Jahresrückblick 2019 – Top 50 Albums

02.12.2019
Ein Jahr verstreicht, ein Jahrzehnt ist zuende. Der wichtigste Rohstoff dieser Zeit? Einigkeit. Auf diese 50 Schallplatten konnten wir uns einigen. Friedlich! Hurrah! Diese Liste ist die Welt, in der wir leben wollen. So einfach ist das.
Ein Jahr verstreicht, ein Jahrzehnt ist zuende. Der wichtigste Rohstoff dieser Zeit? Einigkeit. Die immerhin gab es in der Redaktion, als es an die 50 besten Alben 2019 ging. Keine Unstimmigkeiten, kein Gezanke, keine Schmollmünder: ein Auswahlprozess wie Weihnachten allein zuhause in der Badewanne, weitab der Familie. Und zugleich zeigt sich mit Blick auf diese 50 Schallplatten dann noch, dass wir das Jahr selten so abwechslungsreich beenden konnten. Da sind die vertrauenswürdigen Kreissparkassen, die das Rap-Game selbst nach circa fünf Jahrzehnten noch zu einer spaßigen, schmerzhaften, brutalen und wichtigen Angelegenheit machen: 2 Chainz, Danny Brown, Denzel Curry, Freddie Gibbs & Madlib, Negroman, OG Keemo, ScHoolboy Q, slowthai und so weiter. Da sind im selben Zug die ganz großen Pop-Momente: FKA twigs ist zurück, Solange wieder da, Lana del fucking Rey erst recht und Holly Herndon hat jetzt Nachwuchs. Wie Future ist das denn!? Vor allem ist da aber schräge und schöne Musik aus wirklich allen Ecken und Enden der Welt. Das essentielle Vinyl des Jahres bietet 90er-Meta-Rave aus Frankreich (J-Zbel), iranisches Soundscaping (Siavash Amini), Black-Atlantic-Jazz aus Detroit (Ethnic Heritage Ensemble), Dancehall von dort wo er eigentlich herkommt (Equiknoxx), Fahrstuhlmusik aus Anatolien (Anadol), Bergkristallsounds als Los Angeles beziehungsweise Südamerika (ana roxanne), dumpfe Rave-Sounds aus Portugal (Violet), futuristischer Jazz aus Johannesburg (Spaza), noch futuristischer Rave aus Kenia (Slikback), Minimal-Updates aus Korea (Park Jiha), Ambient-Hip-Hop aus Japan (Meitei), … Ihr habt’s schon verstanden: Diese Liste von 50 Alben, auf die wir uns – anders als sonst, glaubt uns das – so friedfertig einigen konnten, ist die Welt, in der wir leben wollen. So einfach ist das.


2 Chainz
Rap Or Go To The League
Def Jam • 2019 • ab 30.99€
Es gibt so Platten, deren Skurrilität sich nur mit faulen X-plus-Y-gleich-Z-Formeln ausdrücken lässt. In der Causa »Baroo« lautet die mal PC-Music-im-J-Pop-Wahn-plus-Oval-circa-Mitte-90er-als-Remixer, dann wiederum Cumbia-auf-Koks-plus-Psych-Rock-Georgel, dann wiederum… Na ja, ihr habt’s schon begriffen: Carl Stone hat mit mittlerweile 66 Jahren immer noch Bock drauf, Musik zu ihren definitiven Extremen zu führen. Je mehr ihm das nicht gelingt, desto geiler wird’s. Kristoffer Cornils

Caterina Barbieri
Ecstatic Computation
Editions Mego • 2019 • ab 18.99€
Wenn Nils Frahm nicht so unglaublich deutschdröge wäre, hätte er sich entschiedener der Ekstase seines Stückes »Says« hingegeben und würde mit Caterina Barbieri bis ans Lebensende geheimnisvolle, nächtliche Synthie-Battles um Sternenstaub-Ampullen bestreiten. Die Italienerin kommt selbstredend auch ohne etablierten Mittelmaßkonsens aus und formt auf »Ecstatic Computation« kristallklare, irisierende Sternenherzen, die ihr weich klirrendes Licht bis K2-18b werfen. Greetings aliens. Jens Pacholsky

