Grime, die lange Geschichte eines jungen Genres (Teil 1)

23.06.2015
Foto:Hans Arnold hhv.demag
Grime ist wieder da. Aber wo war er zwischenzeitlich? Und wo kommt er her? In Teil 1 unsreres Grime-Specials begeben wir uns auf Spurensuche: der Weg führt von Piratenradiostationen über den Typ in der Ecke direkt in die Charts.

Die verwinkelten Strukturen eines Süd-Londoner Sozialwohnungskomplexes bei Nacht.
Eine verwackelte Handkamera durchstreift die kantigen grauen Strukturen und tunnelartigen Unterführungen. Novelist posiert darin im schwarzen Hoodie und Nike-Cap. In selbstbewusstem und dominantem Tonfall trägt er abgeklärte Reimstrukturen über einem rauen, polyrhythmischen Beat vor. Postcodes, Dough, Zoots und der Stadtbezirk Lewisham sind das Thema.

Zu Beginn des Jahres ließ das Musikvideo zu »1 Sec« von Novelist x Mumdance urbane Musikfans aufhorchen. Der energetische Flow des gerade einmal 18-jährigen Newcomers und die kompromisslose Produktionsweise von Mumdance brachten frischen Wind in die britische Beatmaker-Kultur. Doch hatte man ähnliche Muster schon einmal beobachten können. Grime ist im großen Stil zurückgekehrt. Neben Mumdance und Novelist haben zahlreiche weitere Produzenten, MCs und DJs wie Logos Slackk, Mr. Mitch ,Visionist oder Wen die Merkmale dieses Genres aufgegriffen und es auf individuelle Weise in aufregende und neuartige musikalische Formen transformiert.

Doch wo kommt Grime (engl. für Schmutz, Dreck) eigentlich her? Und warum ist diese Musikrichtung in den vergangenen Jahren so sehr aus dem Blickfeld verschwunden, dass man gerade von einer Wiedergeburt sprechen kann? Um dies herauszufinden, müssen wir uns zeitlich zurück an den Beginn des neuen Jahrtausends begeben.

Der bissige Hybrid aus dem Brutkasten

Dort entstand im Rahmen des »Hardcore Continuum« in London ein Musikhybrid, der in den 2-Step genannten Rhythmen des UK Garage wurzelte. Dieser zeichnete sich durch eine bewusste Distanzierung vom klassischen Hip Hop oder dem charttauglichen UK Garage der So Solid Crew aus. Anstelle von Samples und einem entspannten Vibe verwendeten die Produzenten scharfe Synths und harte, gebrochene, Beatstrukturen. Die MCs präsentierten sich wortgewandt und schlagfertig und versetzten ihre Einflüsse aus Ragga, Crunk, Dub, Jungle und Gangsta Rap mit dem selbstsicheren Blickwinkel der schwarzen Diaspora südlich und östlich der Themse.

Dies konnte auch einen maßgeblichen Eindruck auf Kode9 hinterlassen, der zu dieser Zeit das experimentierfreudige Label Hyperdub für neuartige Dub-Formen gründete. In der einflussreichen BBC Radio 1 Show Breezeblock betonte er die enge Verwandtschaft zwischen Grime und dem frühen UK Dubstep: »Ich bin sehr stark von Grime beeinflusst worden. Was ich darin gehört habe, ist die Energie, die sich aus der Kombination von sehr reduzierten Beats und den darüberliegenden Vocals ergibt. Es ist kein Sound, den man in seinem Schlafzimmer hören sollte, sondern auf dem größten Soundsystem, das man bekommen kann.«

Grime existierte zu dieser Zeit vor allem in der verborgenen Subkultur der Pirate Radio Stations. Während diese illegalen operierenden Sendestationen in den 1990er Jahren die Jungle und Rave-Szene entscheidend geprägt hatten, konnten sie zu Beginn des Millenniums durch Formung der UK Garage- und Grime-Szene die Ohren der Zuhörer aus den angrenzenden Stadtteilen auf sich ziehen.

