L.I.E.S. – es dürfte kaum einen Fan elektronischer Tanzmusik geben, dem diese Versalien nichts sagen. Sie stehen für »Long Island Electrical Systems« und verraten im Namen bereits den Herkunftsort des Labels: Sein Macher, Ron Morelli, stammt aus New York. Dort kam er in den frühen Neunzigern mit Punk und Hardcore in Berührung. Obwohl neben Skatern und »Freaks«, wie er sie liebevoll nennt, auch Raver unter seinen Freund:innen waren, habe ihn die Dance-Music-Szene damals nicht so recht angezogen: »Das wirkte alles sehr drogengetrieben und dekadent. Ich bin beides nicht«.
Erwischt hat es Morelli erst am Ende der Dekade, und zwar richtig: »Ich wurde besessen«, sagt er über eine prägende Periode. »Die New Yorker Szene befand sich 2000 in einer Übergangszeit. Es gab kaum noch wirkliche Clubs, und die Polizei ging gegen das Nachtleben vor.« Eine harte, aber auf die eine oder andere Weise sicherlich verlockende Phase für jemanden mit Morellis deinstitutionalisierter musikalischer Vorprägung.
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Den allermeisten der inzwischen – Sublabels mit eingerechnet – knapp 300 L.I.E.S.-Veröffentlichungen hört man diese an. Auch wenn sie stilistisch alles andere als homogen sind, eint sie eine gewisse Haptik, ein Hang zum Imperfekten. Egal ob Malvoeaux’ »Targets EP«, die erste Platte des Labels von 2010, Tzusings Debütalbum von 2017 oder Ron Morellis LP »Heartstopper« aus dem vergangenen Jahr – der Sound klingt analog, roh, gedrungen. Wie ein schnaufender, rostiger Blecheimer, der den TÜV nur mit Mühe und Not schafft, seine Insassen aber doch jedes Mal wieder zuverlässig ans Ziel bringt.
Auf die Spitze treibt diese Ästhetik Cardinal & Nuns Album »Dancing in the Evil« von 2021, dessen maximal gegen den Strich gebürstete EBM tief aus der Düsterkeit dräut und den Kids auf UNREAL-Raves ihre Harnesse auf links dreht. Punk, Industrial, Gothic und wesensverwandte Genres markieren aber nur die eine Seite der Medaille. L.I.E.S. begriff sich, Malvoeaux wurde bereits erwähnt, stets auch als Label für sonnenzugewandte Dance Music, die die Schwere der Existenz lindert.
Körperliche Anwesenheitsmusik
Legowelt, Voiski, Inventar-Act Delroy Edwards oder der gebürtige Wiesbadener Florian Kupfer gastierten bereits auf dem Label und lieferten Morelli das richtige Maß an Schwerelosigkeit, das insbesondere gegen Anfang und Mitte der Zehnerjahre Hochkonjunktur hatte. Der Labelmacher arbeitet zu dieser Zeit im Plattenladen A-1, seiner »Basis«, von der aus er L.I.E.S. bekannt macht: »Ich habe das Label gestartet und wollte einfach sehen, was passiert, hatte keine großen Pläne, außer die Musik zu veröffentlichen.« Der Zugang zu DJs, die den Laden regelmäßig frequentierten, sei extrem wichtig gewesen.
Und sicherlich auch die Tatsache, dass das Label in seinen ersten Jahren musikalisch ganz besonders nah am Puls der Zeit operierte: L.I.E.S.-Platten verkörpern damals den Status quo, indem sie sich klangästhetisch an der Vergangenheit bedienen. Lo-Fi-House nennen das die einen, Meme-House die anderen. Trotz seines Epigonentums, seines Rauschens, seiner nachträglich aufgestrichenen Patina wirkt das frisch, subtil, unverkrampft. Und zumindest eine Weile als undergroundiger Gegenentwurf zum spiegelglatten Minimal, dessen Wachablösung sich damals vollzieht.
L.I.E.S. begriff sich stets als Label für der Sonne zugewandte Dance Music, die die Schwere der Existenz lindert.
Und heute? Die Zeiten haben sich geändert seit den Anfangstagen von L.I.E.S., Labels haben es immer schwerer. Merch – das Angebot im Shop ist durchaus diversifiziert – sei trotzdem »nicht wirklich wichtig«, schaffe aber einen weiteren Einkommensstrom in Zeiten geringerer Musikverkäufe. »Die Instagramifizierung ist einfach nur eine Plage«, meint Morelli. Ein Allgemeinplatz, der, von ihm geäußert, so aufrichtig wirkt wie selten. »Das Streamen von DJ-Sets ist lame. Ein DJ sollte gehört werden, nicht gesehen. Es sollte um die Musik gehen, die du spielst, und die Skills, die du hast.« Und obwohl dieser Satz tausendfach in den einschlägigen Facebook-Kommentarspalten stehen könnte, macht auch er aus Morellis Mund Sinn. Die kaum zu leugnende Oberflächlichkeit, die elektronischer Musik heute mehr denn je anhaftet, steht seinen Werten diametral gegenüber.