Das legendäre Plattenlabel Amiga prägte nicht nur den Sound der DDR, sondern beeinflusste danach noch viele Künstler und Bands aus der gesamten Bundesrepublik. Das Label entstand vor etwas mehr als 75 Jahren und bestand bis 1994. (Das Erbe verwaltet heute Sony.) Passende Gelegenheit also für große Töne im Jubiläumsjahr von Amiga: So relevant wie nie zuvor sei der Katalog von Amiga, so die Arbeitsthese. Der Beweis: Die Compilation »hallo 22 – DDR Funk und Soul 1971-81«, zusammengestellt von Max Herre und Dexter.
Soul? Aus der DDR? Und als wäre das nicht verwirrend genug, taucht auch der Name Manfred Krug in der Tracklist auf. Zeit für eine Nachfrage. Max Herre und Dexter hatten Zeit für ein Interview – nur nicht am selben Tag. Ein Doppelinterview (mit Zeitsprüngen) über die Zusammenarbeit, nostalgische Gefühle und eben Manfred Krug.
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Hallo 22 DDR Funk & Soul Von 1971-1981 Kompiliert von Max Herre & Dexter
Wie ist es zur Zusammenarbeit für diese Compilation von Max Herre und dir gekommen?
Dexter: Das stand schon länger im Raum, seit Beginn von Corona ungefähr. Max kam auf mich zu. Wir haben hier und da mal zusammengearbeitet, ich habe für sein letztes Album zwei Sachen produziert und ihm immer mal wieder Beats geschickt. Am Anfang von Corona habe ich einen neuen Instagram-Kanal aufgemacht, Crates of Dexy, auf dem es einfach nur um Schallplatten geht. Da habe ich angefangen deutsche Platten vorzustellen, die ich besitze. Mal mit kleinem Audio-Beispiel und Cover und, wenn ich was dazu wusste, mit kleiner Story. Und Max sah, dass ich das gemacht habe. Die Anfrage selbst kam bei ihm über Jörg Stempel rein.
Ähnliche Frage an Max Herre mit neuen Details zu eben jener Anfrage.
Max Herre: Jörg Stempel, der den Katalog von Amiga bis heute betreut, hat gefragt, ob wir anlässlich des Jubiläums etwas zusammen machen wollen. Für das »ATHEN«-Album 2019 interpretierte ich einen Song von Panta Rhei neu, auch zu meinem ersten Solo-Album von 2004 hatte ich bereits mit ihm zu tun. Wir waren also immer wieder im Austausch. Als er mich dann fragte, ob ich Lust auf eine Compilation zum Jubiläum hätte, habe ich gesagt: Wenn wir das machen, dann am liebsten mit Dexter, weil er eben bekanntermaßen ein Digger und Amiga-Lover ist. Er fand die Idee gut und so bin ich zu Dexter nach Stuttgart. In seinem Studio standen die »Hallo«-Compilations 1 bis 16 alle rum. Uns war schnell war klar, dass es wieder eine »Hallo«-Compilation sein müsse. Und wenn wir es in die Tradition stellten, wollten wir auch das Artwork adaptieren und mit dem Grafiker arbeiten, der mit dem Katalog seit vielen Jahren betreut ist.
Das ist nicht nur so daher gesagt. Wer sucht, der findet: Max Herre ließ bereits 2019 anlässlich der Veröffentlichung seines Albums »Athen« seine Bewunderung für Panta Rhei und Amiga generell in einem Interview mit Puls fallen. Vor zwanzig Jahren zog er nach Berlin und suchte dort auf Flohmärkten nach Amiga-Platten. Und Jörg Stempel? Der war von 1994 bis 2004 Amiga-Labelmanager bei BMG Ariola und ist heute quasi Nachlassverwalter des DDR-Labels, wie es in verschiedenen Artikeln heißt.
Dexter: Und da haben wir dann angefangen, die Sachen auszuwählen und das war schon ein langer Prozess, der durch mehrere Instanzen musste.
Zeitsprung.
Und wie sah die konkrete Arbeit an der Compilation aus?
Max Herre: Ich habe, wie gesagt, Dexter besucht und er hat seine Amiga-Plattensammlung vor mir ausgebreitet. Ich wusste bereits ungefähr, was für mich die Must-Haves sind. Dann hatten wir schnell so 60 bis 70 Songs zusammen, die für uns in der engsten Auswahl waren und die haben wir nochmal runtergedampft auf eine Doppel-LP, also 18 Songs.