Danny Brown
Uknowhatimsayin¿
Warp • 2019 • ab 36.99€
Frage: Hat Danny Brown sich mit seinem jüngsten Auswurf von den Höhen verabschiedet, die er zuvor auf »Atrocity Exhibition« erreicht hatte? Antwort: Das ist im Zweifel nicht so wichtig. Denn »uknowhatimsayin¿« fließt dank einem großzügig bemessenen Anteil von unrundem Pop-Irrsinn. Und der Rap-Meister fasst sich kurz, ohne an Einblicken und Einsichten zu sparen. Eine schön schmutzige Hip Hop-Angelegenheit mit dem genau richtigen Anteil von Danny Brown-Humor, der ihn weiter so unverzichtbar macht. Tim Caspar Boehme

Daso
Daso
Connaisseur • 2019 • ab 15.99€
Wenn irgendetwas schiefgehen kann, dann posthume Alben. In der jüngeren Zeit gab es dafür leider mehr Belege als notwendig, immerhin doch aber ein paar nennenswerte Ausnahmen: Prince wäre eine, aber auch Daso Sein selbstbetiteltes Debüt wurde am ersten Todestags des Produzenten veröffentlicht und machte über zwölf Tracks klar, dass Daso Franke selbst in seinen letzten Atemzügen nicht verlernt hatte, wie das ging: Techno als heilige, reine Kraft zu denken. »Daso« hat keine Fallhöhe, kennt nur den glückseligen Schwebezustand. Kristoffer Cornils

Dengue Dengue Dengue
Zenit & Nadir
Enchufada • 2019 • ab 25.99€
Mit »Zenit & Nadir« lassen Dengue Dengue Dengue die Arbeit am Cumbia-Update sausen und widmen sich einem noch größeren Unterfangen: afro-lateinamerikanische (Musik-)Geschichtsschreibung mit Zukunftsperspektive. Was nun eben nicht heißt, dass die beiden über ein bisschen Geklöppel auf den Kiefern toter Esel oder Ingá-Rhythmen den kontinentaleuropäischen Dancefloor vergessen hätten. »Zenit & Nadir« ist vielmehr der ultimativ kosmopolitische Kompromiss – die einzige Form von Fourth-World-Music, die wir wirklich brauchen. Kristoffer Cornils

Denzel Curry
Zuu
Loma Vista • 2019 • ab 32.99€
Sich zu wundern warum Denzel Curry der einzige Raider Klan-er ist, der seine Karriere im Griff hat, mag zwar ein guter Aufhänger bleiben, aber eigentlich stellt sich diese Frage schon lange nicht mehr. »ZUU« ist Florida ohne Narcos- und Bloodline-Romantik und Denzel Curry vielleicht jetzt schon der wichtigste Rapper aus Carol City. Florian Aigner

The Düsseldorf Düsterboys
Nenn Mich Musik HHV Exclusive Limited Marbled Pink Vinyl Edition
Staatsakt • 2019 • ab 24.99€
Mit irgendjemand wird man schon Saufen am Wochenende, irgendein Aschenbecher wird man schon Vollstopfem am Wochenende. Die deutsche Autobahn wird Luftlinie nie mehr als 20 Kilometer entfernt sein, ist auch scheissegal, alle Wege führen eh dahin, wo man herkommt. Düsseldorf Düsterboys machen mit »Nenn Mich Musik« Folklore für eine niemals endende deutsche Jugend, der der Saft ausgegangen ist. Es riecht nach Kneipe und schmeckt bittersüß. Philipp Kunze

Equiknoxx
Eternal Children
Equiknoxx Music • 2019 • ab 23.99€
Falls hier irgendwann noch über die besten Alben der 2010er abgestimmt werden sollte: die ersten beiden Equiknoxx-Alben sind gesetzt, aber auch Nummer Drei drängt sich schon kurz nach Erscheinen bereits als unverzichtbar auf. So abstrus war Pop seit dem Timbo/Neptunes-Run vor fünfzehn Jahren nie wieder, so souverän wurde Eurozentrismus lange nicht mehr das snobbistische Grinsen aus dem Gesicht geohrfeigt. Welthits innerhalb der nächsten drei Monate, fünf Production Credits auf dem nächsten Rihanna-Album, Equiknoxx Coachella-Headliner, ansonsten ist Pop halt tot. Florian Aigner

