Noch so ein Genre, das angeblich niemand bespielt: Kaum wird der Rhythmus eines Albums unübersichtlich, gehört die Platte zum Math-Rock. Was die Bandbreite an Künstlern des Genres bis heute ebenso unübersichtlich macht. Denn es steht lediglich fest, dass Math-Rock sich durch ungerade und asymmetrische Takte sowie Dissonanzen (meint: Lärm) auszeichnet. Oftmals wechselt die Art des Rhythmus während eines Songs gleich mehrmals. Was eben zum Namen des Genres führte, denn der Sound fühlt sich verkopft an. Aber reicht das als Unterscheidungsmerkmal zu anderen Genres?
Prototypen
Neben Jazz, Experimental, Post-Hardcore und Indie beeinflusste vor allem Progressive Rock das Genre. Zu den wichtigsten Vorläufern gehören das legendäre Album »Red« von King Crimson von 1974, Black Flags »My War« von 1984 oder die Platten der experimentellen US-Band Massacre. Und da tut sich bereits die überspannte Bandbreite auf: Von Black Flag hin zum Avant-Sound von Massacre ist es mehr als nur ein Sprung.
Ab Ende der 1980er-Jahre taucht Math-Rock dann als Beschreibung eines musikalischen Ansatzes auf, der sich von Einflüssen aus der großen Popkultur und vom Mackertum des Rocks freimachte. Auf »Spiderland« von Slint fand sich verdichtet dann 1991 die Anlage sowohl für Math-Rock als auch Post-Rock. Während zahlreiche Bands im Post-Rock bald das Epische und die Wucht suchten, richtete sich Math-Rock eher ins Innere und auf die Essenz. Was auch an der Besetzung lag – oftmals mühten sich Trios an diesem Sound ab.
Mehr Haltung als Genre
Mitte der 1990er-Jahre ordnen Musikkritiker eine Vielzahl an Alben dem Math-Rock zu – so schnell wie das Genre auftauchte, verschwindet es aus den Texten jedoch wieder. Die meisten Musiker lehnen die Bezeichnung sowieso ab. In der jüngeren Vergangenheit und in der Gegenwart erschienen und erscheinen nicht weniger Platten, die mit ungeraden Takten und Dissonanzen arbeiten. Allerdings bekommen diese Alben in den meisten Fällen die Label Progressive Rock (siehe The Mars Volta) oder Experimental Rock (siehe Battles) zugeschrieben.
Wer sich jedoch durch die Geschichte des Math-Rock hört, wird viel mehr Gemeinsamkeiten dieser Alben zueinander als zu anderen Genres feststellen. Selbst wenn die Spanne von American Football bis Converge reicht. Eine kurze Geschichte des Math-Rock in zwanzig Alben.
Es braute sich etwas zusammen in Louisville, Kentucky, Ende der 1980er Jahre. Schon 1983 hatten einige Teenager, zu dem Zeitpunkt zwischen 13 und 16 Jahre alt, die Band Squirrel Bait gegründet, zwei Schallplatten aufgenommen. Die Band löste sich 1987 auf und daraus entstanden zwei neue Bands. Die eine hieß Slint (über die wird noch zu reden sein). Die andere hieß Bastro. Gitarrist David Grubbs (später: Gastr del Sol u.a.) und Bassist Clark Johnson nahmen 1988 die EP »Rode Hard & Put Up Wet« auf, mit Steve Albini an den Reglern und einer Drum Machine als Schlagzeuger. Die wurde dann bald durch John McEntire (später: Tortoise u.a.) ersetzt, Schlagzeugstudent am Oberlin College in Ohio. Die drei spielten dann 1989 »Diablo Guapo« ein, die erste von zwei grandiosen Alben, welche die Grundlage waren für die Entwicklungen von Math-Rock, Post-Rock, Post-Hardcore in den Neunzigern. Dieses Album konnte nicht mehr in bekannten Kategorien gedacht werden, war Metal, war Jazz, war fluffige Melodie und schönster Krach. Es hat all das Konventionelle im Rock abgeschüttelt.
