Grime, die lange Geschichte eines jungen Genres (Teil 2)

30.06.2015
Foto:Hans Arnold hhv.demag
In Teil 1 unseres Features haben wir zurück geblickt: Wo kommt Grime her, was ist Grime, wo war Grime zwischenzeitlich? Im zweiten Teil stellen wir fest, dass Grime wieder da ist. Und wie. Aber was macht diesen neuen Grime aus?

Eine dicht gedrängte Masse von hunderten Jugendlichen hat sich auf dem Platz unter einer Eisenbahnbrücke im Londoner Stadtteil Shoreditch versammelt. Vor ihnen thront MC Skepta mit einem massiven Soundsystem auf der Ladefläche eines Transporters. »We still haven’t been shut down?«, verkündet er nahezu verwundert in sein Mikrofon. Die Menge stimmt eintönig in seine Ansage ein: »Fuck the police!«. Er beginnt mit den ersten Zeilen seines Tracks »Shutdown« Das Publikum tobt, Skeptas Stimme und der Beat ertrinken nahezu in einem wilden Chor, der seine Texte lautstark mitsingt. Diese kraftvolle Szene sollte auch die letzten Kritiker überzeugen: Grime ist zurück.

Allen voran das Kollektiv Boy Better Know um die Brüder Skepta und JME. Auf ihrer Single »#ThatsNotMe« macht sich vor allem ihre inhaltliche Reife bemerkbar. Auch wenn Beat und Flow nahtlos an den rauen Straßencharakter des klassischen Grime anschließen, distanzieren sie sich in ihren Texten explizit von Gangsta-Klischees und negativen Vorurteilen. Damit nehmen sie den Vorwänden den Wind aus den Segeln, dass ihre Musikform automatisch mit Jugendgangs und Kriminalität verbunden sei. So ist JME bekennender Veganer und lebt vollkommen abstinent. Mit seinem Album »Integrity« konnte er dennoch oder auch gerade deswegen im Mai diesen Jahres direkt auf Platz 12 der UK Album Charts einsteigen.

Auch wenn die Rückkehr zum Style der alten Schule wieder auf große Nachfrage trifft, hat Grime sich in den letzten Jahren grundlegend verändert. Die antiautoritäre DIY-Kultur ist auf die kollektive Kraft von Internet und Social Media gestoßen. Waren es zu Beginn des Jahrtausends vor allem Pirate Radio Stationen und Mundpropaganda, die für eine wachsende Popularität sorgten, wurde diese Rolle nun von neuen Strukturen abgelöst.

Londons größter ehemaliger Pirate Radio Sender Rinse FM hat seit 2010 eine offizielle Sendelizenz und operiert somit ganz legal als Radiosender, Plattenlabel und Veranstalter für urbane Musik. Online-Plattformen wie Boiler Room sorgen für eine internationale Verbreitung der neuen Künstler und Tracks.

Die Szene ist dadurch nicht mehr ausschließlich auf die Stadtteile Süd- und Ost-Londons begrenzt. Auch auf der anderen Seite des Atlantiks trifft Grime auf prominente Unterstützung. Der Kanadier Drake hat mehrfach seine Anerkennung für Londoner MCs wie Wiley und Skepta verlauten lassen. Kanye Wests Vorführung seines neuen Songs »All Day« mit einer ganzen Garde von Grime MCs in schwarzen Hoodys und Tracksuits bei den Brit Awards stieß in diesem Zusammenhang jedoch nicht nur auf positives Feedback. So berichtete der Guardian, dass die Protagonisten hierdurch nach Ansicht einiger Reporter lediglich zu Statisten im Hintergrund degradiert würde.

Meta-Grime

Ein häufiger Kritikpunkt an der ersten Welle des Grime war vor allem der Mangel an musikalischen Innovationen und die Wiederholung der ständig gleichen Bilder und Motive in Formaten wie dem urbanen Musiksender Channel U. Die Charakteristik dieser Musikform konnte jedoch auch damals bereits kuriose Außenseiter oder genreübergreifende Musiker inspirieren. Der avantgardistische Dubstep-Produzent Shackleton ließ auf seinem ersten Release »Stalker« aus dem Jahr 2004 bereits unverkennbare Einflüsse der düsteren und scharfen Synth-Loops des Grime erahnen.