Yvon (präsentiert von Carsten Erobique Meyer & Jacques Palminger)
Yvon im Kreis Der Liebe
a sexy • 2019 • ab 21.99€
»Im Kreis Der Liebe« ist man so empfänglich für quietschbunte Zuckerperlen, Tagebuchromantik und seicht-harmonischer Instrumentierung wie schon lange nicht mehr. Musiker Erobique und Texter Jacques Palminger haben gemeinsam mit Sängerin Yvon das emotional unterkühlte Jahr 2019 gerettet. Während Herzen in Holzbänke geritzt werden, beginnt man sich wieder selbst zu ertragen. Tim Tschentscher

Ethnic Heritage Ensemble
Be Known Ancient/Future/Music
Spiritmuse • 2019 • ab 39.99€
Das beste Jazz-Album des Jahres. Angeführt vom legendären Chicago Percussion-Mann Kahil El’Zabar, ist »Be Known Ancient / Future / Music« ganz dem Titel entsprechend GROßER afro-zentrischer Spiritual Jazz. Corey Wilkes an der Trompete, Alex Harding am Baritone-Sax und Ian Maksin am Cello, Freunde, rejoice! Philipp Kunze

Felicia Atkinson
The Flower And The Vessel
Shelter Press • 2019 • ab 28.99€
Zur Review
Alben von Felicia Atkinson lassen auch Nihilisten in Märchen schwelgen. »The Flower and The Vessel« ist wieder Poesie und Sound-Art, vorgetragen aus dem Lüftungsschaft, total entrückt und hautnahe gleichzeitig. Wörter, Anflüge von Melodien, das Grollen der Gezeiten im Zeitraffer, Atkinson schafft Wunder, man kann es nicht anders sagen. Philipp Kunze

FKA Twigs
Magdalene Black Vinyl Edition
Young Turks • 2019 • ab 27.99€
Es ist 2042, überall nur Zerstörung. Ein Teenie rutscht durch Ruinen, findet eine schwarze Box, die an einem Kabel von der Wand baumelt. Ein paar Touches auf den Screen, plötzlich ploppen die Worte »Cellophane« und FKA twigs auf. Für 3 Minuten und 24 Sekunden versteht einer der letzten Menschen dieser Erde nicht mehr, warum die Menschheit trotz Songs wie dieser so dermaßen falsch abgebogen ist und schluchzt bitterlich, bis der Bildschirm erlischt. Zum Glück hat die Batterie nicht bis zum Future-Feature durchgehalten. Kristoffer Cornils

Flying Lotus
Flamagra Black Vinyl Edition
Warp • 2019 • ab 36.99€
Wie viele Ideen passen auf ein Album von Flying Lotus Mindestens so viele wie hier Genres von Wonky bis Nu Jazz durchexerziert werden oder die stolzen 27 Tracks Features von George Clinton bis Toro Y Moi und von David Lynch bis Solange unter einen Hut bringt. Diese 107 Minuten sind ein assoziativer Parforceritt durch die schwarze Musikgeschichte, bei dem Afrofuturismus auf glitchy Hip-Hop auf Neo Soul folgt. »Flamagra« ist Hörerüberforderung im besten Sinne. Martin Silbermann

Freddie Gibbs & Madlib
Bandana Black Vinyl Edition
Keep Cool • 2019 • ab 27.99€
Das hätte man so wohl nicht erwartet: Auf seine alten Tage produziert der Beat Konducta mit »Bandana« eines der besten Hip Hop-Alben des Jahres und Freddie Gibbs bricht seine harte Hustler-Persona etwas auf, bohrt auch mal dickere Bretter als die bekannten Geschichten von der Straße. Jeder eklektische Beat zwischen Bollywood und Roots Reggae ist eine Herausforderung für Gibbs extrem variablen Flow – und alle meistert er sowas von souverän, dass Featuregäste von Killer Mike bis Pusha T nur den Kürzeren ziehen können. Martin Silbermann