Sebastian HinzGitarrist und Sänger Brian McMahan (später: Palace Brothers) und Schlagzeuger Britt Walford (später: The Breeders) spielten ebenfalls bei Squirrel Bait und bildeten zusammen mit dem Gitarristen David Pajo (Papa M) und Bassist Ethan Buckler dann die Band Slint. Ihr erstes Album »Tweez« nahmen sie 1987 (auch) mit Steve Albini auf, dessen Band Big Black eh ein großer Einfluss war. Ethan Buckler verließ die Band und wurde durch Todd Brashear ersetzt. 1991 erschien dann »Spiderland«. Unbestritten ein Meisterwerk der Gitarrenmusik. Die Musik war nur halb so wild wie die Bastro, zugänglicher und von mystischer Tiefe. Diese verführerischen Gitarrenmelodien gepaart mit den synkopischen Rhythmen, also Rhythmen, die immer ein wenig neben der Erwartung liegen, haben einen Sog auf Hörer entfacht, die bis heute nicht mal ahnen, dass hier Rockmusik jenseits der Vierviertelparadigmen gespielt wird. Einen Tag nach Beendigung der Aufnahmen zu »Spiderland« hat sich Brian McMahan in eine Nervenklinik einweisen lassen, wo bei ihm Depression diagnostiziert wurde. Das Ende der Band.
Sebastian HinzWährenddessen trafen sich im Universitätsstädtchen Chapel Hill, North Carolina Ash Bowie, Dave Brylawski, Steve Popsong und Eddie Watkins. Sie hatten unabhängig voneinander die zweite Hälfte der Achtziger damit verbracht den Katalog von SST Record zu studieren, ein Wissen, das sie nun als Polvo zu einem eigenen Sound umformen sollten. »Today's Active Lifestyles« (1993) ist ihr zweites Album und formuliert perfekt ihren Sound, der im Prinzip von einem Start-Stopp-Muster geprägt ist. Die Musik klingt schlicht, als würden die Musiker im Proberaum ständig sich auf den Füßen stehen, anrempeln, über Kabel stolpern, was dazu führt, das eben gespielte Riff neu anzusetzen, aber anders gespielt, mit einem anderen Rhythmus versehen.
Sebastian HinzTrotz ihres gerade einmal zweijährigen Bestehens (1990 bis 1992) gilt das Trio Breadwinner aus Richmond, Virginia als eine der definitivsten Bands des Math-Rock. Sie hinterließ etwas mehr als zwanzig Minuten Musik, versammelt auf der Zusammenstellung »Burner«, die mit »Tourette’s« beginnt. Bereits da wird klar: Die Band nahm Hardcore und Heavy Metal als Ausgangspunkte für einen neuen Sound. Der viel komplexer, anstrengender und fordernder ist als etwa alle Spielarten des zeitgleich populären Grunge. Ein Album wie ein kleiner (und etwas verspäteter) Urknall des Genres.
Björn BischoffSteve Albini gründete die Band 1982 und löste sie 1987 wieder auf. Danach legte er die Gitarre für einige Zeit beiseite und wurde stattdessen einer der gefragtesten Toningenieure (das Wort Produzent lehnte er ab) des Planeten.1992 gründete er mit Bob Weston (Bass) und Todd Trainer (Schlagzeug) eine neue Band: Shellac. Kleine Besetzung, Minimal Rock, ungerade Rhythmen, fette Grooves.Wer Math-Rock bis dahin nicht verstanden hatte, bekam mit dem 1994er Debüt »At Action Park« eine Blaupause. Das Album beginnt mit einem wie abgerutscht wirkenden Gleiten des Plektrums über die Saiten (siehe Polvo).Dann Bass und Schlagzeug.Dann Gitarre.Alles perfekt arrangiert.Keine Note zu viel. Meisterwerk.
Sebastian HinzAuf ihrem Debüt waren Karate aus Boston, Massachussetts noch in der Findungsphase, was das selbstbetitelte Album so spannend machte. Im Laufe ihres Schaffens näherten sich Karate mehr und mehr dem Jazz an, doch zum Start ließen sie noch Einflüsse aus Emo und Indie zu. »Trophy« schrammt knapp an konventionellen Songstrukturen vorbei. In »Every Sister« schlägt hingegen bereits der Weg in die entspannteren Gefilde des Jazz Rock durch. Ein angenehmerer Einstieg in Math-Rock als dieses Album findet sich daher nicht.
Björn BischoffChavez haben nie die verdiente Aufmerksamkeit bekommen. Zwei Alben hat die Band um Gitarrist Matt Sweeney veröffentlicht: »Gone Glimmering« (1995) und »Ride The Fader« (1996). Der Sound der New Yorker war vielleicht zu unentschieden zwischen den Stilen Lo-Fi, Emo-Core und eben Math-Rock, um wirklich prägend zu werden. Trotzdem lohnt die Beschäftigung, denn Matt Sweeney ist der Teufel von einem Gitarristen. Später soll er Bonnie »Prince« Billie, Cat Power, Guided By Voices, Run the Jewels oder Billy Corgan bei ihren Projekten unterstützen.