Zeitsprung.
Ihr hattet eine große Vorauswahl. Wie lange hat es gedauert, bis die Compilation stand?
Dexter: Es hat erstmal gedauert, bis wir so eine erste Auswahl von 60, 70 Songs hatten. Es hat sich nach immer weniger angefühlt, aber es blieb doch viel übrig. Wir haben uns bei mir durch Platten durchgehört und es gab so ein paar Sachen, die wir nicht auf Platte haben. Da recherchierten wir dann via YouTube oder Discogs. Danach hat es so drei Monate gedauert, bis man eine engere Auswahl hatte, bei der man dachte: Okay, jetzt ist jeder oder jede einigermaßen repräsentiert. Wir haben allerdings nicht jeden Tag daran gesessen. Es ging uns um Soul und Funk, Rock, Psychedelic, das war der grobe Rahmen, sonst wären wir dem Katalog nicht gerecht geworden.
»Es ging auch ein bisschen um die Dramaturgie, was auf die A-Seite gehört, welche Reihenfolge die Tracks haben. Wir achteten darauf, dass Frauen- und Männerstimmen sich abwechseln.«
Dexter
Was hieß das für euch genau?
Dexter: Es ging auch ein bisschen um die Dramaturgie, was auf die A-Seite gehört, welche Reihenfolge die Tracks haben. Wir achteten darauf, dass Frauen- und Männerstimmen sich abwechseln. Es gab viele Kriterien, die es etwas kompliziert gemacht haben. Auch die Vinyl-Länge einer Seite sollte eine gewisse Zeit nicht überschreiten, damit es vernünftig klingt. Mit diesen Kriterien hat das einfach seine Zeit gedauert.
Zeitsprung.
Wie fiel denn das Feedback zur Compilation bisher aus? Was hat Jörg Stempel gesagt?
Max Herre: Er feiert es total. Wir haben ihm immer gezeigt, was unsere Auswahl war, und er fand das alles super. Und er fand unseren Blickwinkel auf den Katalog spannend. Er meinte, er habe über 30 Jahre Sampler gemacht, jetzt interessiere ihn unser Blick darauf, der Blick zweier Musiker und Musikliebhaber ohne Ost-Sozialisation. Wir beide haben das die letzten 20 Jahre so gediggt, wie wir US-Soul, Jazz oder westafrikanische Musik diggen, einfach weil es tolle Musik ist, die wir gerne auflegen, samplen oder neu interpretieren wollen.
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Der Katalog sollte also bewusst mal einen Blick von außen, außerhalb jedes Ost-Kontextes bekommen. Überhaupt habe die Ära nicht den Stellenwert im gesamtdeutschen Musik-Kanon, der ihr gebühren würde. Nachfrage: Aber was ist das überhaupt für eine Ära?
Was ist denn aus deiner Sicht der Unterschied zum amerikanischen Soul? Was ist das Alleinstellungsmerkmal, das den Sound auch abhebt von den amerikanischen Vorbildern?
Max Herre: Ich finde ihn in Teilen manchmal fast noch spielerischer, offener. Für ein Label, das die Popkultur im Osten maßgeblich geprägt hat, sind die Sachen viel weniger formatiert, ideenreicher und auch oft sperriger, eklektischer. In einem Song passieren oft ganz viele Dinge: Es fängt zum Beispiel mit einem Rare Groove oder Funk-Part an und geht dann in so einen Chanson-Moment rein. Ich höre da musikalisch eine große Freiheit.
Und textlich?
Max Herre: Die staatliche Vorgabe war, dass die Texte auf Deutsch sind. Natürlich fingen Bands wie Panta Rhei oder Fischer und Krug auch oft auf Englisch an, aber um eine Platte aufzunehmen musste man auf Deutsch singen. Die große Herausforderung war: Wie kann man etwas machen, das einem künstlerisch gerecht wird und wie kriegen wir es am Lektorat vorbei? Das waren Parameter, die es im Westen einfach nicht gab. Wie kryptisch muss die Sprache sein? Was benutze ich für Metaphern, wenn ich etwas erzählen will, das der Staatsräson widerspricht? Und auch der enge Austausch mit Lyrikerinnen und Lyrikern: Oft war es so, dass die Sänger:innen Interpret:innen waren und Poet:innen die Texte gemacht haben. Das hat den Texten nochmal eine ganz eigene Qualität und Bedeutung gegeben.