Georgia
Immute
Ekster • 2019 • ab 16.49€
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Musik von und für Menschen, die statt sich für ein Studium der Ethnomusikologie einzuschreiben lieber gleich DMT gedroppt haben: Was und wie genau Brian Close und Justin Tripp in ihrem Studio in der New Yorker Chinatown zusammenzimmern, verstehen sie vermutlich selbst nicht einmal. Über das Mit- und Durcheinander des prallen Referenzrahmens – Free Jazz, Minimal Music, Techno, Fourth-World-Anklänge – ließe sich wunderbar ein Konzept stülpen, worauf Georgia allerdings offenkundig keinen Bock haben. Gerade das macht sie im Gesamten so wunderbar angenehm. Kristoffer Cornils

Hildur Gudnadottir
OST Chernobyl
Deutsche Grammophon • 2019 • ab 28.99€
Die Welt nahm uns Jóhann Jóhannsson Sie gab damit aber auch Hildur Guðnadóttir die Chance, aus dem Schatten ihres Kollaborationspartners zu treten. Nachdem die Cellistin für das »Sicario«-Sequel den Staffelstab ihres Kollegen übernommen hat, übertraf sie sich mit ihrem Soundtrack für »Chernobyl« selbst. Kein Script, keine Cinematografie, keine schauspielerische Leistung dieser Welt hätte der BBC-Serie auch nur ansatzweise so genial gemacht, wären da nicht dieser Soundtrack. Eine ähnlich nachhaltige und dunkle Strahlkraft hat allerhöchstens Strontium-90. Kristoffer Cornils

Holly Herndon
Proto
4AD • 2019 • ab 27.99€
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Auf der Reise in die schöne neue »Proto«-WeltHolly Herndon macht den Weg frei. Maschinen und Menschen werden eins, das Versprechen der Ayahuasca saufenden Transhumanisten aus dem Silikontal wahr: Ihr dürft alle teilhaben am rasenden Stillstand kurz vor der Ewigkeit, wo euch aufwendig arrangierte KI-Chöre zwischen dekonstruiertem Glitch Pop in den Schlaf singen. Lieblich künden sie von einer Zukunft jenseits sterblicher Hüllen, abstrakt und bis zum zigfach gelayerten Schluss elegisch kalt. Nils Schlechtriemen

J-Zbel
Dog's Fart Is So Bad The Cat Throws Up
Brothers From Different Mothers • 2019 • ab 23.99€
Treffen sich ein paar französische Jungs zum Maskenball und kochen die elektronische Musik der letzten 20 Jahre auf ihre Knochen herunter. Zack fertig. Und ab in die Fresse. Was J-Zbel auf ihrem Manifesto »Dog’s Fart Is So Bad The Cat Throws Up« liefern, ist die volle Breitseite aus Breakbeats, Happy Hardcore, IDM, Bass Music, Acid, Electro und was sonst so die letzten beiden Jahrzehnte dein Gesicht über den Dancefloor gewischt hat. Jens Pacholsky

Johanna Knutsson
Tollarp Transmissions
Kontra Musik • 2019 • ab 12.99€
Vielleicht kein Zufall, dass die zwei großen Kindheitserinnerungen-meet-Field-Recordings-Alben dieses Jahres aus Schweden kamen. Noch intimer als Kajsa Lindgrens »Everyone Is Here« gelang dabei Johanna Knutssons »Tollarp Transmission«, auf dem die Zodiac-44-Mitbetreiberin den kosmischen Techno gegen plinkernden, plonkenden Langform-Ambient-Electronica eintauschte, die dem Gefühl der Heimeligkeit genau die richtige Dosis an unheimlichen Untertönen entgegenhielt. Kristoffer Cornils

