Frühling 2016, ein Sonntagabend in der Hauptstadt. Fredrick Tipton zieht die Sturmhaube auf. Sativa-gesegnet verlässt er die heiligen Hinterräume der Ostberliner Karibikenklave Yaam und stellt sich der tobenden Menge. Jubel. Dann eine gute Stunde Kampfsport. Oberkörperfrei rappt sich ein maskierter Freddie Gibbs abwechselnd durch das Dickicht von Sample-Schamane Madlib und die Hi-Hat-Salven seiner Haus- und Hofproduzenten Pops und Speakerbomb. Wieder Jubel. Und dann zieht Freddie blank. Das Gesicht des Babyfacekilla ziert ein schelmisches Lächeln; die Gefahr, mit der das rappende Sixpack eine Stunde lang eindrucksvoll kokettierte, ist mit einem Mal verflogen. Nichts als Liebe für und von dem ehemaligen Kleinganoven, den es aus dem nichtssagenden Indiana – auf der US-Rap-Karte schlichtweg ein blinder Fleck – in die Welt zog, um Unabhängigkeit im schnelllebigen Rap-Business neu zu denken. Bis anderthalb Wochen später eine erschreckende Meldung eintrudelt.
Schauplatz Toulouse: Freddie ist auf dem Weg zur nächsten Station seiner Shadow-of-Doubt-Tour, dem Rex Club, als er von einer ganzen Mannschaft bewaffneter Beamten vor der Drehtür des Hôtel de Brienne abgefangen wird. Nächster Halt: Justizvollzugsanstalt. Freddie Gibbs wird des sexuellen Missbrauchs bezichtigt. Ein Vorfall, der sich bereits 2015 in Wien ereignet haben soll, führt zum europäischen Haftbefehl: Nach seiner Show in der Grellen Forelle soll der Rapper zwei Minderjährige auf sein Hotelzimmer eskortiert, unter Drogen gestellt und sexuell missbraucht haben. Gibbs verbringt zwei Wochen in U-Haft, investiert fünfzig Riesen in seinen Freigang, darf aber die Stadt Toulouse nicht verlassen; zur Sicherheit behält man seinen Pass ein. Als der Angeklagte freiwillig eine Anhörung in Österreich anberaumt, steht Aussage gegen Aussage. Gibbs scheint den Kürzeren zu ziehen, das Gericht winkt ihm mit zehn Jahren Haft. Es braucht daraufhin elf verschiedene Anwälte, Verhandlungen mit verschiedenen Urlaubsvertretungen auf Seiten der Richterbank und das Durchbrechen etlicher Sprachbarrieren, bis sich die Beweislage verdichtet und das Gericht festhält, wofür Gibbs von Anfang an plädiert hat: dass er an dem Vorfall nicht teilgehabt haben könne – stattdessen sei ein ehemaliger Freund, den Gibbs mit auf Tour nahm, mit den Frauen in Kontakt gewesen. Auf welche Art, bleibt bis heute ungeklärt.
Zurück in Los Angeles, der Stadt, in der Freddie Gibbs seit einigen Jahren zuhause ist, siebt er aus. Seinen Freundeskreis schrumpft er auf loyale Langzeitgefährten herunter, aus hunderten von beschriebenen Blättern filtert er die wertvollsten Zeilen für das, was im April 2017 erstmals in den USA erscheint: »You Only Live 2wice«, ein kompaktes und kohärentes Release, auf dem sich Gibbs selbst übertrifft. Wie »You Only Live 2wice« zeigt, wurde die Justizanstalt Josefstadt auf tragisch-unfreiwillige Weise zum kreativen Brutkasten für die greifbarsten Geschichten von Gangsta Gibbs. Auf dramatischen Streichern und souligen Keys erzählt der ehemalige Straßenticker eindrückliche, semi-biografische Crackküchen-Annekdoten mit der Rotznäsigkeit, die ihm vor einigen Jahren seinen Platz im Game sicherte. Vor allem aber erzählt das Album auch ganz konkret von der Konfrontation mit institutionellem Rassismus; von dem Gefühl der Ungerechtigkeit, das einer erleidet, der fälschlicher Weise zwischen Skins und Sexualstraftätern eingepfercht ist – und dessen selbstgemachte Karriere damit auf dem Spiel steht.
»Kein Mensch will mit jedem Track von dir hören, wie großartig du bist«, hielt Gibbs vor einigen Jahren im Interview mit dem XXL Magazin fest. Stattdessen seien es die eigenen Makel und Unsicherheiten, die eine Figur wirklich greifbar machen. Und so widmet Fredrick Tipton der Persona Freddie Gibbs mit »You Only Live 2wice« ein weiteres Kapitel seines offenen Buches – etwa wenn sich die hood rat als Leseratte outet und die Geschichte von ihrer Freundin Erica Dickerson erzählt, die unmittelbar über den großen Teich flog, um dem Mangel an englischsprachiger Literatur im austrischen Vollzug Abhilfe zu schaffen. Konkret beeinflusst hätten ihn während seiner Haft die Biografie von George Clinton sowie Literatur großer historischer Bürgerrechtler, wie Freddie im Interview mit Complex verrät. Die Predigten von Louis Farrakhan sollen gar zu ganzen Drehbüchern geführt haben, die während der Inhaftierung entstanden – vor dem inneren Auge läuft bereits die sechste Staffel von »The Wire« ab.