Athen, die frühen 1940er Jahre: Der junge Student Iannis Xenakis schließt sich dem bewaffneten Straßenkampf an. Erst gegen die von italienischen und deutschen Militärs versuchte Invasion Griechenlands, nach dem Fall der faschistischen Achsenmächte gegen die Besetzung durch britische Truppen. Er wird von einem umherirrenden Granatsplitter im Gesicht getroffen und überlebt nur knapp. Die Narben trägt er sein ganzes Leben im Gesicht, die Sehfähigkeit in seinem linken Auge erlangt er nie wieder. Doch nimmt er auch etwas aus diesen Tagen im Widerstand mit: eine revolutionäre Idee davon, was Musik sein kann.
Xenakis wird 1922 in Rumänien als Sohn einer wohlhabenden griechischen Familie geboren. Es ist ein musikalischer Haushalt: Die Familie besucht mehrmals die Wagner-Festspiele in Bayreuth, die früh verstorbene Mutter schenkt ihm schon als Kleinkind eine Flöte. Seinen musikalischen Interessen geht er weiterhin nach, als er ein Internat in Griechenland besucht. Er singt im Chor, lernt Mozarts »Requiem« zur Gänze auswendig und beschäftigt sich ebenso intensiv mit der klassischen Musik des westlichen Kanons wie traditioneller griechischer Musik. Auch als er im Jahr 1938 in Athen sein Studium aufnimmt, stehen Harmonie und Kontrapunkt auf dem Plan, hauptsächlich aber beschäftigt er sich mit Architektur und Ingenieurwesen.
Electroacoustic Works
Nur auf den Straßen der Stadt jedoch fließen seine Interessen an Formen, physikalischen Gesetzen und Klang konsequent ineinander. In seinem Buch »Musiques formelles« schreibt er im Jahr 1963 über die Rhythmik von Sprüchen, die unisono von Demonstrierenden gerufen werden; darüber, wie sich verschiedene, von unterschiedlichen Enden des Zuges kommende Slogans überlagern. »Das Geschrei erfüllt die Stadt und die hemmende Kraft von Stimme und Rhythmus erreicht einen Höhepunkt. Es ist ein Ereignis, dem eine große Macht und in all seiner Wildheit auch viel Schönheit innewohnt.« Im Miteinander der Menschen offenbaren sich unvermittelt Ordnungsprinzipien, die die Welt durchwirken.
Der Rhythmus ändert sich jedoch, sobald die Protestierenden auf die Gegenseite treffen. Die Rufe geraten aus dem Takt, die sich verstreuende Menge trägt den Sound des Protests in jede erdenkliche Richtung weiter. »Und nun stellen Sie sich dazu noch vor, wie das Rattern von Dutzenden von Maschinengewehren und das Pfeifen der Kugeln dieser Unordnung ihre Akzente beifügen«, schreibt Xenakis trocken. Der polyphone Einklang weicht aleatorischer Kakofonie, Schönheit Gewalt.
Was indes dahinter steht, das ist für Xenakis ein und dasselbe: »Die statistischen Gesetze dieser Ereignisse sind Gesetze über den Übergang von vollständiger Ordnung hin zu vollständiger Unordnung. Es handelt sich um stochastische Gesetze.« Es sind diese Gesetze mathematischer Wahrscheinlichkeiten von physikalischen und akustischen Phänomenen in Zeit und Raum (oder gar außerhalb dieser Kategorien), die in den kommenden Jahrzehnten zu Leitlinien seines Schaffens werden sollen. Er erfindet die »stochastische Musik«.
Musik auf Millimeterpapier: »Metastasis«
Nachdem Xenakis Griechenland wegen seiner Aktivitäten im Widerstand im Jahr 1947 gen Frankreich verlassen musste, wurde er Assistent des Architekten Le Corbusier, befasste sich aber zugleich weiterhin mit Musik. Ein Studium beim Komponisten Olivier Messiaen wurde ausschlaggebend: Dieser riet ihm dazu, Architektur und Musik zu vereinen. Xenakis warf die Notenbögen in den Mülleimer und begann, auf dem Millimeterpapier in mathematisch-physikalischen Kategorien über Kunst nachzudenken. Kästchen für Kästchen entfernte er sich dabei vom Zeitgeist, begann überhaupt, Zeit als Ordnungsprinzip der Musik hinter sich zu lassen.