Kassel Jaeger
Le Lisse Et Le Strié
Latency • 2019 • ab 18.99€
François Bonnet sieht aus, als käme er weder zum Essen noch zur Bartrasur, seine Gründe wird das aber haben: Einerseits ist er als Chefdirektor des GRM ausreichend beschäftigt, schreibt dazu aber auch noch Bücher über die Infrawelt und, na klar, macht eben auch Musik, deren Produktion ebenso viel Zeit in Anspruch nimmt wie ihre Entfaltung. Neben seiner Klarnamenkollaboration mit Stephen O’Malley für Editions Mego war sein circa 13. Album unter dem Namen Kassel Jaeger »Le Lisse et le Strié«, ein Jahreshighlight. So konzeptschwer der Pressetext der LP daherkommt: Die blumigen Ambient-Sounds darauf sind es keineswegs. Kristoffer Cornils

Klein
Lifetime
Ijn Inc. • 2019 • ab 23.99€
»Lifetime« ist auch deswegen ein so außergewöhnliches Album, weil Klein die wenigen rhythmischen Pointen so perfekt setzt und der Trip Trap von »Claim It« so clever die vernissage-igen Ambientcollagen zerschießt. So klingt das immer wieder als hätte jemand auf dem neuen FKA Twigs Album 80% der Spuren gemutet. Florian Aigner

Lana Del Rey
Norman Fucking Rockwell!
Urban • 2019 • ab 31.99€
Summertime, Summertime, ahhh. Der American Beauty-Verschnitt mit Schmollmund versenkt auf »Norman Fucking Rockwell« alle Erinnerungen an Tage am Baggersee wie Lush-Badebomben in der Wanne. Lana Del Rey haucht dafür übers Piano, während sie Alkoholprobleme, Trump und heteronormative Beziehungsprobleme im Spätkapitalismus in ihren Songs verwurstet. Wer da nicht rollig wird, zündelt mit Vanille-Duftkerzen von Ikea! Christoph Benkeser

Lil Baby & Gunna
Drip Harder
Quality Control • 2019 • ab 30.99€
Wenn Lil Durk zur richtigen Zeit Young Thug kennengelernt hätte, wäre »Drip Harder« dabei rausgekommen. Hat er nicht, deswegen mussten die Thugger-Protegés Lil Baby und Gunna diese Aufgabe übernehmen. »Drip Harder« ist die Form-perfekte Konsequenz aus allem was Future, Migos und Thugger in den letzten Jahren so erfunden haben, melodisch vogelwild, mental schwer Diamanten behangen am Boden zerstört, Rap besingt längst das After-Life. Philipp Kunze

Matthew Halsall
Oneness
Gondwana • 2019 • ab 36.99€
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»Oneness« ist deutlich freier als die Alben, die diese Sessions begründet haben. Nicht freier im Sinne von epileptischem Free Jazz, sondern einfacher freier in der Struktur. Matthew Halsall selbst bezeichnet die Aufnahmen als »vulnerable«. Deshalb hat er sie gut ein Jahrzehnt unter Verschluss gehalten. Die Veröffentlichung jetzt ist ein verdammter Segen. Selbst der schlechteste Mensch würde den Aufnahmen maximal eine gewisse Eintönigkeit vorwerfen können. Aber das ist, als würde man dem Licht vorwerfen, dass es weiß erscheint. Philipp Kunze

Meitei
Komachi
Metron • 2019 • ab 29.99€
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Während Qrates-SelbstversorgerInnen und ChilledCow-Dauerschleifen schwurbeligen Lo Fi-Beats den zweiten Frühling bescherten, konnte der japanische Produzent Meitei diese Empfänglichkeit für Unpoliertes aus dem Stand in ein Gesamtkunstwerk gießen. »Komachi« mäandert zwischen Ambient- und Hip-Hop-Konstrukten, knotet Geschichte an Zukunft und zeigt wie komplex Minimalismus sein kann. Hier werden Vogellockrufe, Bachgeplätscher und Bonshō-Glocken auf 16 Pads verteilt und mit der MPC abgefeuert. Noch Fragen? Tim Tschentscher

