Jóhann Jóhannsson – 10 Essentials

14.02.2018
Um Jóhann Jóhannsson zu trauern heißt also einerseits, sich an ihn zu erinnern. Sich an Jóhannsson zu erinnern heißt aber auch, das Versprechen anzunehmen, das er mit seiner Musik abgelegt hat.

Jóhann Jóhannsson hatte viele Themen, sein prägendstes aber war die Trauer. Seine Alben, sogar die Auftragsarbeiten fürs Theater und mal kleinere, mal größere Filmproduktionen, waren Monumente der Trauerarbeit. Große Verluste ließ er in noch größerer Hoffnung aufgehen. Nun trauert die Musikwelt um ihn. Der isländische Komponist wurde am 9.2.2018 tot in seiner Berliner Wohnung aufgefunden.

Trauer ist nichts ohne die Erinnerung. Mit Alben wie »IBM 1401, A User’s Manual«, »Fordlandia« oder dem Soundtrack zum Dokumentationsfilm »The Miners’ Hymns« erinnerte Jóhannsson an die mal naiven, mal enttäuschten und immer noch nachwirkenden Visionen besserer Welten. Beispielsweise die Utopie einer Welt, die sich durch Technologie aus dem Schlamassel befreien kann. Oder die Utopie einer Welt, die sich ohne Rücksicht auf Verluste mobilisieren wollte, um Grenzen Geschichte werden zu lassen. Die Vision einer klassenlosen Gesellschaft, die sich gegen die Alternativlosigkeit des Kapitalismus aufbäumte. Jóhannsson hat das alles aber nie verklärt, sondern intensiv beleuchtet. Mit den mächtigsten Bässen, die im 21. Jahrhundert zu hören waren. Mit den höchsten Streicherkämmen und flammenden E-Gitarren. Mit brutzelnder Elektronik oder mit schlichter, ohrenbetäubender Stille.

Trauer ist nichts ohne die Zukunft, dem zaghaften Abklingen der utopischen Ideen ebenso wie ihrer Wiederkehr. Aus den stillsten und melancholischsten Stücken wie den epochalsten Orchesterarrangements sprach bei Jóhann Jóhannsson immer auch der Glaube daran, dass es in auf Erden noch etwas Besseres geben kann und wird. Dass es bevorsteht, solang wir darauf auch warten müssen.

Um Jóhannsson zu trauern heißt also einerseits, sich an ihn zu erinnern. Als Arbeitstier, wie es seine langjährige musikalische Begleiterin Hildur Guðnadóttir tat Als jemanden, der die Oscar-Verleihung sausen ließ, um vor ein paar hundert Leuten in Australien zu spielen Als jemanden, der die Arbeit eines ganzen Jahres einstampfte und seinen Auftraggeber davon überzeugte, dass dessen Film besser ohne Musik funktionieren würde Als jemanden, der unbeschwert zwischen klassischer Musik, Avantgarde, Electronica, Rock und Pop vermitteln konnte, weil er ein Herz für alles davon hatte. Als jemanden, der dieser Welt Musik gab, wie sie noch nie zuvor zu hören war. Als Vorbild. Als Freund. Als Vater.

Sich an Jóhannsson zu erinnern heißt aber auch, das Versprechen anzunehmen, das er mit seiner Musik abgelegt hat. Es ist das Versprechen einer Zukunft. Vielleicht sogar einer besseren.


Die 10 Essentials von Jóhann Jóhannsson findest du hier bei uns im Webshop.


Jóhann Jóhannsson
Englabörn & Variations
Deutsche Grammophon • 2018 • ab 35.99€
Es sagt viel über einen Debütanten aus, wenn selbst nach über anderthalb Jahrzehnten sein erstes Album überhaupt den Schlüssel zu seinem ganzen Schaffen darstellt. Nachdem sich Jóhannsson als Mitglied von Indie-Bands und Kollektiven wie Daisy Hill Puppy Farm, Ham, Lhooq, dem Apparat Organ Quartet und Kitchen Motors in der Rock- und Pop-Szene seines Heimatlandes verdingt hatte, veröffentlichte er 2002 auf dem britischen Label Touch mit »Englabörn« ein Album, das überhaupt nicht so klingt wie der Zweck, zu dem es geschaffen wurde: Theater. Vielmehr lotet Jóhannsson an der mittlerweile komplett abgeklapperten und damals noch brach liegenden Schnittstelle zwischen klassischem Instrumentarium und dezenter Electronica Menschliches und Allzumenschliches im Prog-Rock-mäßigen Konzepalbumformat aus. Aber still und leise und manchmal sehr befremdend wie das eröffnende, Vocoder-gestiftete Klagelied, das später als unheimlicher Wiedergänger erneut die Bühne betritt und auf der für 2018 geplanten Neuveröffentlichungen in gleich vier alternativen Versionen bereit gestellt wird.