Auch das Label Keysound Recordings von Dusk + Blackdown erforscht ein Kaleidoskop aus musikalischen und visuellen Eindrücken der Stadt London abseits des touristischen West Ends. CCTV Kameras, Council Estates und dunkle Straßen bei Nacht prägen diese Eindrücke ebenso, wie die Klänge von UK Garage, Grime, Dubstep und der indischen Diaspora.

CCTV Kameras, Council Estates und dunkle Straßen bei Nacht prägen diese Eindrücke ebenso, wie die Klänge von UK Garage, Dubstep und der indischen Diaspora. Die Ästhetik hat sich nicht verändert. Aber sie ist nun nur noch schwerlich einem Genre zuzuordnen.

Ihr Debütalbum »Margins Music« von 2008 spiegelt diese Ästhetik wider, ohne eindeutig einem bestimmten Genre zugeordnet zu sein. Während Dusk + Blackdown ihr Label anfangs ausschließlich für ihre eigenen Releases konzipiert hatten, wendeten sie sich im Zuge ihres ersten Albums auch weiteren Künstlern zu. »Wir begannen damals darüber nachzudenken, warum wir das Label nicht erweitern, um es ein wenig umfassender zu gestalten. Wir bekommen jeden Monat hunderte Dubs zugesendet, von denen der Großteil gut genug ist um in unserer (Rinse FM) Sendung zu laufen. Wenn die meisten davon nicht veröffentlicht werden, dann verschwinden diese ganz einfach«, beschreibt Dusk in einem Interview mit dem Magazin Resident Advisor die gemeinsame Motivation.

Damit kreierten sie das passende Umfeld für MCs wie Trim oder den Newcomer Luke Benjamin die mit ihrem meditativen Spoken Word Stil ein klares Gegenstück zu den aggressiven und unverblümten Grime-MCs setzen. Trim veröffentlichte 2012 mit »Confidence Boost« sogar eine von James Blake produzierte harmonische Grime-Variation auf dem abenteuerlustigen Label R&S Records.

Doch auch abstraktere Beatmaker wie Logos haben bei Keysound Recordings ihren Platz gefunden. Mit seinem Video zu »Atlanta 96« stilisierte dieser geradezu einen reflektierten und introvertierten Meta-Grime. Ein zeitlupenartiger Rhythmus, der vollkommen ohne energiegeladene Raps auskommt, untermalt darin die ausschnitthaften Aufnahmen von menschenleeren nächtlichen Straßen und Council Estates.

Auf seinem Album »Cold Mission« reduzierte er diese fragmentarische Herangehensweise noch weiter auf eiskalte Skizzen kurz vor der Froststarre. Diese polyrhythmische und maschinelle Klangästhetik teilt Logos auch mit seinem sporadischen Kollaborateur Mumdance. Auf ihrer progressiven »Proto LP« bei Tectonic versetzen sie diese gemeinsamen Versatzstücke mit Einflüssen aus der Hardcore Rave Bewegung der frühen 90er Jahre.

Diese Kompromisslosigkeit zeichnet auch die weiteren breitgefächerten Projekte von Mumdance aus. Ob als Produzent für MCs wie Novelist und Jammer & Trim oder mit harten Anschlägen auf das Trommelfell in Zusammenarbeit mit dem Bristoler Dubstep-Pionier Pinch oder der New Yorker Hardcore Punk Formation Cerebal Ballzy Auf seinen musikalischen Schlachtfeldern sind die Beats kantig und gebrochen und fügen sich nur selten widerstandslos in die persönliche Komfortzone ein.

Rave parties killed the rap-star

Innerhalb der neuen Grime-Szene hat der lyrische Aspekt merklich an Bedeutung verloren. Eine ganze Reihe von Künstlern konzentriert sich vornehmlich auf den instrumentellen Teil der Musik und deren Clubeinsatz. »Ich glaube, dass die MC-gesteuerte Herangehensweise bei den Raves deshalb nachgelassen hat, da diese nicht immer tragfähig ist. Ein guter MC kann in der Booth oder auf der Bühne die Energie bedeutend steigern, aber es gibt nur wenige wirklich gute Rave-MCs. Wenn lediglich eine Reihe von Leuten auf der Bühne stehen, die dich anschreien, wird es schwer, dazu zu tanzen«, fasst Slackk diesen Zusammenhang in unserem Interview zusammen.