Negroman
Cuck
Sichtexot • 2019 • ab 20.99€
Danach hat auch keiner gefragt. Nicht, dass jemand darauf gewartet hätte. Aber die Antwort ist trotzdem über jeden Zweifel erhaben. Negroman überzieht mit »Cuck« Retrogott-ness mit Schlieren lila Saxophons, Morlockk Dilemma auf Mumble Rap; lyrisch und technisch streberhaft, aber der Rest schwänzt Schule, um DJ Screw zu hören. Philipp Kunze

Never
Never
Jolly Discs • 2019 • ab 15.29€
Jolly Discs eh eine der Entdeckungen des Jahres. Highlight: das selbstbetitelte Album von Never. Whitest Boy Alive für alle, die einfach nicht mehr auf Indie-Rock-Partys rumknutschen wollen – mit einer Portion 808s-&-Heartbreaks-Kanye. Philipp Kunze

OG Keemo
Geist HHV Exclusive Edition
Chimperator • 2019 • ab 44.99€
Vor zwei Wochen behauptete ich an anderer Stelle, dass OG Keemo das beste Deutschrap-Album aller Zeiten droppen würde, selbst wenn es außer »216« nur Schiefertafelkratzen beinhalten würde. Heute ist »Geist« ein Instant Classic, eine brillant assoziierte, aber stringente Kurzgeschichtensammlung verknüpft mit gesellschaftlichen Abgründen, wie man sie in diesem Jahrhundert vielleicht sonst noch von Earl oder Kendrick kennt. Florian Aigner

Ossia
Devil's Dance
Blackest Ever Black • 2019 • ab 26.99€
Kein Licht am Ende des Tunnels. Aber auch egal, Ankommen ist eh nicht umweltfreundlich. Ossia hat mit »Devil Dance« eins der allerbesten Alben des Jahres gemacht. In einer ungeheuren Mischung aus Ambient, Dub(step), Jazz, Techno verschluckt das Album seinen Hörer, der in den Genuss kommt, im Bauch des Wals an Gott zu zweifeln. Philipp Kunze

Park Jiha
Philos
Glitterbeat • 2019 • ab 19.99€
»Communion« war ein rauschhafter Fluss, der fast an der Weltöffentlichkeit vorbeigeströmt wäre, »Philos« gebündelte Elektrizität kurz vor der Entladung. Park Jiha hat für Platte unter anderem die libanesische Dichterin Dima El Sayed für eine unbequeme Spoken-Word-Collage eingeladen und im Studio noch mehr an ihrer eigenartig-einzigartigen Mischung aus Hackbrett-Minimal und Mundorgel-Jazz gefeilt als zuvor. Das Ergebnis trägt die gleiche sonderliche Kippspielstimmung wie der Vorgänger in sich, ist aber detailversessener, fokussierter, dichter, manchmal auch dramatischer. Kristoffer Cornils

Pelada
Movimiento Para Cambio
Pan • 2019 • ab 19.99€
Zwischen China-Böller-Breaks in der Kellerdisse, Cumbia-Gestampfe und 90s-House auf Billig-Bootstouren in Ibiza passt – genau: eine Standpauke zu allem, was das Leben scheiße macht. Also Patriarchat, Patriarchat und Patriarchat. Wer den Spanischkurs auf Duolingo durchzockt, weiß bei »Movimiento Para Cambio«: hier geht’s um Veränderung. Im besten Fall pustet Peladas Bigroom-Punk den Rotz aus allen Nebenhöhlen. So räudig wie Teenage Atari Riot, so catchy wie The Prodigy. Aber maximal edgy. Christoph Benkeser

Purple Mountains
Purple Mountains
Drag City • 2019 • ab 32.99€
Leider ist »Purple Mountains« das letzte musikalische Statement von David Berman, der es schon als Silver Jews meisterhaft verstand, Depression, Entfremdung und Verlustängste in lakonisch-pointenreiche Texte zu gießen. Auch auf diesem Comeback-Album erzählt sein warmer, brüchiger Bariton von der Beschissenheit der Dinge, umspült vom leichten Folkrock seiner Mitstreiter von Woods, der uns alle berührt und wohl nicht nur mit einem weinenden Auge zurücklässt. Mach‘s gut, David, und danke für die Musik! Martin Silbermann