Das Jahr 1955 stellte einen Durchbruch für ihn dar. Einerseits veröffentlichte er die Streitschrift »La Crise de la musique sérielle« (»Die Krise der seriellen Musik«), in welcher er der Führungsriege der westlichen Avantgardemusik vorwirft, dass ihre polyphonen und temporal-linearen Kompositionen beim Publikum als kaum mehr als »Oberfläche oder Masse« hörbar würden – statische Blöcke, komplex nur in ihrer Machart und nicht in ästhetischer Hinsicht.
Andererseits wurde im selben Jahr beim Donaueschingen Festival seine Komposition »Metastasis« (»Jenseits des Stillstands«) uraufgeführt. Auch diese kann sich noch nicht von den Paradigmen der auf Arnold Schönbergs Zwölftonlehre zurückgehenden seriellen Musik lösen, zeugt aber von dem Versuch, mittels mathematischer Überlegungen echte Unordnung zu schaffen – Musik, die außerhalb der Zeit stattfindet.
Der erste Teil von »Metastasis« ist ein röhrendes Heulen: 46 Streichinstrumente spielen langgestreckte Glissandi und bewegen sich dabei von einem Ton auf der tradierten westlichen Notenskala zu einem anderen, weit entfernten. Die Überlagerungen der einzelnen Stimmen lassen der schieren Anzahl der Instrumente wegen an eine Unordnung denken, wie sie Xenakis einst auf den Straßen Athens am eigenen Körper erfuhr.
Doch die reine Stochastik, also eine wirklich vom Zufall geprägte Kompositionsmethode, verbarg sich hinter diesem Versuch immer noch nicht. »Zufall kann nur unter großen Schwierigkeiten und lediglich bis zu einem gewissen Grad konstruiert werden«, räumte Xenakis weniger als ein Jahrzehnt in »Musiques formelles« ein. »Dazu braucht es ein komplexes logisches Denken, das sich in mathematischen Formeln zusammenfassen lässt.« Dafür jedoch brauchte er ein bisschen technologische Hilfe.
Experiment gelungen, Komponist tot: »Concret PH«
Auf die Erstaufführung von »Metastasis« folgten lange Aufenthalte in den Studios der von Musique-concrète-Vorreiter Pierre Schaeffer angeführten Groupe de recherches musicales (GRM). Dort entstand zu Teilen etwa das kurze Stück »Concret PH«, für das Xenakis Aufnahmen von brennender Kohle in einzelne Teile von je gut einer Sekunde Länge auseinanderschnitt, in ihrer Geschwindigkeit veränderte und in anderer Reihenfolge wieder aneinanderklebte. Das fertig abgemischte Stück klingt wie die Aufnahme eines Regenschauers aus kleinsten metallischen Teilen.
Es fällt aus heutiger Sicht vermutlich schwer, daraus einen einschneidenden Bruch mit allem Dagewesenen herauszuhören, doch wandte sich Xenakis damit einerseits gegen die dramaturgischen Sprünge in der zu dieser Zeit bereits etablierten Musique concrète und legte andererseits den Grundstein für die Technik der Granularsynthese. Für ihn standen das Klangereignis und seine scheinbar wahllose Verteilung in Zeit und Raum im Vordergrund. Womit er wie nebenbei auch ein gutes Jahrzehnt vor der Veröffentlichung von Roland Barthes‘ bahnbrechendem Essay » La mort de l’auteur« (»Der Tod des Autors«) den Komponisten begrub – oder ihm zumindest die Rolle eines bloßen Klangarbeiters zuwies. »Concret PH« sind 2 Minuten und 45 Sekunden musikgewordene Revolution gegen Konventionen und Traditionen.
Das Stück war außerdem Teil eines multi-sensorischen Spektakels, das Xenakis nahezu im Alleingang konzipierte: der Philips Pavillon auf der Weltausstellung in Brüssel im Jahr 1958. Bis heute wird Le Corbusier weiterhin als Architekt des aus neun sogenannten hyperbolischen Paraboloiden konstruierten Philips Pavillons genannt, doch übernahm Xenakis einerseits das Gros der Gestaltung des beeindruckenden Gebäudes und ist dessen Form auch direkt auf die grafischen Notationen von »Metastasis« zurückzuführen. Schon darin hatte Xenakis mit sogenannten Regelflächen experimentiert, aus denen wiederum hyperbolische Paraboloiden bestehen. Ob Architektur oder Musik: Xenakis befreite beides vom ranzigen Beigeschmack des Geniekults, indem er sich auf geometrische Gesetzmäßigkeiten bezog, die jenseits aller ästhetischen Urteile existieren.
