Nigel Yang nimmt sich bei seinen Antworten viel Zeit und oft, selbst wenn er eine Aussage macht, scheint am Ende seiner Sätze ein Fragezeichen zu stehen. Auch, wenn sich HTRK (gesprochen: Haterock) mit ihrem neuen Album »Psychic 9-5 Club« freigeschaufelt haben aus der zermürbenden Schwere und Hin- und Hergerissenheit, die sie seit Sean Stewarts Tod begleitet, geklärt ist längst nicht alles. Nigel Yang und Jonnine Standish bleiben getrieben von Ambivalenz: Das Gefühl, über den Tod ihres Freundes nicht nur getrauert, sondern auch erleichtert gewesen zu sein, ist ebenso Thema unseres Gesprächs wie die Erkenntnis, das ein gesunder Körper wichtig für den Geist ist, dass das die Anziehungskraft von Clubs und Drogen allerdings nicht schmälert.
Arbeiten
HTRKs Gegenwart ist umtriebig. Doch im Vergleich zu dem, was bereits hinter Jonnine Standish und Nigel Yang liegt, ist sie relativ ruhig. Denn Stewarts Selbstmord war nicht die einzige Zerreißprobe in der elfjährigen Bandgeschichte. Schon auf dem Wege dahin, ihr Debütalbum zu veröffentlichen, fingen für HTRK die Querelen an: »Marry Me Tonight« nahm die damals noch als Trio agierende Band 2006 gemeinsam mit der australischen Gitarren-Ikone Roland S. Howards auf. Doch das Album wird damals nicht veröffentlicht. Stattdessen folgten drei Jahre voller Rechtsstreits und illegaler Downloads. Noch 2006, nachdem »Marry Me Tonight« bereits im Kasten war, zog die Band nach Berlin. Es sollte eine destruktive Zeit werden: Drogen, kein Geld, Sprachbarriere. Standish und Yang erkannten, dass ihnen die Stadt nicht gut tut und zogen nach einem Jahr nach London.
Stewart folgte nur widerwillig. 2009 erschien schließlich HTRKs Debütalbum – und Roland S. Howards erlag dem Krebs. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete die Band bereits an ihrem neuen Album. Sie hatten bereits einige Songs fertiggestellt, gemeinsam mit Stewart, als dieser sich das Leben nahm. So ist »Work, Work, Work« ein Album geworden, das Stewarts Basslines durchziehen und auf dem gleichzeitig die verbliebenen Bandmitglieder dessen Tod aufarbeiten. »Natürlich war ich sehr traurig, aber ich hatte auch das widerstreitende Gefühl, mich einfach nur erleichtert zu fühlen. Die Zeiten mit Sean [Stewart], die ganze Dynamik zwischen uns dreien war ziemlich abgefuckt, ohne dass wir es bemerkt hätten. Die Erleichterung über seinen Tod war so ein unerwartetes Gefühl, das ich mit meinen Sounds, den Rhythmen und den Produktionen erforschen wollte«, erklärt Yang.»Die Zeiten mit Sean [Stewart], die ganze Dynamik zwischen uns dreien war ziemlich abgefuckt, ohne dass wir es bemerkt hätten. Die Erleichterung über seinen Tod war ein unerwartetes Gefühl.«
Nigel Yang
Zulassen
»Psychic 9-5 Club« erscheint schließlich 2014, drei Jahre nach »Work, Work, Work«. Es ist weiterhin das Ergebnis von Yangs und Standish Versuch, ihre Gefühle zu ergründen, nur dass diese jetzt leichter und unangestrengter sind. Aber Yang betont: »Die Durchbrüche, was unsere jeweiligen emotionalen Verfassungen angeht, kamen tatsächlich erst, nachdem das Album aufgenommen war.« So gibt »Psychic 9-5 Club« zwar keine Antworten, es liegt ihm keine emotionale Klarheit zu Grunde, jedoch aber die Wohltat, das Unklare einfach Unklar sein lassen zu können. Zulassen, dass am Ende der Sätze eben meist Fragezeichen stehen. Yang und Standish lernten, sich nicht mehr in ihren inneren Konflikten zu verbeißen und die Dinge wieder mehr auf sich zukommen zu lassen. So lernten sie auch Nathan Corbin kennen. Corbin gehört zu Excepter, einer experimentierfreudigen Band aus Brooklyn. Yang gefiel, was Corbin macht, er verfasste eine E-Mail, ob man etwas gemeinsam machen könne – doch sendete sie nie. HTRK und Nathan Corbin trafen sich schließlich doch. Zufällig während HTRKs US-Tour.
Die Chemie zwischen den dreien stimmte schnell; Corbin übernahm schließlich die Produktion für »Psychic«, auf dem HTRK sich erlauben auch mal einfach Melodien zu schrieben. Wo auf »Work, Work, Work« noch Industrial und Lo-Fi-Elemente die Emotionen und Strukturen teils verdeckten, da dürfen sie sich auf »Psychic 9-5 Club« frei entfalten, auf einem minimalistischen Club-Dub-Sound. »Dub wurde zu unserer und Nathans Leidenschaft, als wir gemeinsam in London lebten. Diese Rhythm & Sound-Fortdauer von Dub-Produktionen sind etwas, das wir wirklich lieben und auf unserem Album einfangen wollten«, sagt Yang.»In keinem unserer Songs gab es Liebe. Ich will, dass das so bleibt!«
Jonnine Standish 2011
Klarheit
Die Ruhe und Klarheit des Dub-Sounds, der schlafwandlerisch und endlos seine Bahnen zieht, kommt auch dem Gesang von Jonnine Standish zu gute. Auch sie lässt zu. Schweift einfach aus, verliert sich in beinahe mantrischen Wiederholungen (»this time I‘m gonna love you much better«) oder fließt von einer Assoziation zur nächsten. Sie schrieb ihre Songs, ohne ein Ziel im Kopf zu haben, gab z.B. x-beliebige Begriffe in Wikipedia ein, folgte den ›related links‹ und schnitt dann Textzeilen aus den Wiki-Einträgen zusammen. Standish ließ außerdem zu, über etwas zu singen, dass sie bis dahin vermied: die Liebe. Bislang ging es in ihren Texten höchstens um »Desire«. »In keinem unserer Songs gab es Liebe, ich will, dass das so bleibt!«, sagte Standish noch 2011 in einem Interview. »Psychic 9-5 Club« ist voll von Liebe. Natürlich nicht im klassischen Sinn, sondern eingebettet in moderne Konflikte (»Love Is Distraction«) und ohne eine endgültige Antwort zu dem Thema zu haben. HTRK wandeln sich weiter, die Fragen, die dabei aufkommen – sie stellen sie einfach. Und vielleicht leben sie so, frei nach Rainer Maria Rilke, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.