»Virðulegu Forsetar«, (Touch, 2004).
Hatte »Englabörn« schon bewiesen, dass Jóhannsson aus dem Kleinen das Große herauskehren konnte, ohne in den Hans-Zimmer-Overdrive-Modus zu gehen, tat »Virðulegu Forsetar« das 2004 umso mehr. Das einstündige, in vier Sätze aufgeteilte Stück erinnert einerseits an die im selben Jahr erscheinenden »Disintegration Loops« von William Basinski wie ebenso an die pastorale Romantik eines Richard Skelton und tauscht die Miniaturformen des Vorgängers gegen einen im wahrsten Sinne kathedralischen Sound ein: Uraufgeführt wurde »Virðulegu Forsetar« 2003 in einem isländischen Gotteshaus. Bei Sonnenuntergang, versteht sich, während zur gleichen Zeit blaue, mit Helium gefüllte Luftballons langsam auf den Boden des Kirchenschiffs hinabsanken. Die perfekte, kitschy-but-conceptual-Begleitung für ein Stück, dessen ausschweifende Bewegungen sich immer mehr verlangsamen und schließlich in andächtiger Stille versumpfen. Der langsamste Mahlström aller Gefühle.

Jóhann Jóhannsson
IBM 1401, A User's Manual Clear Vinyl Edition
4AD • 2017 • ab 34.99€
Der Thomas Pynchon-Roman »Die Versteigerung von No. 49«, Nietzsches Theorie der Ewigen Wiederkehr, Möbiusbänder, Kybernetik, Kleinvögel, Hitze, Raum und Energie zählte Jóhannsson als impulsgebenden Input für »Virðulegu Forsetar« auf, sein 2017 erstmals auf Vinyl aufgelegtes Album »IBM 1401, A User’s Manual« allerdings fand eine viel mechanischere Inspirationsquelle. Ausgehend von Aufnahmen der Sounds der titelgebenden Rechenmaschine, die Jóhannssons Vaters angefertigt hatte, schrieb der Sohn dreißig Jahre später ein fünfteiliges Quartettstück für eine Tanzperformance um die algorithmischen Experimente mit Islands erstem Computer, das er später mit einem sechzigköpfigen Orchester ins Albumformat übertragen sollte. Das bemerkenswerte Finale, der auf einem Dorothy-Parker-Gedicht basierende und von Jóhannsson selbst per Vocoder eingesungene Song »The Sun’s Gone Dim and the Sky’s Turned Black«, formulierte ein schauriges Begehren aus, wie es zuvor in der Geschichte der Mensch-Maschinen-Dialektik nie zu hören war.

Jóhann Jóhannsson
Fordlandia
Cobraside • 2013 • ab 25.99€
2008 knüpfte Jóhannsson dort an, wo er zwei Jahre zuvor aufgehört hatte und bereiste mit »Fordlandia« eine noch ältere Techno-Utopie als das IBM-Zeitalter. Benannt ist das Album nach der von Henry Ford gegründeten Stadt im Amazonasbecken, in der zwischen 1920 bis 1945 die Motorisierung der Welt durch die kostengünstige Herstellung von Autoreifen beschleunigt werden sollte. Scheiß auf den Regenwald, es geht hin zum Asphalt. Während »IBM 1401, A User’s Manual« die damals absehbare und heute offensichtliche Vergänglichkeit der ersten Computer abbildet, ist »Fordlandia« als ambivalente Elegie auf den menschlichen Fortschrittsdrang und modernistische Megalomanie konzipiert. Getragen von den ebenso simplen wie eindrucksvollen Leitmotiven, die später seine Arbeit an Soundtracks wie für den Stephen Hawkin-Biopic »The Theory of Everything« dominieren sollten, brachte Jóhannsson seine markante Orchestralik mit glitzernden Post-Rock-Gitarren, subtiler Elektronik und sogar ratternden Breakbeats zum Schwingen. Sein vielleicht ambitioniertestes, mit ziemlicher Sicherheit aber bestes Album.