Während die serielle Musik sich ihrem Publikum als »Oberfläche oder Masse« darbot, komponierte Xenakis ausgehend von Flächen zugleich Musik und Raum, um darin Klangmassen mehrdimensional erfahrbar zu machen. Sowohl »Concret PH« als auch das audio-visuelle Stück »Poème électronique« von Edgar Varèse wurden in zwei verschiedenen Teilen des Philips Pavillon über zahlreiche, an den verschiedensten Punkten angebrachten Lautsprecher abgespielt – ein multimediales, mit Asbest verkleidetes Spektakel. Auch dieses jedoch stellte wie »Metastasis« nur den noch ungenügenden Startpunkt viel ambitionierterer Projekte dar.
Die große Unordnung namens Welt
Mit den sogenannten Polytopen entwarf Xenakis in den Jahren nach seiner gemeinsamen Arbeit mit Le Corbusier weitere Gebäude, die Licht, Klang und Raum integrieren sollten. Der Mitte der 1970er Jahre geplante »Weltpolytop« sollte gar aus mehreren miteinander vernetzten Standorten auf der Erde bestehen; eine Art Proto-Metaversum konzipiert als vielschichtige und von Wahrscheinlichkeitsprinzipien geleitete ästhetische globale Erfahrung. Während sich andere noch auf Bühnenplätze in den Konzertsälen stritten, wollte Xenakis seine eigenen Räume eröffnen – und zwar für alle. Doch war die Welt noch nicht bereit: Der »Weltpolytop« wurde nie gebaut und selbst weniger ambitionierte Projekte Xenakis‘ ließen sich wegen rein physischer Sachzwänge nicht ohne Weiteres oder gar nicht umsetzen.
Für Xenakis standen das Klangereignis und seine scheinbar wahllose Verteilung in Zeit und Raum im Vordergrund.
Mit dem Aufkommen und der raschen Verbreitung von Klangsynthese und erschwinglichen Computern jedoch ergaben sich für Xenakis neue Möglichkeiten. Im Jahr 1977 wurde das von ihm erfundene Unité Polyagogique Informatique CEMAMu (UPIC) fertiggestellt, ein Kompositionswerkzeug in Form eines überdimensionierten Grafiktabletts. Darauf konnte mit einem Stylus komponiert werden, während ein Computer im Hintergrund die gezeichneten Anweisungen nach der Eingabe oder sogar in Echtzeit in Sound umwandelte. Komposition und Performance konnten in eins fallen – im Grunde handelte es sich um eine rudimentäre Vorversion einer Digital Audio Workstation. Das Prinzip beeindruckte eigenen Aussagen zufolge selbst Aphex Twin nachhaltig.
Dem voraus ging allerdings ebenso eine Reihe von Kompositionen, die mathematische und physikalische Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien zur Anwendung brachten und dabei bisweilen noch auf menschliche Klangerzeugung setzten – Kammerensembles, Orchester, Schlagwerk und so fort. Das ungefähr zur selben Zeit wie »Metastasis« entstandene Stück »Pithoprakta« etwa bezog seine Inspiration aus der statistischen Mechanik von Gasen, dem Gaußschen Gesetz und der Brownschen Bewegung, wird aber von einem Streicherorchester, zwei Posaunen, einem Xylofon und einem Holzblock gespielt. Das Ergebnis klingt, als hätte eine Handvoll Musizierender in einem hochverstrahlten Gebiet einen Geigerzähler zum Dirigenten ernannt. Selbst für Ohren, die an den Traditionen von klassischer westlicher Musik und den verschiedenen Avantgarden trainiert wurden, war das schwierig zu verstehen – gerade weil es daran außer dem dieser Komposition zu Grunde liegenden Gedanken wenig zu verstehen gab.
Xenakis suchte sein ganzes Leben lang nach einer Ausdrucksform jenseits des Stillstands der westlichen Musiktraditionen, das heißt allzu menschlichen Kategorien wie kompositorischem Einfallsreichtum, interpretatorischer Virtuosität oder genussorientierter Rezeptionshaltung. Sein Bruch mit alledem war gleichermaßen radikal wie fehlerhaft, bisweilen selbst noch einem Denken verhaftet, das er als überholt verworfen hatte. Nicht selten war er darüber seiner Zeit dermaßen weit voraus, dass die Umsetzbarkeit seiner Theorien nicht gegeben war. Doch vermittelt sich über seine verschiedenen Ausdrucksformen, ob in der Architektur oder der Musik, der Versuch, universelle Formeln anzuwenden, statt kulturell sedimentierte ästhetische Kategorien zu bedienen. Xenakis wollte einen allgemeinen Ausdruck für die große Unordnung finden, die wir die Welt nennen. Er fand ihn in der absoluten Abstraktion des Lebens.