Sebastian HinzNach zwei Jahren Pause kehrte die Instrumental-Band Don Caballero mit ihrem dritten Album »What Burns Never Returns« zurück – und hatten ihren Sound deutlich entschlackt. Fielen bei den Vorgängern die Melvins als entfernte Referenz, bieten Don Caballero hier vor allem verspielte Rockmusik. Dynamik und Kante sind noch drin, aber die Band aus Pittsburgh vertieft sich auf den acht Tracks vielmehr in Experimente, macht hier und da Nebenschauplätze zu den Hauptthemen der Songs auf. Kein wildes Album, sondern einfach herrlich entrückte und ungerade Songs. Und das Album, das die Genre-Zuordnung Math-Rock wohl am besten erfüllt.
Björn Bischoff Sebastian HinzDie Münchener Band Couch erntete ein paar Musikkritiken zu ihrem dritten Album »Fantasy«, die vor Lob fast übergingen. Die große Aufmerksamkeit blieb zwar aus, was jedoch nicht an der Schallplatte lag. Vordergründig ging es um Indie, Electronica und Post-Rock, was den Vergleich zu The Notwist nahelegte, allerdings waren Couch noch introvertierter und verspielter. Die Songs auf »Fantasy« überfordern nie, sondern fließen einfach wunderbar dahin. Ein Album zum Träumen und Runterkommen.
Björn BischoffWir müssen mal wieder nach Louisville, Kentucky schauen. In der Nische zwischen Post-Rock und Math-Rock haben sich seit den frühen Neunzigern dort Bands wie Rodan, Shipping News, The For Carnation und June of 44 gegründet. Gitarrist Jeff Mueller hatte in all diesen Projekten seine Finger und holte dann Schlagzeuger Doug Scharin (auch: Codeine, Rex, Enablers), Bassist Fred Erskine (auch: Hoover) und Gitarrist Sean Meadows (auch: Lungfish, The Sonora Pine) hinzu. Ein sensationelles Line-Up. In den Neunzigern haben sie drei sehr gute Alben und ein sensationelles aufgenommen. Das sensationelle heißt »Anahata«, ist vertrackter, zersplitterter als die anderen. Gleichzeitig von Wehmut beseelt. Das neue Jahrtausend in Blickweite, das Ende einer Ära vertont. Sie haben alles in dieses Album gelegt und nichts mehr nachlegen können.
Sebastian HinzFaraquet aus Washington, D.C. verband Post-Hardcore mit Progressive Rock. Ergebnis: Ihr einziges Album »The View From This Tower« galt um die Jahrtausendwende für viele Kritiker als das Math-Rock-Album. Und tatsächlich lässt sich in Tracks wie »Song for Friends to Me« jede Sekunde genau dieses Spannungsfeld hören. Der Rhythmus will stets in den Post-Hardcore springen, die Gitarre zieht das Ding aber jedes Mal zurück in leichtere Momente. Nur um dann in »Conceptual Separation of Self« zu münden, das in seinem reduzierten Stil an Slint erinnert. Eine Platte, die ihre besten Momente genau aus diesen Gegensätzen zieht.
Björn BischoffSo um die Jahrtausendwende waren Surrogat die kompromissloseste Rockband Deutschlands. Da war auch immer ein bisschen Größenwahn dabei. Die Rockgesten wurden überdimensional groß gespielt, die Ansprüche überhöht formuliert. Gleichzeitig war die Musik viel ausgefuchster, viel verkopfter, als es die prollige Attitüde des Trios um Patrick Wagner vermuten ließ. »Rock« war nämlich dann doch Rock mit anderen Mitteln, entfesselt zwar, aber gleichzeitig im Korsett, mit Verzicht auf einen geraden Takt, Vierviertel schon gar nicht. Diese Brechungen kippen bei »Rock« gerade noch ins Ironische, später (bis zum Ende der Band ca. 2003) sind's dann leider nur noch ordinäre Chiffren.
Sebastian HinzMit ihrem vierten Album »Jane Doe« schafften Converge den Durchbruch über Metalcore-Kreise hinaus – und ernteten trotzdem hier wie da hochgezogene Augenbrauen. Zu schnell, zu übersteuert, zu verworren sei die Platte, hieß es in manchen Kritiken. Was an dem harten Drumming von Ben Koller, aber auch an der Stimme von Jacob Bannon lag. In Tracks wie »Fault and Fracture« überschlägt sich Bannon beinahe, dass er seinen Gesang eher keift und bellt. Aber eben stets angepasst auf Änderungen des Tempos und der Takte. Überforderung für das Publikum in Form von zwölf Brettern von Songs ohne Atempause.