Auf der Compilation finden sich so verschiedene Namen wie Panta Rhei, Angelika Mann, Lift, Electra oder Manfred Krug. Zum Album gibt es auch zwei zusätzliche Songs auf einer 7-Inch, bei denen Dexter und Max Herre nicht nur als Kuratoren, sondern als Musiker dabei sind. Dabei arbeiten sie mit einer Aufnahme von Manfred Krug. Mutmaßlich nicht der erste Name, der bei Soul und Funk in den Sinn kommt.
Zeitsprung.
Wann bist Du das erste Mal so richtig auf Amiga aufmerksam geworden?
Dexter: Der erste Vertreter, den ich kannte, war Manfred Krug. Er war zu meiner Kindheit im Westen bekannt durch Serien und als Tatort-Kommissar. Meine Eltern waren auch irgendwie Fan von ihm. Aber ich habe nicht so richtig wahrgenommen, dass er ein Star zu dieser Zeit war. Und dann gab es diesen Moment, wo ich immer aus der Hip Hop-Perspektive viel gesampelt habe, in Plattenläden unterwegs war. Da gab es seinerzeit ein Mixtape von DJ Hype und Katmando mit zwei Teilen, das hieß »Funkvergnügen«. Das war einfach ein Mixtape mit deutschen Tracks, vielen deepen Sachen und auch so ein wenig Klamauk wie G.L.S.-United, so Sachen, die vielleicht nicht so cool waren. Dazwischen waren aber krasse Tracks, die musikalisch rausgefallen sind.
»Die große Herausforderung [der Musiker in der DDR] war: Wie kann man etwas machen, das einem künstlerisch gerecht wird und wie kriegen wir es am Lektorat vorbei? Wie kryptisch muss die Sprache sein? Was benutze ich für Metaphern, wenn ich etwas erzählen will, das der Staatsräson widerspricht?«
Max Herre
Zum Bespiel?
Dexter: »Schönhäuser« von Veronika Fischer etwa. Und was war da noch? »He, Wir Fahr’n Mit Dem Zug« und viele Amiga-Klassiker. Ich dachte schon: Was ist das? Woher kommt das? Ich bin ja nicht jemand, der sampelt und einfach nimmt. Für mich tun sich da Welten auf, wenn ich in die Materie eintauche. Und dann habe ich mal darauf geachtet, wer spielt auf welcher Platte mit.
Im Plattenladen siehst du eine Platte von Manfred Krug, komponiert von Günther Fischer. Dann schaust du nach anderen Platten, die Günther Fischer produziert hat, merkst, dass das ein ganzes Label ist. Ein Freund klärte mich auf, dass Amiga das Label in der DDR war. Andere Freunde von mir sind damit auch sozialisiert worden, Leute wie Morlockk Dilemma und V.Raeter. Da hat sich ein Bild ergeben. Man taucht weiter über Querverweise und Mundpropaganda ein. Und genauso hat sich das bis zum heutigen Tag entwickelt. Und dann fällt einem wieder ein: Ach ja, Manfred Krug, ja klar, kenne ich von meinen Eltern.
Ohne Manfred Krug zu nahe zu treten: Es ist nicht gerade die coolste Empfehlung für Musik, wenn die eigenen Eltern sie gehört haben.
Dexter: Absolut nicht. Bei mir ist das aber so, dass mein Elternhaus sehr musikalisch ist. Mein Vater hat eine große Plattensammlung, auch ein Studio gehabt und in Bands gespielt. Ich habe natürlich ganz andere Musik gehört als Teenie. Später, als ich selbst anfing Musik zu machen, erinnerte ich mich zurück und merkte: Ich bin teilweise irgendwie auch damit ein stückweit sozialisiert worden und aufgewachsen. Das kommt zurück, prägt, auch wenn man erst mal rebelliert. Aber vor allem hat mich die Hip Hop-Kultur an sich und das Sampeln letztendlich wieder zu dieser Musik gebracht. Das war einfach noch mehr ein Eintrittstor als meine Eltern. Hip-hop made me do it. Sozusagen.