Jazz in Berlin: Alles geht, aber was bleibt?

10.05.2024
Jazz in Berlin hat Tradition, die Menschen, die in die Stadt kommen, viele Träume. Aber Tradition und träumen? Muss ja beides irgendwann aufhören. Was bleibt sind die tatsächlichen und ganz aktuellen Umstände.


Berlin ist »Jazzhauptstadt«, dann wieder »Jazzmetropole« oder »Jazzmekka« – jedenfalls gibt es in der Hauptstadt viel zu fühlen und zu hören, vor allem den Satz: »Hier kann man eigentlich jeden Tag Jazz hören.« Was stimmt, Berlin hat das Jazzfest, die Jazzwoche, XJAZZ! und Rejazz, ein Dutzend weitere Festivals in Kleingärten und Kiezen und überall dort, wo dieser Sound, der einmal für wochenzeitungskritische Miene stand, passieren kann: den sogenannten Jazzclubs. 

In Anzahl und Umfang finden sie sich in Berlin, dass man beim Nachzählen mit Fingern an anatomische Grenzen stößt. Von A-Trane bis Zig Zag hängt der eingerahmte Ballast des letzten Jahrhunderts an den Wänden. Auf der Bühne versucht man sich, von ihm freizuspielen. Im Klunkerkranich schwitzt man den Jazzkeller-Vibe über den Dächern aus, im Fluxbau blickt man optimistisch über die Spree gen Alex, im Donau 115 kann man sich zwischen Vintage-Stehlampen Avantgardistisches reinziehen. Alles geht in Berlin, das war und ist die Versprechung, die immer noch als Verheißung taugt und deshalb so viele Menschen in die Hauptstadt zieht.

Geh doch nach Berlin

Oder gezogen hat. Petter Eldh ist einer jener Musiker, die Programmhefte gerne mal klug ankündigen, indem sie schreiben, dass man diese Person nicht mehr ankündigen muss, das heißt: Der aus Göteborg stammende Eldh ist ein »Fixstern der Szene«. 2006 kommt er das erste Mal nach Berlin. Zum Feiern und um im Ur-HHV-Hinterhof ein paar Hip-Hop-Scheiben zu kaufen. Ein paar Jahre gibt er noch mehr Geld in Berlin aus – er zahlt Miete. Heute sagt Eldh: »Ich bin mit Beats und Sample-Kultur aufgewachsen, während meines Kontrabassstudiums habe ich diese Seite aber vernachlässigt – bis sie die Stadt wieder geöffnet hat.«

Der Bassist führt inzwischen viele Projekte, eines heißt Post Koma und klingt circa so, als wäre J Dilla nach zwei Jahrzehnten Bildungskarenz als Jazzkapellmeister zurückgekehrt. In Eldhs Studio steht neben Modular-Blingbling und Synthesizer-Museum natürlich auch eine MPC. »Die Stadt war damals mein Neustart, ich bin tagelang rumgelaufen, in all diese kleinen Clubs reingestolpert und habe einfach mitgespielt. Es ging immer ums freie Improvisieren. Das ist heute ganz anders und ich bin froh darüber. Meine Interessen haben sich wegen der Stadt geändert, meine Perspektiven in ihr auch.«

»Manche können nämlich progressive Musik spielen, ohne progressiv zu denken.

Petter Eldh

Das Improvisieren sei damals die Berliner Schule gewesen sei. Frei, offen, Avantgarde – dafür stand Jazz hier, seitdem Peter Brötzmann in den Sechzigern das erste Mal durchs Saxofon gehustet hatte. Und ja, dieser Grundsatz bestehe weiterhin. Als Tradition, die schon lange überholt sei. »Oder für mich überholt ist«, korrigiert sich Eldh. »Manche können nämlich progressive Musik spielen, ohne progressiv zu denken. Das führt nicht dazu, auf neue Leute zu treffen.«

So denke nicht nur er. So denken viele, vor allem die Jungen. In Berlin stehe nämlich nicht mehr der unakademische Punkspirit des Trötens und Klampfens im Fokus – auch wenn der als Ausdrucksform nach wie vor geschätzt werde, meint Eldh. Inzwischen müsse neben der Musik aber auch der Kopf im richtigen Jahrhundert angekommen sein. Dazu gehöre die technische Ausbildung so sehr wie ein Denken, das nicht im Vorgestern festgefahren sei.

