Schwer zu sagen, wie es ohne Joe Davis um den Status und die Bekanntheit brasilianischer Musik international bestellt wäre. Höchstwahrscheinlich sehr viel schlechter: Denn der britische DJ, Producer und Musikenthusiast setzt sich seit nunmehr 26 Jahren mit seinem Label Far Out Recordings unermüdlich für die Verbreitung der brasilianischen Musikkultur ein – unzählige Hörer sind durch Davis erstmals mit ihr in Berührung gekommen, brasilianische Acts wie Azymuth Joyce oder Marcos Valle die nach bedeutenden Alben in den 1960er und 1970er Jahren für die Wahrnehmung der Weltöffentlichkeit mehr oder weniger in Vergessenheit gerieten, verdanken ihm ihre internationale Wiederentdeckung und eine zweite globale Karriere.
Ihren Ursprung hat Davis’ Leidenschaft für brasilianische Musik in seiner Tätigkeit als DJ. Umgeben von der Plattensammlung seines 15 Jahre älteren Bruders, sei er von früher Jugend an mit Soul, Jazz und Funk aufgewachsen, meistenteils US-Importe von Pressungen aus den Sechzigern und Siebzigern, erzählt uns der rührige Labelbetreiber, als wir ihn im Homeoffice seiner Wohnung im West-Londoner Stadtteil Ealing erreichen. Gilles Peterson mit dem er zur Schule ging, Paul Murphy und Norman Jay waren die prägenden Figuren jener Zeit. Ab Mitte der 1980er Jahre kam es, später unter der Bezeichnung Acid Jazz greifbar gemacht, zu einem enormen Popularitätsschub der Rare-Groove-Szene, und infolge dessen zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung, in der ein Stil-Revival das nächste jagte: »Sechs Monate lang spielten alle Boogaloo, darauf folgte ein halbes Jahr, in dem alle deepen Trip-Hop auflegten, dann eines, in dem alle Fast Fusion spielten, dann kam Salsa dran«, erinnert Davis.
Gegen 1990 habe das Genre-Karussell dann Brasilien erreicht. Da hatte sich Davis längst schon den Ruf eines Brazil-Experten erworben. Bereits 1985 stieß er auf einen Brasilianer, der in São Paulo einen Plattenladen namens Eric’s Discos betrieb. Anfänglich habe er telefonisch bestellt (»sehr zum Leidwesen meines Vaters, wenn die Telefonrechnung kam«), ein Jahr später sei er erstmals nach São Paulo geflogen – noch minderjährig und ohne ein Wort Portugiesisch zu sprechen – und habe buchstäblich drei Wochen im Lager über dem Shop verbracht: »Ich saß da mit einer Packung Zigaretten und einer Dose Guaraná und habe mich durch Tausende von Platten gehört: Das Lager wirkte eher wie eine Bibliothek oder ein Warenhaus – teilweise hatte er dort hunderte von Kopien obskurer Pressungen gehortet.«
In den folgenden Jahren entwickelt sich aus dieser Geschäftsbeziehung ein schwunghafter Handel, vor allem, nachdem die Brazil-Welle richtig Fahrt aufnahm: Kaum ist Davis in London angekommen und hat die mal im Postversand, mal im Handgepäck importierten Platten an den Mann gebracht, sitzt er auch schon wieder im Flugzeug nach São Paulo. Hunderte von Flügen habe er zwischen 1990 und 1994 absolviert, schätzt Davis.
Mitte der Neunziger stellte sich das Gefühl ein, dass er »so gut wie alles entdeckt hatte, was es an brasilianischer Musik, die mich interessiert, zu entdecken gab«, so Davis. Gleichzeitig erhielt er Anfragen von Labels wie Blue Note Talkin’ Loud und Soul Jazz Compilations mit brasilianischer Musik zu kuratiren. Anthologien wie »Brazilica!« und »Blue Brazil« wurden zu maßgeblichen Blaupausen, die hierzulande in der seinerzeit als bahnbrechend empfundenen »Brazilectro«-Reihe rasch ihre Entsprechung fanden. Tatsächlich bedienten und verstärkten diese nicht nur das Interesse an älterer brasilianischer Musik, sondern brachten auch eine ganze Generation von Novelty-Acts wie De-Phazz, Jazzanova oder das Trüby Trio hervor, die klassische lateinamerikanische Samba-, Batucada- und Maracatu-Rhythmen mit elektronischen Sounds verschränkten.
»Meine Intention mit dem Label war von Anfang an, den Schöpfern dieser Musik etwas zurückzugeben.«
Joe Davis
Der Lokführer, auf dessen Zug all diese Producer aufsprangen, war Joe Davis. Mit seinem 1994 gegründeten Label Far Out Recordings beheimatete der heute 51-Jährige von Anfang an das Epizentrum der Brazil-Craze. Neben neuen Alben von Azymuth, Joyce, Marcos Valle, Arthur Verocai The Ipanemas, Sabrina Malheiros, Clara Moreno und Binario releaste Joe Davis auch von brasilianischer Musik inspirierte Produktionen von Künstlern wie Theo Parrish Mark Pritchard 4hero Dego, Andres Marcellus Pittman, Kirk Degiorgio, Nicola Conte, Henry Wu und Rick Willhite Insbesondere bei den Remix-Projekten richtet Davis stets auch mindestens ein Ohr auf den Dancefloor.
Mit Reissues wie im Fall von Milton Nascimento oder Roberto Quartin sei er tendenziell eher zurückhaltend: »Das muss schon ultrarares Zeug sein, das entweder total unbekannt, kaum erhältlich oder tatsächlich nie veröffentlicht worden ist«, erklärt Davis seine Veröffentlichungspolitik. Dennoch ist bei insgesamt über 300 Releases über die Jahre ein stattlicher Katalog an MPB-Wiederveröffentlichungen zusammengekommen. Was ihn an der brasilianischen Musik der 1960er und 1970er Jahre fasziniert? »Ihr durch die Mischung unterschiedlicher – afrikanischer, europäischer, amerikanischer – Musikkulturen entstandener Reichtum, ihre rhythmische, melodische und harmonische Sophistication«, sagt Davis. Der These, dass diese spezifische Qualität auch durch die politischen Rahmenbedingungen verursacht sein könnte – schließlich war Brasilien seinerzeit eine Diktatur –, dass die Künstler in ihren Texten, aber auch in ihrer Musik eine Art Code entwickeln mussten, um unter dem Radar der Zensur durchzukommen, stimmt Davis vollumfänglich zu.
Nachdem sich Far Out zwischenzeitlich auf CDs konzentriert hatte, liegt der Fokus des Labels nunmehr wieder auf der Vinylproduktion. Ungefähr die Hälfe seines Tonträgerumsatzes entfalle auf den Digitalbereich, meint Davis, doch das schwanke von Monat zu Monat. Ohnehin stehe der kommerzielle Aspekt für ihn bei Far Out nicht im Vordergrund: »Am meisten verdient habe ich, als ich noch alte Platten verkauf habe. Meine Intention mit dem Label war von Anfang an, den Schöpfern dieser Musik etwas zurückzugeben.« Dass momentan keine Tourneen möglich sind, sei »ein Alptraum«, sagt Davis, die Labelarbeit leide zum Glück weniger unter der Pandemie. Derzeit sei er damit beschäftigt, den Release-Schedule für 2021 anzupassen. Allzu viel möchte er dazu noch nicht verraten. Ein neues Album von Arthur Verocai sei jedoch auf jeden Fall in Planung.