Jóhann Jóhannsson
And In The Endless Pause There Came The Sound Of Bees
Type • 2009 • ab 29.99€
Nur ein Jahr später erschien mit »And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees« eine Soundtrack-Arbeit Jóhannssons, die wie »Englabörn« zuvor losgelöst von ihrem eigentlichen Kontext als dichtmaschige Erzählung funktioniert. Die subtil von Field Recordings unterlegten Stücke allerdings können gut und gerne als pessimistisches Pendant zu »Fordlandia« verstanden werden: Der zugrunde liegende Animationsfilm »Varmints« ist eine Öko-Dystopie, welche aus tierischer Perspektive die verheerenden Folgen der Industrialisierung in starken Grautönen nachzeichnet. Begleitet wird das von verschneiten Streicher-, Piano- und Choralpassagen, die ihre Motive durch ein musikalisches Spiegelkabinet jagen und dennoch auf einer lichten Note enden. Wer sich allerdings von »Als die Tiere den Wald verließen« schon unangenehm radikalisiert fühlte, wird es nach »And in the Endless Pause There Came the Sound of Bees« umso mehr sein.

Jóhann Jóhannsson
The Miners' Hymns
130701 • 2011 • ab 27.99€
Derweil das Gros von Jóhannssons Soundtrack-Arbeiten seinem Zweck gemäß skizzenhaft kurzweilig war, konnte er mit »The Miners’ Hymns« die vielleicht perfekte Synthese aus seinen ausschweifenden Albumprojekten und seiner im Jahr 2011 bereits fortgeschrittenen Arbeit im Filmgeschäft auf Platte bannen. Gemeinsam mit dem US-amerikanischen Filmemacher Bill Morrison schuf er mit »The Miners’ Hymns« eine wortlose und doch vielsagende Dokumentation über den Kohleabbau im Nordosten Englands, die der Alternativlosigkeit der Thatcher-Ära das (Schreck-)Gespenst eines vereinten Proletariats entgegen setzte. Zu den ausschließlich in schwarz-weiß gehaltenen Bildern gesellt sich eine klangliche Farbpalette, die von dumpfen Orgeltönen hin zu grellem Noise und himmelschreiendem Fortissimo-Pathos alle nur erdenklichen Bewegungen und Regungen durchläuft. »The Cause of Labour Is the Hope of the World« lautet der Titel des letzten Stücks, und was anderes könnte der Grund der Arbeit sein als eine dumme, allzumenschliche, essentiell wichtige Liebe? Die Liebe zur Gesellschaft, die Liebe zu diesem vermeintlich aufgegebenen Projekt namens Revolution war lauter nie zu hören.

Jóhann Jóhannsson
OST Prisoners
Cobraside • 2013 • ab 29.99€
Zur Review
Jóhannssons eigene Revolution kam schleichend und erst in Gesellschaft von Denis Villeneuve. Bevor der Isländer dem Kanadier Filmen wie »Sicario« und »Arrival« eine Klangsprache anbei stellte, die gängige Blockbuster-Kunstgriffe gleichermaßen mitnahm wie überkam, kollaborierten die beiden zuerst für das zerfahrene Entführungsdrama [»Prisoners«](https://www.hhv-mag.com/de/review/6024/johann-johannsson-prisoners-o-s-t.) Von hektischen Rhythmen hin zu ahnungsvollen Streicher-Dubitationes ist hier alles dabei, was aus der herkömmlichen Thriller-Trickkiste bekannt ist, doch Jóhannsson dreht die Effekte auf elf: Kein Bass drückte den Kinositzen jemals so mächtig die Sitzfläche durch, keine süßliche Passage trug mehr Abgründe in sich wie die unter völliger kreativer Freiheit entstandenen Stücke auf diesem Album-Soundtrack-Hybrid. »Prisoners« ist zwar laut, wenn Lautstärke gefordert wird und leise, wenn es sein muss – aber es diktiert seinem Publikum nicht, was es zu fühlen hat. Stattdessen zittert es mit ihm, gewaltig und stumm.