»Es ist kein Sound, den man in seinem Schlafzimmer hören sollte, sondern auf dem größten Soundsystem, das man bekommen kann.«

Kode 9

Insgesamt operierten damals bis zu 150 Piratensender überwiegend im Großraum London. »Pirate Radio ist ein Brutkasten, in dem neue Musikformen mutieren« beschreibt der Journalisten Matt Mason (vgl. Steve Goodmans »Sonic Warfare«, S. 181) dieses britische Phänomen. Seinen Schätzungen zufolge zogen diese Sender zeitweise bis zu 10 Prozent der Radiohörer auf sich. Der Produzent und DJ Slackk zählt Deja Vu, Freeze, Top FM und vor allem Rinse FM zu den damals wichtigsten Pirate Radio Stationen für Grime.

Mangels professioneller Alternativen erfolgte auch die Verbreitung der Schallplatten und Releases im Rahmen einer improvisierten Mailorder-Kultur. »Die meisten Crews pressten ihre eigenen Vinyls. Es gab also nicht viele Labels im eigentlichen Sinn. Jede Crew hatte vielmehr einen eigenen Katalog von Releases. Es gab ebenfalls viele DVD-Veröffentlichungen mit Freestyles und Radio-Mitschnitten« berichtet uns Slackk von seinen damaligen Erfahrungen. Zu den bekanntesten Kollektiven zählt die 2002 von Wiley ins Leben gerufene Roll Deep Crew Mit Flow Dan, Skepta, Jammer und auch Dizzee Rascal bot die Gruppierung über die folgenden Jahre hinweg zahlreichen prominenten Vertretern dieser neuen Musikbewegung vorübergehend ein neues Zuhause.

Hoodies, Hats & Council Estates


Mit Dizzee Rascals bahnbrechendem Debütalbum »Boy In Da Corner«, bei dem bis dahin hauptsächlich für Indierock bekannten Label XL Recordings erlangte Grime 2003 erstmals auch außerhalb dieser subkulturellen Szene Bekanntheit. Der gerade einmal 17-jährige MC und Produzent stieß darauf mit cleveren, ungehobelten Texten und kantigen, rauen Garage-Beats den Pop-Mainstream vor den Kopf.

Der »Boy In Da Corner« erobert erst die London Bridge – und dann die Charts.

Während er im Video zu »Jus’ A Rascal« auf einem Boot auf der Themse die Ikonen des Londoner Westends wie die Tower Bridge oder das London Eye symbolisch eroberte, war er mit diesem Album vom Londoner East End in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Die sperrige Mischung verschaffte ihm sowohl bei den Kritikern als auch bei den Hörern eine bedeutende Anerkennung, mit einer Spitzenposition auf Platz 23 der UK Album Charts und dem Gewinn des renommierten Mercury Prize im selben Jahr.

Das neue Genre wurde auf einmal lebhaft in der Musikpresse diskutiert. Es hatte sich allerdings noch kein allgemein anerkannter Name dafür durchgesetzt. Ein Umstand, den Wiley auf seinem ersten Album »Treddin’ On Thin Ice« im darauffolgenden Jahr mit dem energiegeladenen Track »Wot Do U Call It?« direkt ansprach. Nicht Garage, Urban oder 2-Step, sondern Eskibeat sei die richtige Bezeichnung, stellte der zeitweise auch unter dem Synonym Eskiboy tätige MC darin klar.

Das Album klingt durch die Verwendung von charakteristischen Electro-Sounds des Korg Triton Synthesizers und die bedachtsamen, auf dominante Weise vorgetragenen Lyrics erwachsener und etwas polierter als Dizzee Rascals Debüt. Obwohl der Platte kein vergleichbarer Erfolg wie »Boy In Da Corner« zuteil wurde, hat »Treddin’ On Thin Ice« einen maßgeblichen stilistischen Einfluss auf die Szene hinterlassen.

