Als ich die Brüder in ihrer Berliner Wohnung inklusive kleinem Büro treffe, ist meine erste Frage: Warum gründet man 2020 noch ein Label? Gerade auf dem Feld des Beatmakings, in dem sich das erste Release von Kommerz Records bewegt, ist es mittlerweile üblich, dass die Artists ihre Produktionen zweimal pro Woche direkt in den großen Playlists platzieren und mehrere Millionen Plays abgreifen. Um als Label Relevanz zu haben, muss man sich anstrengen.
Die Gründer von Kommerz Records arbeiten konzeptionell. Mit jedem Release soll eine Geschichte erzählt werden, nicht nur musikalisch, sondern auch im Produkt. Für die erste Compilation, die am 21.8.2020 erscheint, steuern sieben House- und Techno-Produzenten sechs Tracks bei, die im Beatmaking-Bereich zu verorten sind. Das passt gut in eine Zeit, in der Clubs geschlossen bleiben und das Party-Publikum den Freitagabend auch mal zuhause verbringt. In limitierter Auflage gibt es dazu den handgefertigten Kommerz Records-Mundschutz.
Ohne den Lockdown im Zuge der globalen Pandemie wäre es vielleicht nie zu Kommerz Records gekommen. So erzählt Lukas, dank seiner Arbeit als Tourmanager sei er letztes Jahr an nur sieben der 52 Wochenenden überhaupt in Berlin gewesen. In den letzten Monaten wurden die verschiedenen losen Ideen, die seit mehr oder weniger 15 Jahren bestehen, zu einem wirklichen Konzept zusammengefügt. Der größte Feind der beiden Gründer war bislang der Zeitdruck und die Hektik des Alltags: »Wenn wir viel zu tun haben, ist es schwierig, sich auf so einen Aufbau zu konzentrieren, der ja erstmal kein Geld generiert.«
»Wir wollen zeigen, dass gutes Beatmaking auch abseits dieser Listen funktioniert, durch gute Musik und gute Konzepte einen Gegenentwurf zu dieser Stangenware bieten.«
Kommerz Records ist nicht nur eine Firma, die Musik veröffentlicht, sondern soll zur eigenständigen Marke aufgebaut werden. In ihrer bisherigen Tätigkeit im Artist-Management in den letzten drei Jahren konnten Jonathan und Lukas Erfahrungen sammeln, die andere bei der Labelgründung noch nicht haben. »Wir waren Erfüllungsgehilfen für die Visionen Anderer. Jetzt mussten wir uns erstmal unsere eigenen Visionen erschaffen.« Mit der Labelgründung ist der erste Kindheitstraum erfüllt.
Der Vorsatz: »Wir wollen zeigen, dass gutes Beatmaking auch abseits dieser Listen funktioniert, durch gute Musik und gute Konzepte einen Gegenentwurf zu dieser Stangenware bieten.« Doch auch andere Genres lassen sich auf dem Label erwarten. Sie erzählen vom Jazz-Musiker Noa Erni, mit dem sie zusammenarbeiten, der hauptberuflich eine Weinhandlung betreibt. Und von illegalen Raves und ihrer Partyreihe »PAPER«, bei der regelmäßig Szenegrößen aus House und Techno auflegen, wenn die Clubs dann eben geöffnet sind.
Kommerz Records soll eine Spielwiese für neue Sounds und Konzepte sein, die sich zwischen verschiedenen Genres treiben lässt. Sie schwärmen vom Humor des Hip-Hop, von der Verkopftheit des Jazz und der lockeren, angenehmen Atmosphäre von Techno-Parties. Künstler*innen werden auf diesem Label auch im kreativen Prozess begleitet, nicht nur in der Vermarktung. Die enge Zusammenarbeit steht im Vordergrund, das Label als Familie. Dass hinter der Leitung eines Labels viel Verantwortung steckt, erkennen sie an. »Es muss ein zentraler Bestandteil von Kommerz Records sein, auf Diversität zu achten«, so Jonathan. Dazu gehöre auch, besonders Frauen in der Producer-Szene zu fördern, die Unterrepräsentation sei schockierend.
Die Schallplatten von Kommerz findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/kommerz-vinyl-cd-tape/i:D2L70296N4S6U9)