Skepta
Ignorance Is Bliss
Boy Better Know • 2019 • ab 39.99€
Reif ist er geworden, raw ist er geblieben: Schoolboy Q hat mit »CrasH« ein Album vorgelegt, das ein Album ist. Seine ungezügelte Energie hat er immer noch nicht verloren, aber hörbar einen neuen Fokus gefunden. »CrasH« macht vom ersten bis zum letzten Ton Sinn, funktioniert als Geschichte wie es musikalisch funktioniert. Der beste Q aller Zeiten, das beste US-Rap-Album des Jahres, insert CHANGEMYMIND-Meme hier. Philipp Kunze

Siavash Amini
Serus
Room 40 • 2019 • ab 28.99€
Der Sonnenaufgang nach unserem Klimakollaps ist das Schönste und Beängstigende, das ich je erlebt habe. »Serus« bedeutet im Lateinischen »zu spät«. Der Teheraner Siavish Amini malt in vier mäandernden Stücken ein totes Reich der Stille. Unterkühlter Ambient an der Grenze der Platzangst. Halb Soundtrack, halb fiktives postapokalyptisches Hörspiel, halb Weissagung. Zitternde Luft über verwaister Elektrizität. Windrauschen zwischen einsamem Stahlbeton und Glas. Statisches Flüstern der Vergangenen. Und zwischendrin kleine Schimmer der Hoffnung auf ein Leben ohne Menschheit. Jens Pacholsky

Slikback
Lasakaneku / Tomo
Hakuna Kulala • 2019 • ab 23.99€
Slikbacks erste beiden EPs waren ein Erdbeben im modernen Club, vergleichbar vielleicht mit den ersten Tracks von Jlin. Mit gut einjähriger Verspätung erscheinen »Lasakaneku/Tomo« jetzt als Quasi-Album, angereichert mit drei neuen Stücken. Ähnlich wie Jlin ist Slikback deswegen allen Deconstructed-Krampfern um Lichtjahre voraus, weil der Club hier gar nicht dekonstruiert, sondern bedingungslos luxussaniert wird. Slikbacks Tracks verarbeiten in vier Minuten teilweise dutzende Subgenres, ohne sich jedoch mit diesem sehr europäischen IDM-Gestus der Fußnote zu entkörperlichen. Stattdessen überall Cyborgs mit blauen Flecken und geschürften Ellenbogen. Und LOL, wer braucht bitte Melodien? Florian Aigner

Slowthai
Nothing Great About Britain
Method • 2019 • ab 31.99€
»Fuck Boris!« Den Blondschopf in der Downing Street 10 hat slowthai schon aufs Schafott geschickt – als Dummy, versteht sich. Was der Typ aus der Sozialsiedlung in Northampton auf »Nothing Great About Britian« anstellt, ist die Antithese zu ironischen »This makes me proud to be British«-Loops von Dean Blunt. Full frontal, going mental. Das Zeug ballert aus Ein-Zimmer-Wohnungen im Londoner East End, wo sich Leute mit West Ham-Schals vermummen, um sich mit Lines vorm 24/7-Deli in gefakten Adidas-Jacken zu battlen.Christoph Benkeser

Solange
When I Get Home
Columbia • 2019 • ab 27.99€
Nein, es ist kein zweites »A Seat At The Table« geworden, auch wenn die Ähnlichkeiten beim Cover diesen Schluss zulassen. Dem vierten Soloalbum von Solange Knowles fehlen die Hymnen des Vorgängers und die dringliche, ja offenkundige Message. Was will uns Solange mit dem skizzenhaften (19 Songs in 39 Minuten) »When I Get Home« dann also sagen? Eine Ode an Ihre Heimatstadt Houston soll es sein. Jazzy, nebulös und artsy mutet die Produktion an, mit klassischen Song- und Albumstrukturen wird hier bewusst gebrochen. So braucht es Zeit ins Album zu steigen und die mantraartig vorgetragenen Worte von Solange zu entschlüsseln. Doch wer sich darauf einlässt, wird die beste R&B Platte des Jahres von einer der wichtigsten Stimmen der letzten Dekade für sich entdecken. Benjamin Mächler

