Erlend Øye über Scheitern, Beharrlichkeit und das Heimischwerden im Neuen

05.09.2024
Auf Englisch und Italienisch singt der im norwegischen Bergen geborene Musiker Erlend Øye auf »La Comitiva«. Sein neustes Album hat er mit drei italienischen Musikern aufgenommen. Bekannt wurde der 48-Jährige mit seinen Bands The Whitest Boy Alive und Kings of Convenience. Seine musikalische Vielfalt sammelte er sich in der Welt zusammen.

Eines fällt beim Gespräch mit Erlend Øye besonders auf: seine Offenheit und Neugier. Für ihn gibt es keinen Standard, kein ›normal‹. Immer wieder verweilte er an Orten, lernte Menschen kennen, die er später wiedertraf. Er ließ sich vom Unbekannten inspirieren. Bewegte sich stets mit offenen Augen und Ohren durch die Welt. Reiste als Autodidakt durch Musikstile und Sprachen. Einige Verbindungen, die er an Orten knüpfte, ließen ihn bleiben.
Erlend Øye war ein Networker, bevor der Begriff etabliert war.

Das Gespräch mit ihm im Juli findet auf Zoom zwischen Italien und Norwegen statt. Allerdings sitzt nicht der Norweger in seinem Geburtsland, sondern die Interviewende. Und Erlend Øye fordert sie prompt auf, kurz rauszugehen und ihre die Landschaft zu zeigen. Ein Gespräch über Durchhaltevermögen, Selbstvertrauen und den Mut, sich immer wieder neu zu erfinden.


Erlend, du hast an vielen Orten gelebt und verschiedene Musikprojekte realisiert. Welchen Rat würdest du deinem jüngeren Ich geben?
Erlend Øye: Wenn du dich für etwas interessierst, dann mach es lange. Hältst du durch, wirst du großartig werden. Bei Musik wusste ich, dass sie mich niemals langweilen würde.

Warum ist Beharrlichkeit so wichtig?
Wer etwas angeht, wird selten in nur einem Jahr erfolgreich. Wer dann aufgibt, wird nie die Möglichkeit haben, das potenziell großartige zweite Jahr zu erreichen. Man wächst hingegen immer weiter, wenn man nie aufhört zu lernen.

Aber woher weiß man, ob es sich lohnt, weiterzumachen?
Man sollte selbstkritisch sein, sich selbst objektiv beurteilen. Und sein Umfeld dazu ermutigen, ehrlich zu sein. Es ist besser, zu hören, dass das, was man tut, nicht gut ist, als in Illusionen zu leben. Damals in Bergen, wo ich aufgewachsen bin, war die Feedback-Kultur großartig. Ich war von Ehrlichkeit umgeben.

Wie bist du in Bergen zur Musik gekommen?
Einige Klassenkameraden hatten Gitarren. Ich dachte, das könnte auch mir Spaß machen. Deshalb habe ich mir mit 16 Jahren meine erste Gitarre gekauft. Niemand in meiner Familie war musikbegeistert, was sehr schön war. Weil ich mir deshalb alles selbst beigebracht habe. In meiner Heimatstadt gab es viele Möchtegern-Musiker. Wir lernten voneinander und verbrachten unsere Freizeit damit, Songs zu schreiben und Bands zu gründen. Wir verbesserten uns im Tun, anstatt eine Musikschule zu besuchen. Damals habe ich mit Eirik Glambek Bøe gespielt, mit dem ich später Kings of Convenience gegründet habe.

Welche Musik hast du damals gehört?
Hauptsächlich norwegische Bands. Ich war auch Pink Floyd-Fan und inspiriert von den ersten akustischen Platten des Künstlers Beck. Aber Norwegen war in den 1990er-Jahren ziemlich isoliert. Nur wenige Bands kamen hierher. Das Musikszene war in sich geschlossen. Wir beobachteten und diskutierten lokale Künstler. Große Namen wie Nirvana kamen nicht hierher.

»Damals kam aus Bergen bessere Musik als aus Berlin. Das hat mich überrascht.«

Erlend Øye

Was hat dich in dieser Musik-Bubble in Norwegen inspiriert?
An einem Abend besuchte ich das Akustikkonzert einer Band aus Bergen. Beeindruckt haben mich die harmonischen Klänge, die sie erzeugten. Ich wollte lernen, wie man das macht. Ein anderer meiner frühen Mentoren war ein Chilene, der in Norwegen aufgewachsen ist. Er überzeugte mich davon, dass eine saubere E-Gitarre, die direkt in einen Verstärker gesteckt wird, ohne jegliche Verzerrung und ohne Echo sehr schön klingt. Dieser Einfluss hat später den Sound von The Whitest Boy Alive geprägt.

