Matthew Halsall scheint es ganz gelegen zu kommen, dass er sich zu Beginn des Interviews nach vorne beugen muss, weil das Aufnahmegerät nicht recht funktioniert. Der 32jährige Engländer ist freundlich und zuvorkommend, aber Augenkontakt sucht er nicht. Auch in seiner Funktion als Trompeter und Band-Leader zeichnet ihn eine beinahe scheue Zurückhaltung aus.
War er zu Beginn seiner Karriere im Jahr 2008 noch prominent auf jedem Album-Cover zu sehen, verschwand er auf »Fletcher Moss Park« beinahe im Mittelgrund. Auf seinen letzten beiden Alben, eingespielt als Matthew Halsall & The Gondwana Orchestra, dominieren statt Bandfotos abstrakte Farbmuster. »Es ging darum, das Kollektiv zu betonen«, sagt Halsall.
»›Into Forever‹ repräsentiert viel mehr als nur mich als Trompeter. Ich habe nicht das Gefühl, nicht auf der Platte vertreten zu sein, auch wenn ich nur auf zwei Songs zu hören bin. Ich habe schließlich alle Songs und alle Arrangements geschrieben. Ich muss nicht überall eine Trompete haben, nur um vertreten zu sein. Die Musik muss atmen können. Space is important.«
Das neue Album »Into Forever« und stärker noch dessen Vorgänger »When the World Was One« spiegeln Halsalls Vision von Spiritual Jazz wider, wie er in den 60er Jahren von Pharoah Sanders oder Alice und John Coltrane gespielt wurde. Es sind meditativ dahinschwebende, hypnotische Songs, aufgenommen mit einem Oktett aus befreundeten Musikern. Neben der indischen Bambusflöte Bansuri kommen auch eine Harfe und die Koto, eine japanische Zither, zum Einsatz. Musik wie ein Bad in Lotusblüten. »Into Forever« hat, bei aller Melodieseligkeit, mehr Ecken und Kanten, ist von Gospel, Hard-Bop und Soul geprägt. Erstmals arbeitete Halsall mit der Sängerin Josephine Oniyama zusammen, die das Album mit ihrer grandiosen Soul-Stimme erdet.
»Ich möchte etwas für hunderte von Jahren hinterlassen. Wenn dieser Planet dann noch existiert.«
Matthew Halsall
»Ich höre alle Arten von Musik, bin leidenschaftlicher DJ und Plattensammler«, sagt Halsall, während er in einer Hamburger Hotelbar sitzt. »Ich wollte nun auf andere Art und Weise zeigen, was ich für Musik mache. Nach fünf Alben mit instrumentalem Jazz wollte ich einen Schnitt machen und mit Sängern und klassischen Musikern arbeiten und mich selbst herausfordern.«
Matthew Halsall wuchs in Manchester auf und begann mit sechs Jahren Trompete zu spielen, nachdem ihn seine Eltern regelmäßig zu Big-Band-Konzerten mitgenommen hatten. Schon für den Release seines Debütalbums gründete er 2008 zusammen mit seinem Bruder Daniel, der sich um Design und Artwork kümmert, sein eigenes Label Gondwana Records. Außer seiner eigenen sind nur drei weitere Bands darauf vertreten.
»Wir nehmen nur Künstler unter Vertrag, die uns wirklich begeistern. Ich habe neulich erst 20 oder 30 Demos bekommen. Da waren gute Sachen dabei, aber wir lizenzieren Musik für 25 Jahre. Wenn etwas 25 Jahre vorhalten soll, muss ich wirklich sehr genau hinschauen.« Bestes Pferd im Stall ist mittlerweile GoGo Penguin, ein in kraftvoller EST-Tradition operierendes Klavier-Trio, deren kommerzieller Erfolg künftige Releases von Gondwana mitfinanziert.
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Halsall spricht mit viel Enthusiasmus von anderen Künstlern und Vorbildern. Vom Cinematic Orchestra deren »Ode To The Big Sea« er mit seinem eigenen Orchester gerne covert, hat er Drummer Luke Flowers rekrutiert. Anfang des Jahres veröffentlichte er werktreue Versionen von Alice Coltranes »Journey In Satchidananda« und »Blue Nile« auf einer auf schnell vergriffenen 12-Inch. »Das waren zwei der wichtigsten Songs, die ich je gehört habe, die mir eine Richtung vorgegeben haben und mir eine Ahnung davon gegeben haben, wer ich spirituell und musikalisch bin. Und das ist nun mein Dankeschön.«
Während seines Aufenthalts in Hamburg hat Halsall zwei Auftritte beim Überjazz Festival in der ehemaligen Maschinenfabrik Kampnagel; zunächst im Quintett und am nächsten Abend zu siebt, nicht eingerechnet ein vierköpfiges Streicherensemble. Das Publikum nimmt das Konzert begeistert auf, und die Enttäuschung ist groß, als die Zugabe aus Zeitgründen entfallen muss. Doch Halsalls Fokus ist klar: »Ein Konzert ist eine schöne Erinnerung für ein paar Leute, aber ich bin immer darauf fokussiert, großartige Platten zu machen. Ich möchte etwas für hunderte von Jahren hinterlassen. Wenn dieser Planet dann noch existiert.«
Der Name seines Plattenlabels, Gondwana, bezieht sich übrigens auf einen urzeitlichen Superkontinent, der damals unter anderem Südamerika, Afrika und Indien umfasste. Aber die Mutter des Trompeters besaß auch jahrzehntelang ein Möbelgeschäft mit diesem Namen. So führen die Halsall-Brüder die Gondwana-Familientradition fort. Nur eben nicht mit Chaiselongues, sondern mit Jazz.