Dan Nicholls blickt zurück: »Mein Vater ist Jazzmusiker, meine Mutter Folkmusikerin. Also war es klar und normal, dass ich schon als kleines Kind anfing ein Instrument zu lernen. Ich lernte das Klavier mit der Suzuki-Methode.« Diese vom japanischen Musikpädagogen Shinichi Suzuki entwickelte Lerntechnik basiert auf einem Liederrepertoire, das sich nach und nach erweitert und dabei neue Techniken lehrt – Duolingo fürs Klavier.
Dan ist talentiert, Dan lernt (zuerst sogar Klarinette, dann erst Piano), Dan spielt, Dan geht ans Konservatorium in Birmingham, Dan macht seinen Master in Kopenhagen. Irgendwo und irgendwann dazwischen schleicht sich ein Zweifel ein: »Weißt du, einige Instrumente bringen ordentlich Ballast und Geschichte mit sich. Das Klavier vielleicht mehr sogar als die meisten anderen Instrumente.«
Anfang der Zehner Jahre spielt they nur noch missmutig auf dem Klavier, selbst wenn they bis heute eine positive Beziehung zu seinem Durchbruch »Ruins« pflegt, das they damals mit Kit Downes, Shabaka Hutchings und weiteren Akteur:innen der Londoner Szene aufnimmt, kurz bevor London synonym mit einem neuen Jazz-Revival und -Hype wird. Jazz – mit dem Begriff pflegt Dan Nicholls eine ähnliche Beziehung wie zum Klavier: »Ich fühlte mich immer mehr eingegrenzt und als würde ich nur noch in längst beschrittenen Bahnen denken dürfen. Ich musste da raus. Ich musste aktiv vergessen!«
Die Frage des Klaviers
They nimmt Abstand zum Instrument, zu einstudierten Standards. Stattdessen beginnt ein Abenteuer, das aber trotzdem auf einer Klaviatur aufbaut, denn ganz lösen kann er sich nicht von den Tasten. Der Synthesizer, der schon so viele vor they fasziniert hat, sorgt auch hier für neue Inspiration. »Ich denke, die Sache mit dem Synthesizer bei mir«, so kann Dan nur vermuten, »ähnelt dem, was heute viele junge Musikerinnen spüren. Man weiß, dass da draußen etwas ist, was Freiheit bedeutet und nicht mehr die alten Geschichten und die alten Fesseln.«
Völlig losgelöst von diesen entwickelt they eigene Set-ups für Controller, manipuliert so lange an Software-Apps rum, bis die den Ansprüchen genügen. Als Spiel- und Trainingsplatz stellen sich Bandprojekte heraus, die von anderen Musiker:innen angeleitet werden, die aber alle ein offenes Ohr für Nicholls ungewöhnliche Sounds haben. Lucia Cadotsch und ihr Speak Low-Projekt, Vula Viel, der deutsche Drummer Oli Steidle und seine Backingband, The Killing Popes – allesamt Jazz-Erneuererinnen. Dann kommt eine Anfrage von der Drum’n’Bass-Legende Goldie: »Bei ihm in der Band spiele ich eigentlich nur Bass-Lines und habe Spaß mit alten Freunden.«
Weißt du, einige Instrumente bringen ordentlich Ballast und Geschichte mit sich. Das Klavier vielleicht mehr sogar als die meisten anderen Instrumente.«
Dan Nicholls
Es führte they zurück in die Jugend als sich zu den ganzen klassischen und jazzigen Standards englische Bassmusiken mischte. Dann lernt er Tom Jenkinson kennen, als Squarepusher eine weitere Ikone des IDM und der Drill-Musik. »Das war schon hart. Wir als Band mussten uns immer wieder an den Rand unserer technischen Möglichkeiten bringen. Ich habe viel gelernt.« Die ganzen gesammelten Erfahrungen fließen dann in weitere Projekte, wie etwa Y-OTIS von Otis Sandsjö und Petter Eldh.
Vor allen Dingen ermöglichen sie Dan Nicholls auch ein kleines Stück Frieden, den they 2022 auf »Mattering and Meaning« findet. Hier feiert Dan Versöhnung mit dem Piano und verlässt es danach – vorerst und vielleicht für immer. Stattdessen reizt Dan Nicholls heute digitale Syntheseverfahren aus: »Mit Plants Heal (mit Dave DeRose), Clay Kin (mit dem Schweizer Drummer Julian Sartorius und Lou Zon) und meinen Solo-Sachen habe ich drei außergewöhnliche Labore geschaffen, wo ich jeden Tag weiterforsche.« Denn das Gegenteil von Forschen, das wäre Antworten haben. Und diese möchte Dan Nicholls gar nicht haben.