1997 hast du Bergen verlassen.
London schien der richtige Ort zu sein, um noch mehr über Musik zu lernen. Damals war es die Musikhauptstadt Europas.

Vor welchen Herausforderungen standest du, als du dorthin zogst?
Ich kannte niemanden aus der Musikindustrie. Bildlich gesprochen waren die Türen für mich verschlossen, ich musste die Türen aufbrechen. Ich wohnte umsonst bei Freunden, aber das war keine Dauerlösung. Dann mietete ich für sechs Wochen ein kleines Zimmer. Um Weihnachten herum habe ich auf einem Markt gearbeitet und Kleidung verkauft, aber es kamen nur wenige Kunden. Mein Chef konnte mich nicht weiterbeschäftigen. Ich war pleite und verließ London, ohne meine Miete zu bezahlen. Als ich in Manchester ankam, traf ich die Bandmitglieder von Alfie. Die Zeit mit diesen Künstlerin war eine großartige musikalische Ausbildung.

Wann war dein persönlicher Durchbruch?
Nach meiner Zeit in England ging ich zurück nach Norwegen. Dort nahmen wir 1999 mit Kings of Convenience eine Demo auf und schickten sie an Kontakte, die ich in England geknüpft hatte. Wir bekamen einen Plattenvertrag. Und die Platte hat uns in Europa bekannt gemacht.

Dann kamen Live-Auftritte.
Das Touren begann eher als Side-Hustle, entwickelte sich jedoch mit der Zeit zu einem Hauptbestandteil meiner Karriere. Man kann die gute Chemie zwischen den Bandmitgliedern auf einer Platte hören und auf der Tournee sehen. Bei all meinen Bands habe ich das Gefühl, dass sich die Versionen der Songs weiterentwickelt haben, weil wir uns vor einem Konzert selten nochmal das Original anhören, sondern sie einfach so spielen, wie wir sie in Erinnerung haben.

Ungefähr zwei Jahre später hast du beschlossen, nach Berlin zu ziehen. Warum?
Im Jahr 2002 zog einer meiner norwegischen Freunde aus Berlin weg und bot mir dort seine Wohnung an. Ich hatte einen Plattenvertrag und somit Geld. Ich konnte mir die Miete leisten. Damals gab es noch wenig Internet. Ich musste Wege finden, Menschen kennenzulernen. Also bin ich einfach herumgelaufen und habe Leute getroffen. Ich habe die Techno-Szene erkundet. Das war eine neue Welt für mich. Ich habe viel Musik für alle meine Bands geschrieben, weil ich so viel Zeit in Berlin hatte.

Erlend Øye bei uns im HHV Store

Du hattest mehr Zeit in Berlin?
Ich glaube, das lag an den endlosen Wintern. Um sechzehn Uhr war es dunkel. Ich saß drinnen. Es war ein toller Ort, um mit meinen Gedanken allein zu sein und Musik zu schaffen.

Was hat dich noch an Berlin überrascht?
Damals kam aus Bergen bessere Musik als aus Berlin. Das hat mich überrascht.

Woran, denkst du, liegt das?
In Berlin gab es viel Talent. Jedoch wollten viele nur den Lebensstil eines Musikers haben. Diese Leute sind nicht lange bei der Musik geblieben. Berlin bietet viele Möglichkeiten, Bergen nicht so sehr. Als ich mit 16 Jahren anfing, Gitarre zu spielen, lernte ich Akkorde und schrieb Songs. Es war beständig, die Leute um mich herum waren beständig. Dadurch, dass ich nicht unendlich viele Möglichkeiten hatte, konnte ich meine Kreativität bündeln.

Du hast im Laufe der Jahre verschiedene Bands gegründet und warst in unterschiedlichen Konstellationen gleichzeitig auf Tour.
Letztes Jahr bin ich mit The Whitest Boy Alive, Kings of Convenience und La Comitiva aufgetreten.

Ist es schwierig, so viele verschiedene musikalische Personas zu haben?
Alles eine Frage von guter Logistik. Manchmal entdeckten Fans eine Band fünf Jahre später oder 20 Jahre später. Ich kann nicht vorhersehen, wann die Leute etwas Bestimmtes hören wollen. Als wir zum Beispiel im ersten Jahr mit The Whitest Boy Alive auf Tour waren, wollte das Publikum eigentlich nur Kings of Convenience hören. Dann fand The Whitest Boy Alive später eine Fangemeinde, und ich tourte schließlich mit mehreren meiner Bands gleichzeitig.

