist, die Mr. Mitch vertreibt (mit den er aber eigentlich nur den Health Goth-Trend persiflieren will). Zu seiner eigenen Musik sieht sich Mr. Mitch auf einer abgebrochenen Polarkappe über das Meer schippern und es fühlt sich für ihn an, als sei das wirklich passiert. Daraufhin stellt er sich die Frage: »Was, wenn diese Bilder, die ich da sehe, Erinnerung eines alternativen Ichs in einer parallelen Dimension sind?«. Der Albumtitel ist geboren. Ein perfektes Bild für den Klang seiner Musik auch. Einsam und allein, nur umgeben von einem Meer, dem man die Kälte ansieht, und kantigen Eisschollen irgendwo alleine in der Arktis. Und in so einer Situation passt dann eben auch Kälte und Gefühl zusammen, denn: ist es nicht umwerfend schön und beißend traurig da draußen, einsam im Eismeer?