Der internationale DJ-Jetset ist – nur kurz unterbrochen von knapp zwei Jahren Corona-Pause – in den letzten zehn Jahren in unerwartete Größe gewachsen. Im Windschatten des Riesenerfolgs EDM wuchsen Techno und House, auch in ihren ehemals undergroundigen Nischen, zu einem Riesengeschäft, was für DJs, Produzent*innen und Live-Acts bedeutet: Wer dazugehört, oder den Anschein dessen erwecken will, der tourt durch die ganze Welt, fliegt von Amsterdam an die Adria, vom Festival in der Nähe von Kairo nach London, Stockholm, Ibiza, Berlin und zurück. Die neue Seltsamkeit.
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Oder man hält es wie die Tunesierin Azu Tiwaline. Die Tochter einer Berberin und eines Kambodschaners wuchs in der Elfenbeinküste auf, zog dann mit 14 Jahren nach Frankreich, machte dort auch ihre ersten Schritte in der elektronischen Musik. Doch schon bald verstand Tiwaline, das ihr Herz der Wüste gehöre. »Ich musste feststellen, dass ich keine Person der Stadt bin«, zitiert sie die Feststellung, die sie vor einigen Jahren gemacht hat. Stattdessen zog es sie nach Chott El Djerid, eine kleine Stadt im tunesischen Süden – hier beginne, so Tiwaline, die Wüste. »Ich achte auf mein Wohlbefinden, auf mein Verhältnis zur Natur«, erklärt sie im Interview. Die Zivilisation bringe immer Ablenkung und Krach mit sich, die Wüste biete Kontemplation.
El Djerid ist dabei nicht zufällig gewählt, sondern war einst ein Ort an dem ihre Familie wohnte. Tiwaline, die sich heute als Tamzigh bezeichnet, sieht sich direkt in der Nachfolge ihrer nomadischen Berberahnen und fühlt sich hier, wo es heiß, abgelegen, roh und still ist am wohlsten: »Ich bin süchtig nach der Wüste!«
Die Stille zwischen den Tönen
Sie habe, so erzählt sie, einen alten Bus zum Studio umgebaut. Dort entsteht die Musik, die vor allen Dingen in den letzten vier Jahren größeres Interesse auf sich zog. Es ist eine unverfälschte elektronische Musik, die viel Wert auf Percussion-Settings legt, deren Ausgangspunkt immer die (poly-)rhythmische Struktur ist. Das kann mal eher ambienter, konzentrierter, mit schweren Gliedern gegen die Witterung ankämpfen; dann ginge es um Musik, die damit spiele so einen hohen Grad an Minimalismus zu erreichen, dass man »die Stille zwischen den Tönen hörbar machen kann«. An anderer Stelle sind es wiederum technoide (Proto)Industrial-Klänge, die sich mit fast schon psychedelischer Qualität in die Tanzfläche einschreiben und rituell-erreichter Ekstase gleichen.
»Ich bin süchtig nach der Wüste!«
Azu Tiwaline
Nur beliebig, das ist die Musik nie. Sie schaue selbstverständlich immer, wo sie sich gerade aufhalten: »Im Berghain« – wo sie mittlerweile regelmäßig spielt – »lege ich Musik auf, die zum Ort passt. Da konzentriere ich mich auf tribalistische Momente und Drum-betonte Tracks. Das ist dennoch meine Musik, aber eine, die mit den Menschen am Ort in Kontakt tritt.« Tiwaline hat, das muss erwähnt werden, nur leidlich Interesse an Kompromissen gegenüber den Anforderungen des Musik-Zirkus. Dazu gehört dann, dass sie nur eine gewisse Periode im Jahr in Frankreich lebt, um von da aus dann all ihre Gigs zu anzugehen, den Rest der Zeit geht es in die Stille der Wüste zurück. Hier lerne man zu improvisieren, genau hinzuhören, auch Verzicht zu üben – immerhin gibt es weit und breit keine natürliche Wasserquelle -, das schule aber die Sinne.
Angesprochen auf den Konflikt zwischen dem Futurismus des Technos und den traditionellen Spuren ihrer Musik, widerspricht sie energisch: »In der westlichen Welt heißt es Tradition, wenn man nicht-westliche Musik spielt. Es ist aber keine alte Musik, keine Musik der vergangenen Tradition – die Drum-Sounds, die ich nutze, sind aktuelle, gegenwärtige Sounds in Tunesien. Sie sind heute populär, was aber in Europa ignoriert oder übersehen wird.«