Die zunehmend cluborientierte Produktionsweise zeigt sich auch in der Produktionsweise von Wen, der nur gelegentlich auf eine direkte Beteiligung von MCs zurückgreift. Stattdessen wendet er sich dem gezielten Einsatz von kurzen Sprachsamples zu. Auf seiner »Commotion EP« und dem Album »Signals« dirigieren diese durch ein düsteres Dub-Klangfeld und wabernde Basslines.

Es hallen Synthesizer-Melodien, Chor-Gesänge, polyrhythmische Drums undr Schussgeräusche wider.

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Weitaus sphärischer und breitflächiger gestaltet sich dies bei Visionist und Fatima Al-Qadiri, welche die Stilistik des Mikro-Genres »Sinogrime« aufgegriffen und weiterentwickelt haben.

Grime wird zunehmend instrumental. Der Londoner Visionist bastelt akustische Hohlkörper, in denen verhaltene Synthesizer-Melodien, Chor-Gesänge, polyrhythmische Drums oder Schussgeräusche widerhallen. Dabei überschreitet er mit seinen Veröffentlichungen bei dem New Yorker Juke/Footwork-Label Lit City Trax den Berliner Experten für ausgefallene Tanzmusik von Leisure System oder der Suffolker Experimentierstube Ramp Recordings sämtliche örtlichen und stilistischen Hürden.

Fatima Al-Qadiris Sound klingt so kosmopolitisch wie ihre Herkunft. Geboren in Senegal, aufgewachsen in Kuwait und mittlerweile in New York ansässig, gibt sie auf ihrer »Desert Strike EP« eine abstrahierte klangliche Reflexion des gleichnamigen Computerspiels aus den frühen 90ern wider. Auf ihrem Konzept-Album »Asiatisch« bei Hyperdub begibt sie sich hingegen auf eine ganz persönliche imaginäre Reise durch die chinesische Pop-Kultur. Die Kollaboration dieser beiden originellen Künstler auf dem Track »The Call« offenbart jedoch, dass sie damit zwei Seiten derselben musikalischen Medaille darstellen.

Neue Club-Musik mit den Mitteln der Grime-Pioniere

Inwiefern finden sich jedoch Produzenten und MCs mit dermaßen unterschiedlichen Ansätzen innerhalb der neuen Grime-Szene zusammen? Einen entscheidenden Beitrag für diese vorwiegend instrumentelle Herangehensweise leistet das Label und die Rinse FM-Sendung Butterz oder die Boxed Clubnight welche von Slackk, Mr. Mitch, Logos und Oil Gang veranstaltet wird.

Das Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Verbindung von Elementen der frühen Grime-Pioniere und den aktuellen Entwicklungen in der Clubmusik. »Meine Lieblingsproduzenten wie Wiley oder Waifer verwendeten größtenteils ältere Synthesizer wie den Korg Triton und Rechteckschwingungen. Daher habe ich vor allem zu Beginn dieses Klangbild mit den heutigen Kompressoren nachgeformt. Mittlerweile vertraue ich aber zunehmend in meine eigenen Sounds und suche nach neuen Wegen«, berichtet Slackk von seiner musikalischen Prägung. Dieser ästhetische Wandel lässt sich anhand seiner Veröffentlichungen bei Local Action wie der »Raw Missions EP« oder dem Album »Palm Tree Fire« und seinem aktuellen Track »Bells« treffend nachvollziehen.

Auch wenn es hierdurch zunehmend schwerer wird, den neuen Grime eindeutig von anderen Musikrichtungen abzugrenzen, gehen daraus spannende Möglichkeiten hervor. So zeigt sich mittlerweile ein wachsendes Interesse von etablierten Independent-Labels aus dem elektronischen Bereich an den zukunftsweisenden Sounds. Veröffentlichungen wie Mr. Mitchs Album »Parallel Memories« bei Planet Mu, Rabits »Baptizm EP« bei Tri-Angle oder eben Slackks »Backwards Light EP« bei R&S Records unterstreichen dieses Potential.

»We still haven’t been shut down.« Eine nie dagewesene musikalische Freiheit und Experimentierfreude hat Grime wiederbelebt und ihn einer neuen Generation zugänglich gemacht.

Im bereits letzte Woche veröffentlichten 1.Teil unseres »Grime Revisited«-Reports lest ihr, wie alles angefangen hat.