Einer, der zeitig mitdenkt, heißt Otis Sandsjö, Göteborger Kumpel von Eldh und sein Saxophon-Kollege bei Y-Otis. Eine Band, die gerade auf den wichtigen Gegenwartsjazzfestivals zu sehen ist, weil: they jazz! Sandsjö ist mit Anfang 20 nach Berlin gezogen, fertigstudiert und offen für das Abenteuer, das die Stadt zuvor in einem verlängerten Sommerurlaub für ihn gewesen war. »Ich hab nur gewusst, hier gibt es eine internationale Community, überall wird improvisiert, alles ist DIY und die Leute buchen sogar Touren für sich selbst, um ihre verrückte Musik zu spielen.« 

Zwischen Traum und deutscher Bürokratie

Mittlerweile sind ein paar Jahre vergangen, neben seinem Musikerleben führt Sandsjö ein Familienleben. »Trotzdem hat die Stadt bis heute eine mystische Aura für mich. Berlin ist mehr ein Traum als alles andere, was wohl daran liegt, dass Menschen hier immer Träume haben und eine Energie erschaffen, die man woanders nicht findet.« Es mischt sich zum Traum aber mit Fortschreiten der Zeit auch die Realität, sagt Sandsjö. »Irgendwann stellt man plötzlich fest, dass Berlin auch nur eine Stadt mit deutscher Bürokratie ist.«

Das Träumen bleibe aber omnipräsent in der Stadt, so Sandsjö. »Junge Leute ziehen immer noch nach Berlin. Sie mögen nicht denselben Traum träumen, den wir geträumt hatten, als wir uns für diese Stadt entschieden, wahrscheinlich haben sie sogar einen ganz anderen im Kopf – einen, der ebenso wenig mit der Realität übereinstimmt wie unserer damals. Aber sie werden alles daran setzen, zu erleben, wovon sie träumen. Das hat diese Stadt immer schon ausgemacht, nicht?«

Man dürfe dabei nicht vergessen, ergänzt Eldh, dass alles auf etwas aufbaut – was die Leute hier machen, habe eine Vorgeschichte, bedinge sogar immer eine Vorgeschichte, weil andere Leute zuvor etwas aufgebaut haben, auf dem »wir, und dann nennen wir es halt Szene«, weiterbauen können. »Das ist schön, aber auch gefährlich«, wirft Sandsjö ein. »Denn diesem Auf- und Weiterbauen ist die Idee eines Erbes eingeschrieben und das kann auch konservativ sein, vor allem wenn es diesen jungen, verträumten Vibe auflöst.«

»Dem Auf- und Weiterbauen ist die Idee eines Erbes eingeschrieben und das kann auch konservativ sein

Otis Sandsjö

Der Vibe mag ein Traum sein, aber er fühlt sich für viele Leute sehr echt an. Das hat seine Gründe. Auch wenn die Mietpreisbremsspuren länger werden, Proberäume durch Parkplätze ersetzt werden und das geplante House of Jazz eingespart wird: Berlin ist im Vergleich zu London oder Paris immer noch das, was Politiker mit roten Krawatten »leistbar« nennen. Und obwohl der Senat zeitgeistig an der freien Szene  rumschnippelt, steckt er weiterhin Geld »in die Kultur«. 

Die Frage ist: Wie lange? Der Kulturhaushalt für die kommenden Jahre spart vor allem in der freien Szene ein. Während der Kultursenator nicht »nur Hochkultur und kommerzielle Kultur« fördern wollte, sprechen manche nun von einem »Kahlschlag« und »verbrannter Erde«. Schließlich treffen die Kürzungen jene nicht angestellten, proberaumlosen und unter bescheidenen Arbeitsbedingungen auftretenden Künstler:innen, in anderen Worten: das Prekariat.

Britische Zustände?

Das lässt sich aus mehreren Perspektiven beurteilen, zum Beispiel von außen: »Die Art, wie sich Berlin um Kunst und Künstler:innen kümmert, ist bedeutend rücksichtsvoller als im UK«, meint zum Beispiel Cassie Kinoshi. Die britische Musikerin zählt zur jungen, neuen Jazzgeneration in London, das heißt: Sie zählte dazu. Seit ein paar Monaten lebt Kinoshi in Berlin und meint: »Hier verbindet sich Jazz mit klassischer Musik. Außerdem kommt mir die deutsche Mentalität mit ihrer Work-Life-Balance viel stärker entgegen als in London.«

»Wer dort Erfolg haben will, muss sich anpassen.«

Cassie Kinoshi

Zudem gebe es in Berlin, das könne Kinoshi mit dem Blick von außen besonders gut beurteilen, keine Star-Persönlichkeiten. In London stehe Jazz nämlich für einige wenige Namen, die an der Spitze stünden und dort aus eine ganze Szene prägten, die aber weit vielschichtiger sei als dargestellt. Das führe zu einer Verschlossenheit gegenüber dem Anderen und Neuen, weil die wenigen Namen den allgemeinen Eindruck erwecken, dass es einen einzigartigen Sound gibt, der mit London verbunden ist.

