»Ich bin einer der am meisten gesampelten Künstler in den USA«, sagt Donald Byrd am 4. Dezember 1998. Der Trompeter steht auf der Bühne der Barnes Hall der Cornell University in New York. Vor ihm hängen Studierende an den Lippen des fast zwei Meter großen Hünen, der Ende der Neunziger längst zu den All-Time-Greats des Jazz gehört. Eine Stunde lang erzählt er – von Morsecodes und mathematischen Theorien, von seinem ersten Solo mit John Coltrane und dem Hit, den er für Blue Note aufnahm. Byrd, damals Mitte 60, weiß, wie er die nächste Generation beeindruckt. »Leute wie Guru, Tupac und LL Cool J benutzen alle die Musik, die ich in den 60er und 70er Jahren aufgenommen habe. Und ich liebe es.«
Die Tür zur Jazzwelt aufgesprengt
Donald Byrd wird 1932 in Detroit geboren. Während sein Vater, ein Pfarrer, ihn mit der Bibel erzieht, legt seine Mutter Platten von Louis Armstrong und Duke Ellington auf. Als der kleine Don zum ersten Mal durch eine Trompete atmet, merken sie: Ihr Sohn kommt mit Oktaven besser zurecht als mit der Schöpfungsgeschichte. Noch vor dem Abitur tritt Donald mit Lionel Hampton auf. Bei der Air Force bläst er zum Appell, an der Universität macht er in Rekordzeit seinen Master in Musik. 1955 sucht Art Blakey einen Ersatz für einen seiner Jazz Messengers. Der Ruf aus New York erreicht Donald Byrd. Er ersetzt sein Idol Clifford Brown. Byrd weiß, dass er damit die Tür zur Jazzwelt nicht nur aufgestoßen, sondern aufgesprengt hat.
Nach einem Jahr verlässt der aufstrebende Musiker die Jazzband von Art Blakey. Donald Byrd, der sich mit seinen Trompetenkünsten schnell einen Namen als Hard-Bop-Spezialist gemacht hat, geht eigene Wege. Allein 1957 steht er als Sideman öfter im Studio als jeder andere Jazzmusiker zu dieser Zeit. 1958 unterschreibt Byrd einen Vertrag bei Blue Note Records. Mit »Off To The Races« erscheint ein Album, auf dessen Cover sich der 26-Jährige über die Motorhaube eines Mercedes-Sportwagens beugt. In der Hand glüht eine Zigarette. Auf den sechs Titeln seine Trompete.
Anfang der 1960er Jahre entdeckte Donald Byrd in Chicago den damals noch unbekannten Herbie Hancock. 14 Grammys später erinnert sich Hancock 2015: »Ich spielte zum ersten Mal mit Donald und war unglaublich nervös. Am Ende der Jam-Session drehte ich mich zu ihm um und bedankte mich für die Chance. Ich war mir sicher, dass ich es vermasselt hatte. Aber Donald sagte nur: ›Hey Herbie, wir nehmen dich morgen mit zum Konzert!‹« Ein Jahr später legte Byrd die Karten auf den Tisch: Mit »Royal Flush« verhalf er nicht nur Bill Higgins und Butch Warren – zwei Newcomern an Schlagzeug und Bass – zu ihrem Blue-Note-Debüt. Hancock, den Byrd in den Liner Notes als eine Mischung aus Bill Evans und Hank Jones bezeichnete, kam mit »Requiem« zu seiner ersten eigenen Komposition.
Während Hancock wenig später mit den Einnahmen aus »Watermelon Man« im Sportwagen durch New York kurvte, studierte Byrd in Paris bei Boulanger. Die französische Meisterkomponistin hatte schon Quincy Jones und Philipp Glass unterrichtet. Mit Donald Byrd kam ein Musiker zu ihr, der nicht nur lernen, sondern auch lehren wollte. In den 1960er Jahren fand Byrd zwar noch Zeit, allein für Blue Note mehr als 15 Alben aufzunehmen. Doch nach seiner Rückkehr aus Frankreich verlagerte sich sein Schwerpunkt in den Seminarraum. Angetrieben von dem Bedürfnis, den Jazz und seine Geschichte zu einem »legitimen Teil des Lehrplans« zu machen, rief Byrd drei Jazzstudiengänge an den Universitäten der Ostküste ins Leben. Einer davon sollte ihn bis in die Charts führen.
Blackbyrds fly, Blackbyrds fly
Miles Davis kocht bei Columbia ein elektronisches Süppchen, das Byrd beeindruckt haben soll. Er erkennt, dass er die Soulstrukturen des Hard-Bop aufbrechen muss, um sich nicht mit Anfang 40 in den Vorruhestand zu verabschieden. Sein Anliegen ist »Fancy Free«: junge Leute, die mit Jazz nichts anfangen können, für Jazz zu begeistern. »Ich würde mich nicht trauen, mit ihnen über Bebop zu reden, sie haben keine Ahnung davon, weil das etwas für ältere Leute ist«, sollte Byrd später in seiner Cornell Lecture sagen. Ein Ansatz, der ihm an der Howard University in Washington D.C. eine Anhängerschaft einbringen sollte, die sich Blackbyrds nannte.