Vor allem im Rahmen der medialen Berichterstattung etablierte sich schließlich die Bezeichnung »Grime«. Im Zuge dieser unverhofften Popularität rückten weitere Künstler mit unterschiedlichen Ambitionen ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Kano übernahm auf seinem Album »Home Sweet Home« und der Single »P’s And Q’s« 2005 die prollige Representer-Attitüde des amerikanischen Gangsta-Rap. Auch Lethal Bizzle wandte sich mit seinem Track »Fire« deutlich den R’n’B-Einflüssen aus Übersee zu. Auf der anderen Seite betonten Crews wie die Newham Generals oder das von den Brüdern JME und Skepta geformte Label Boy Better Know das ernsthafte Potential und die lokale Verwurzelung ihrer düsteren Klangräume.

Die unabhängige Produktionsweise und alternativen Vertriebswege der kleinen Independent-Labels, die aus der Szene hervorgegangen waren, boten zahlreichen jungen Künstlern neue Möglichkeiten für ihre eigenen Beiträge. Dadurch verlieh Grime der urbanen englischen Musik eine eigene Identität fernab der US-amerikanischen Vorbilder.

Sowohl in den Texten, als auch in den Videoclips spiegelte sich eine Ästhetik, die ihren unverkennbaren Ursprung in der englischen Hauptstadt hat. Neben Tracksuits, Hoodies und Caps spielten vor allem die Council Estates in Süd- und Ostlondon eine entscheidende stilistische Rolle. Die Grime-Battles und Konflikte um Postcodes, Herkunft und Bezirke verdeutlichen sich explizit in Wileys Track »Bow E3« oder dem Video zu Dizzee Rascals »Graftin’«

Raus aus der Ecke, rein in die Bedeutungslosigkeit


Ab 2008 gab es einen merklichen Wandel in der Grime-Szene. Dizzee Rascal wandte sich durch Kooperationen mit Calvin Harris oder Armand van Helden auf »Tongue N’Cheek« zunehmend der Pop-Musik zu. Auch Wiley und seine Role Deep Crew versuchten sich zumindest vorübergehend an leichterem, Mainstream-tauglichem Material.

Zeitgleich geriet Grime jedoch im Zuge von Berichten über kriminellen Jugendgangs und die damit verbundenen »Postcode Wars« zwischen verschiedenen Stadtteilen und Council Estates ins Kreuzfeuer der Medien.

Grime ist populär. Und gleichzeitig im Kreuzfeuer der Medien.

Die London Metropolitan Police konterte mit einer Auflage unter dem Titel »Form 696«, welche sich vor allem gegen Londons unabhängige Clubkultur richtete. Demnach müssen sämtliche Veranstalter mindestens 14 Tage vor einem Konzert sämtliche Namen und Adressen aller teilnehmenden Künstler sowie den Musikstil und die erwartete Zielgruppe an die Polizei übermitteln. Falls sie dem nicht folge Leisten, kann ihnen die Lizenz für die Veranstaltung entzogen werden.

MC Jammer berichtet in einer Noisey Dokumentation von einem vorsätzlichen Versuch des Racial Profiling, der mit dieser gravierenden Einschränkung des Veranstaltungsrechts einhergeht: »Was die Polizei hierdurch macht, ist falsche Stereotype festzulegen. Sie behaupten, dass die englische Underground-Musik mit Veranstaltungen in Clubs mit DJs und MCs eine Gefahr darstellt. Wir sind professionelle Musiker und dies ist ein professionelles Geschäft für uns. Daher bin ich fest davon überzeugt, dass dieses Formular rassistisch ist.«

In der Zeit zwischen 2008 und 2012 flachte das öffentliche Interesse an Grime merklich ab. Die schroffen Raps und Electro-Beats inspirierten jedoch eine ganze Reihe junger Künstler auch über die Grenzen Londons und Englands hinaus. Vor allem das Internet eröffnete ihnen dabei internationale Marketing- und Vertriebsmöglichkeiten. In welcher Form diese neue Generation den Stil und die Merkmale dieses Genres wahrnimmt, verarbeitet und weiterentwickelt, könnt ihr im zweiten Teil unseres Grime-Reports lesen.