»In Berlin atme ich dagegen auf, weil es hier tatsächlich noch Raum für kleine Gemeinschaften von improvisierenden Musiker:innen gibt, die an einen Ort gebunden sind – und nicht an die Zuschreibung zu einer Stadt.« Kinoshi betont dabei die Relevanz von Räumen zum Experimentieren. Natürlich, die gebe es auch in London, sagt sie. Der wichtige Unterschied sei aber, dass die trockengelegte Förderkultur den Wettbewerbsgedanken bis zur Selbstzerfleischung verschärft, denn: Wer dort Erfolg haben wolle, müsse sich zwangsläufig anpassen.

Kinoshi mag mit der Berliner Förderkultur noch keine Erfahrungen gemacht haben und kommt obendrein als bekannte Künstlerin in die Stadt. Trotzdem spiegelt sich in ihrem Blick eine mögliche Zukunft wider: Fördert die Politik »nur Hochkultur und kommerzielle Kultur«, herrschen in Berlin bald britische Zustände. Dort werden Förderungen seltener gekürzt, dafür häufiger gleich ganz eingespart. Das trifft Clubs, Künstler:innen und die Kultur, die nicht in Opernhäusern oder der Radiorotation stattfindet.

Auf der Suche nach dem Luxusgut

Ein Plädoyer für die Nische sprechen deshalb jene aus, die den Blick auf Berlin von innen heraus richten. Einer von ihnen ist Tilo Weber, Mitte 30, einer der gefragtesten Schlagzeuger der Stadt. 

Die Voraussetzung für seine Stilbandbreite zwischen Vokalensemble und Popgruppenerweiterung sei natürlich: Raum und Zeit zum Experimentieren und Scheitern. Schließlich solle der Hauptantrieb im Jazz nicht die Verwertung des Ergebnisses sein. Es müsse vielmehr um die Suche nach einem Weg zu einem Ergebnis gehen. »Das ist anstrengend, mag zu Stress und mehreren Panikattacken führen, aber es ist mein Ansatz. Und viele junge Leute in dieser Stadt teilen ihn.«

Weber, der in seinen Zwanzigern am Jazzinstitut Berlin bei John Hollenbeck studierte, als Sideman von David Friedman auftritt und 2022 den Deutschen Jazzpreis gewann, ist in Berlin angekommen. Er wolle die Stadt aber nicht beschönigen. Raum wie Zeit werde zunehmend zum Luxusgut. Deshalb müsse man zumindest die Orte bewahren. »Als ich hierher kam, habe ich häufig im A-Trane und in anderen klassischen Clubs gespielt. Wenn ich aber in eine Kneipe wie das Donau gehe, wo andauernd junge Neuköllner Menschen abhängen, Bier trinken und sich avantgardistisches Zeug reinziehen, hat das einen anderen Vibe.«

Ein Vibe, den die ACT-Pianistin Johanna Summer auch mal gesucht hat. Summer, Jahrgang 95, kam nach ihrem Bachelor-Studium in die Stadt, wollte schauen, wie es so geht als freelancende Musikerin und tatsächlich: »Mein Ansatz, über klassische Klavierwerke zu improvisieren und generell Soloklavier zu spielen, der hat sich hier ergeben«, so Summer. Über zwei Alben reanimiert sie seither Robert Schumann, findet zu einem »ganz eigenen Ton«, wie Igor Levit meint. Und tritt in Konzerthäusern in ganz Europa auf.

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Leben will Summer trotzdem lieber in Dresden. Von Berlin spricht sie als Station zum Selbststudium. Alles sei da, aber deswegen auch: anstrengend, überbordend, viel. Anders in Köln, wo sie zwischenzeitlich lebte. »Dort würde man viel schneller mitbekommen, wenn jemand neu in die Stadt kommt und coole Mukke macht – eben weil es nicht so viele Möglichkeiten gibt und alle mit allen spielen«, sagt Summer. 

Wer hingegen viele Sessions spielen, jeden Abend Konzerte hören und alles mitnehmen wolle, für den sei Berlin nach wie vor die richtige Adresse. Sie fahre ja selbst mindestens einmal im Monat hin. In den Pierre Boulez Saal, ins Donau, wenn das Programm stimmt, auch ins A-Trane. »In Berlin kann man eigentlich jeden Abend Jazz hören.« So lange dafür der Raum da ist, ist alles gut. Denn wo Jazz gespielt wird, verändert er sich auch. Das liegt in der Natur des Genres. Der Rest ist Politik.

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