Jóhann Jóhannsson
OST Sicario
Varese Sarabande • 2015 • ab 42.99€
Zwei Jahre danach ging es Villeneuve und Jóhannsson endgültig nicht mehr um die Psyche, sondern nur vor allem um die nackte, blutige Physis. »Sicario« nahm als Film viele Klischees über mexikanische Drogenkartelle, skrupellose Antihelden und eine vom Geschehen abgefuckte Protagonistin mit, kam immerhin aber ohne Mariachi-Gedengel aus. Stattdessen: grollende Bläser, Industrial-informierte Beats, dräuende Drones. Als Album ist Jóhannssons Arbeit kaum noch zu genießen, weil sie sich wie ein Heckenschütze im Hintergrund des Geschehens ihren Platz sucht, zielt und im rechten Moment abdrückt. Wo Villeneuve inhaltlich wie bildlich buchstäblich in den Egoshooter-Modus übergeht, verkriechen sich die dumpfen Rhythmen und brodelnden Texturen – kein Zufall, dass die Platte auf einem nach Edgar Varèse benannten Label erschien – tief im Unbewussten und tragen das Geschehen damit auf eine Weise, die selbst Benicio del Toros schweigsame Lone Wolf-Darstellung Bände sprechen lässt. Selten wurde ein Film dermaßen von seiner Musik getragen, seltener noch verblieb diese dabei so dezidiert bescheiden. Die Kombination erst macht aus dem Pistolero-Schinken ein Meisterwerk. Mit »Arrival« sollte sich diese Symbiose nur wenig später fortführen.

Jóhann Jóhannsson with Hildur Gudnadottir & Robert Aiki Aubrey Lowe
End Of Summer Black Vinyl Edition
Sonic Pieces • 2015 • ab 23.99€
Nicht nur mit anderen Medien, sondern vor allem auch mit anderen Menschen konnte Jóhannsson kommunizieren und harmonieren ohne den Mund aufzumachen. »Ich war sein Satz Extraohren, und er meins. Meine Stimme war seine, und er war meine. Mein Spiel war sein Spiel. Wenn wir Musik gemacht haben, haben wir nie miteinander gesprochen« schrieb Hildur Guðnadóttir über die fast fünfzehnjährige Zusammenarbeit mit Jóhannsson. Zu hören ist die Cellistin auf den meisten der jüngeren Jóhannsson-Veröffentlichungen in einer oder der anderen Form und doch steht ihr Name nur auf einer Platte neben seinem auf dem Cover: Den Soundtrack zur Kurzdokumentation »End of Summer« spielte das isländische Duo gemeinsam mit Robert A. A. Lowe alias Lichens ein, sie alle lassen auf ihre Art und Weise die jeweiligen Kauzigkeiten heraus: Absonderliche Glossolalie kommt von Lowe, selbstverloopte Streicher von Guðnadóttir und Jóhannsson steuert staubtrockene Stimmmutationen sowie – auf der Vinylversion – eine halbstündige Feldaufnahme von Islands Küste bei. Dazu Super 8-Aufnahmen von Pinguinen im Spätsommer, was gäbe es auch Besseres.

Jóhann Jóhannsson
Orphée
Deutsche Grammophon • 2016 • ab 25.99€
Jeder Abschied ist ungenügend und umso mehr gilt das für Jóhannssons letztes, nunmehr allerletztes Album, welches sich ausgerechnet das Thema Abschied als Motiv wählte. »Orphée« bezieht sich einerseits auf die mythische Liebesgeschichte vom Argonauten Orpheus und der Nymphe Eurydike, welcher er in den Hades folgt, um sie ins Reich der Lebenden zurückzuholen. Die Geschichte ist bekannt, das menschliche Versagen dokumentiert: Orpheus dreht sich auf dem Rückweg einmal um, die Gattin ist auf ewig verloren. Die auserzählte Story von der Unmöglichkeit der Wiederkehr wird auf »Orphée« von einer Auseinandersetzung mit demjenigen Medium kontrastiert und komplementiert, das einst versprach, die Menschen zusammenzubringen und sie letzten Endes doch weiter voneinander entfernte: das Radio. Genauer gesagt die sogenannten Numbers Stations, die im Kalten Krieg unentzifferbare Nachrichten in den Äther spuckten und deren diskretes Knistern das Klangbild von »Orphée« mit unheimlichen Untertönen anraut. Unverständlich, unbegreiflich wie ein verlorener Code bleibt auch Jóhannssons Musik und sein Abschied ungenügend. Zurück bleibt nur die monumentale Trauerarbeit seiner Musik, die Erinnerung an ihn und das Versprechen einer Zukunft, die nicht aufhören wird, anzukommen.


Die 10 Essentials von Jóhann Jóhannsson findest du hier bei uns im Webshop.