Spaza
Spaza
Mushroom Hour Half Hour • 2019 • ab 27.99€
Afrofuturistischer Jazz aus Downtown Johannesburg, in einem Take aufs Band gequetscht – als Experiment gedacht, mit Liebe gemacht. »Spaza« von Spaza spritzt sich flüssiges LSD ins Gesicht und tanzt drei Tage auf dem Tafelberg, bevor die Platte böse Geister beschwört, um mit Autotune-Gemetzel und zirpenden Zikaden mit Vollgas ins spirituelle Outback zu pumpen. Christoph Benkeser

The Comet Is Coming
Trust In The Lifeforce Of The Deep Mystery
Impulse • 2019 • ab 22.99€
Warum es um europäischen Jazz 2019 besser denn je bestellt ist, zeigte »Trust In The Lifeforce Of The Deep Mystery« mit luzider Breitseite. Das zweite Album des Londoner Trios The Comet Is Coming zieht titelgerecht einen fetten Genreschweif durchs Sternenmeer, dessen Ionen aus Fusion und Funk im Futur II noch in Jahren sichtbar sein werden, wenn andere mit Pipi in den Augen Betamax, Danalogue und King Shabaka nacheifern. Zu hören also zweifellos: Genau der vitale Spirit, den diese Musik für die nächste Dekade braucht. Nils Schlechtriemen

Tracey
Biostar
Dial • 2019 • ab 14.69€
Dial mag dem Sound, für den das vor 20 Jahren in Hamburg gegründete Label gerne in Sippenhaft genommen wurde, den Rücken gekehrt haben. Das allerdings ist nicht im Rahmen der Labelpolitik umso konsequenter, sondern schafft auch mehr Freiraum für die Musik eines Tracey Tom Ruijgs Debüt-LP »Biostar« brachte gekonnt unter ein Dach, was bei Dial neben den offensichtlichen Hits schon immer fester Teil des Programms war: Electro-Grooves, wabernde Schönheit, frickeliger IDM – ein Album, reichhaltiger als die Backkataloge der meisten anderer Labels. Kristoffer Cornils

Tribe Of Colin
Age Of Aquarius
Honest Jon's • 2019 • ab 27.99€
BANGERS! Soundboys im Kosmos auf Amphetaminen, das wooooiiii! erklingt durch mahlende Kiefer. Brutale Pads und billige Melodien. Tribe Of Colins »Age Of Aquarius«** klingt trotz hoher BPM-Zahlen irgendwie total ›rootsig‹, aber man stolpert über diese Wurzeln, spürt sein Gesicht nicht mehr, nur der Dub erinnert daran, dass man einen Bauch hat. PK Philipp Kunze

Violet
Bed Of Roses
Dark Entries • 2019 • ab 23.99€
Dass die Naive-Betreiberin Violet ausgerechnet bei Dark Entries ihr Debüt veröffentlichen würde, hätte auch niemand ahnen können. »Bed Of Roses« erwies sich dann allerdings als ideale Spielwiese für die Portugiesin, die vorher mit breakigem House aufgefallen war. Zwischen souligem Klammerblues-Grooves und süßlichem Eso-EBM ist noch genug Platz für Ambient-Interludes, auf denen es sich so weich dahinschweben lässt wie in maßgefertigten Schuheinlagen. Die mit Abstand schönste Überraschung des Dance-Music-Jahres. Kristoffer Cornils

Wojciech Bakowski
Jazz Duo
DUNNO • 2019 • ab 24.99€
Lutto Lento war noch nie daran interessiert konventionelle Musik auf DUNNO zu veröffentlichen. Darum wissend ist es vielleicht doch kein Schock, dass Wojciech Bąkowski »Jazz Duo« als trojanisches Pferd benutzt und Fahrstuhlmelodien mit Spoken Word Dadaismus, Trap Snares und Digitalschnippselcore zerschießt. Auch mit Sprachbarriere eines der subversivsten Alben des Jahres. Florian Aigner