The Whitest Boy Alive“ bringt keine neue Musik mehr raus.
Nein, aber wir spielen manchmal live. Ich habe einen Tinnitus entwickelt. Das ist auch der Grund, warum ich mit dem Auflegen aufgehört habe. Es war einfach zu anstrengend für meine Ohren.

Woher nimmst du das Selbstvertrauen, immer weiterzumachen?
Meine Mutter hat mich sehr geliebt. Weil ich mit diesem großen Bündel Liebe ins Leben gestartet bin, konnte ich der Welt mit Selbstvertrauen begegnen. Am Anfang war das die einzige Fähigkeit, die ich hatte.

»Es gibt viel Schönes in dieser Stadt, aber gleichzeitig ist sie auch nicht zu schön. Sie fühlt sich echt an.«

Erlend Øye

Zusammen mit deiner Mutter bist du nach Sizilien gezogen, wo du heute wohnst. Wie seid ihr in Italien gelandet?
Meiner Mutter gefiel Italien sehr und sie begleitete mich immer, wenn ich hier auftrat. Wir besuchten meine jetzige Heimatstadt Siracusa zum ersten Mal im Jahr 2008. Die Menschen dort waren sehr sympathisch und gastfreundlich. Wir kehrten immer wieder dorthin zurück, kauften schließlich ein Haus und zogen hierher. Meine Mutter ist 2016 gestorben. In Siracusa habe ich Menschen, die mir wichtig sind und die sich um mich kümmern. Die Luft ist sauber, das Essen ist lecker und es gibt viel Natur. Es gibt viel Schönes in dieser Stadt, aber gleichzeitig ist sie auch nicht zu schön. Sie fühlt sich echt an.

Hast du dort deine Bandkollegen von La Comitiva kennengelernt?
Die ersten Leute, die ich hier getroffen habe, waren nicht die, mit denen ich jetzt Musik mache. Ich habe zuerst Menschen getroffen, die mir einfach als Menschen sympathisch waren. Wir haben Fußball gespielt und waren schwimmen.

Du hast hier deine Comitiva. Wie hast du die Bedeutung dieses Wortes kennengelernt?
Viele meiner Freunde in Siracusa nutzen den Ausdruck »Comitiva«. Es ist ein antiquierter Begriff, der eine Gruppe beschreibt, mit der man Zeit verbringt. Es kann zum Beispiel eine Comitiva für einen Sommer geben, die aus Leuten besteht, die sich in diesem Sommer regelmäßig treffen. Sie verbindet die Menschen mit einer Zeit und einem Ort. Jemand kommt, wird eine Zeit lang Teil der Comitiva, und dann zieht er vielleicht in eine andere Stadt und ist dann nicht mehr Teil dieser Alltags-Comitiva.

Die Songs auf »La Comitiva« wurden zwischen 2019 und 2024 geschrieben. »For The Time Being« zum Beispiel klang für mich melancholisch. Ich habe es mit dem Thema der Akzeptanz interpretiert. Und dann kommt »Upside Down« gleich danach und klingt energetisch und wie ein Aufruf zum Handeln.
Diese Songs sind über einen langen Zeitraum entstanden. Wenn ich alle Songs innerhalb von sechs Monaten geschrieben hätte, würden sie wahrscheinlich ziemlich ähnlich klingen. Ich bin froh über die Abwechslung auf dieser Platte. Zwischen dem Beginn der Arbeit an diesem Album und der Veröffentlichung gab es COVID und ein neues Album von Kings of Convenience.

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Was schätzt du an den Leuten, mit denen du zusammenarbeitest?
Begeisterungsfähigkeit und Menschen, die sich nicht beschweren. Ich bewundere diejenigen, die nicht aufgeben und es immer wieder versuchen, wenn sie scheitern.

Du bewegst dich regelmäßig außerhalb deiner Komfortzone, indem du zum Beispiel in verschiedenen Sprachen singst.
Es ist inspirierend, in einer neuen Sprache zu schreiben. Mein erstes Lied auf Englisch habe ich 1996 geschrieben. Es hat mir viel Spaß gemacht: all diese Wörter, so viele unverbrauchte Zutaten! Meine Erfahrung mit Italienisch war ähnlich. Jedes neu gelernte Wort war wie eine nie zuvor gehörte Melodie. Für einen Songwriter ist es großartig, eine Sprache zu lernen. Da geht einem nie die Inspiration aus.

Was ist deine Definition von Zuhause?
Hm… das Haus, in dem ich wohne, ist für mich ein Zuhause. Aber ich fühle mich an vielen Orten zu Hause. Ich habe Freunde, die ich nicht täglich sehe, doch wenn ich sie treffe, fühle ich mich auch zu Hause und sicher. Zuhause ist ein vager Begriff.