»Donald sah das Potenzial seiner Studenten«, sagt Kevin Toney, ein ehemaliger Pianist und Byrd-Schüler. »Also gründete er eine Band – ohne Profis, nur mit seinen Musikstudenten.« Unter der Woche wurde gelernt, am Wochenende ging es zu Konzerten. In den 1970er Jahren veröffentlichten die Blackbyrds acht Alben, mit denen sie den muffigen Jazzkeller durchlüfteten. Byrd, der keine Angst vor Fusion hatte, sagte: »Wenn ihr euch an die Sachen erinnert, die ich früher gemacht habe, vergesst sie: Vergesst sie und versteht die Jugend! Party a bit!«
»Als Byrd in den 1990er Jahren feststellt, dass sich die halbe Ostküste aus seinem Blue-Note-Katalog bedient, braucht Guru keine Überredungskünste.«
Mit den Blackbyrds ging Jazz plötzlich nicht mehr in den Kopf, sondern in die Beine. Die Studentenband produzierte Tanzmusik, die eine neue Generation ansprach, weil sie deren Sprache verstand. »Walking In Rhythm« bringt den Blackbyrds eine Grammy-Nominierung ein, »Rock Creek Park« landet mit über einer Million verkaufter Singles in den Billboard-Charts. »Ich habe 25 Jahre gebraucht, um das zu schaffen, was diese Kids in einem Jahr geschafft haben – jetzt haben wir eine Goldene Schallplatte«, sagt Byrd.
Einen großen Anteil am Erfolg von Donald und seinen Byrds haben die Mizell-Brüder, ein Geschwisterpaar, das schon früh bei dem Trompeter studierte. Auf der Suche nach Arbeit zogen sie an die Westküste der USA. Als Byrd 1972 für Aufnahmen einer Blue-Note-Platte nach Los Angeles kommt, treffen sie sich wieder. Einer der Mizells soll gerade einen Synthesizer verkabelt haben, Byrd betritt das Studio – sie nehmen einen Song auf, der die Jazzkritik aufhorchen lässt.
Stepping into Tomorrow
»Black Byrd« wird zu einem der größten Hits des Blue-Note-Labels. Der Erfolg ließ die Jazzwelt schneller rotieren, als der Plattenspieler es vermochte. Als »Ausverkauf« bezeichneten manche die R’n’B-Richtung, die Donald Byrd mit den Mizell-Brüdern eingeschlagen hatte. Andere verglichen Byrd mit einem »Renegaten«, der den von ihm begründeten Hard-Bop-Stil aufgab. Dass Byrd weiter gegen den Wind blies, sollte sich in einer anderen Szene auszahlen: In den Discos der 1970er Jahre sorgten Byrds Platten für Falten in den Hosen. Wer heute Songs wie »Stepping Into Tomorrow« hört, dreht 50 Jahre später wieder an der Glitzerkugel.
Donald Byrd hat zu dieser Zeit nicht nur eine erfolgreiche Solo-Karriere, sondern auch eine Tournee durch die Colleges der USA hinter sich. Er schließt 1976 auch sein Jurastudium ab. Wie der Trompeter, dem ein diszipliniertes Leben ohne Drogeneskapaden nachgesagt wird, neben seiner musikalischen Lehrtätigkeit die Zeit dafür fand? Keine Ahnung! Vielleicht hat es damit zu tun, dass Donald Byrd als ausgebildeter Pilot zu seinen Auftritten jetten konnte.
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Auch wenn er im Alter zu seinen Wurzeln im Hard Bop zurückkehrt, bleibt Byrd ein Experimentator. Als er in den 1990er Jahren mitbekommt, dass sich die halbe Ostküste an seinem Blue-Note-Katalog bedient, braucht Guru keine Überredungskünste. Die Trompete funkt in die MPC: »Jazzmatazz«. Übrigens: 1993 überträgt MTV zum ersten Mal vom Jazzfestival in Montreux. Byrd trötet zu den Zeilen des Rappers – im Publikum begreifen die letzten Sesselfurzer, dass hier zwei Generationen eine Sprache finden.
Byrd stirbt 2013 im Alter von 80 Jahren. Bis zuletzt hatte er unterrichtet und Hunderten von Menschen den Weg zum Jazz gezeigt. Wer sich die YouTube-Videos des Grammy-prämierten Trompeters Darren Barrett anschaut, hört in jedem Wort den Nachhall von Donald Byrd. »Keine Grenzen, niemals!«, das habe er mir mitgegeben, sagt Barrett in der Videoreihe, die er »Byrd-ism« getauft hat. Er saß damals in jenem Auditorium, in dem Byrd über Morsecodes und mathematische Theorien sprach, über sein erstes Solo mit John Coltrane und den Hit, den er für Blue Note aufnahm.