Björn BischoffIn diesem Rock steckt nun höhere Mathematik. Es braucht einiges an Übung, um den verschlungenen Integralpfade der kalifornischen Band Hella zu folgen (von Verstehen wollen wir hier gar nicht reden). Ihr Debüt »Hold Your Horse Is« (schon die Semantik des Titels macht keinen Sinn) ist vielleicht so etwas wie der heilige Gral des Math-Rock. Die Präzision und Tightness dieser Musik ist mit normalem Menschenverstand nicht erklärbar, weshalb ich es an dieser Stelle auch sein lasse. Dahinter stecken Spencer Seim (Gitarre) und Zach Hill (Schlagzeug). Letzterer hat dann ein wenig später Beats für Death Grips (aha!) mitverantwortet und in der El Grupo Nuevo De Omar Rodriguez Lopez getrommelt. Zu Omar Rodriguez-Lopez kommen wir gleich noch.
Sebastian HinzEin Wirbelsturm von einem Album: The Mars Volta verarbeiteten auf ihrem Debüt »De-Loused In The Comatorium« den Tod eines engen Freundes. Allerdings lässt sich dies anhand der Texte und des Sounds kaum nachvollziehen. Zu vertrackt, zu komplex, aber auch zu emotionsgeladen kommt die Platte daher. Mit »Televators« gibt es zwar ein fast schon konventionelles und ruhiges Stück mit Akustikgitarre, doch daneben reiht sich der blanke Wahnsinn wie in »Inertiatic Esp«, in dem die Band ständig die Richtung ändert. Die Songs zerbersten in regelmäßigen Abständen. Manche möge es auch Puls nennen. Schlussendlich ist es wahrscheinlich der Sound, der sich vom Inneren unserer Schädeldecken abkratzen ließe.
Björn BischoffDeerhoof haben inzwischen auch beinahe 30 Jahre auf dem Buckel, ohne (zumindest hierzulande) einen ihrem Schaffen gemäßen Bekanntheitsgrad erreicht zu haben. Denn mit »Apple O'« aus dem Jahr 2003 haben sie eines der Rockalben der 2000er Jahre eingespielt. Matt Groening, Erfinder der Simpsons, und Karen O, Sängerin der Yeah Yeah Yeah's, outeten sich gleich als Fans. In der nur drei Jahre währenden Kombination Satomi Matsuzaki (Bass, Gesang), Greg Saunier (Schlagzeug), John Dieterich (Gitarre) und Chris Cohen (Gitarre) hatten sie zwischen 2002 und 2005 ihre beste Zeit mit vier sehr guten Alben. Sie brachten die Melodie zurück in den Math-Rock, ohne den Blick für vertrackte Rhythmen zu verlieren.
Sebastian HinzElf Songs, die sich anhören, als hätte Pacmans Geist auf Pilzen sie eingespielt. »Mirrored« von Battles ist bis heute ein großes Spiel, ein Album voller Nebenschauplätze, das sich mal hier in einem Rhythmus, mal dort in eine Melodie verrennt – und dabei trotzdem nichts von seiner psychotischen Kraft verliert. Entsprechend muten Songs wie »Atlas« fast wie Hymnen des Math-Rock an, wenn dort Zeilen fallen wie: »People won't be people when they hear this sound.« Verspielter und irrer als hier wurde es bei der Band nie.
Björn BischoffDer Titel »In Advance of the Broken Arm« beschreibt ziemlich gut das Riff von »Vibrational Match«, des ersten Songs des Debüts der Gitarristin Marnie Stern aus dem Jahr 2007. Marie Stern kombiniert ihr auf finger tapping basierendes Gitarrenspiel (wie wir es von Don Caballero's und Battles' Ian Williams kennen), mit der Melodiösität von Deerhoof, der Attitüde von Riot Grrrl-Bands der Neunziger und der Weltgewandtheit der New Yorker Bohéme. Ach, und Marnie Stern ist witzig. Wird echt mal wieder Zeit für ein neues Album.
Sebastian HinzDie jüngste Rückkehr des Math-Rock? Die Briten von black midi pumpten mit ihrem Debüt noch einmal Strom durch den eigentlich totgeglaubten Sound aus Experimental, Indie, Progressive und Noise, der bei ihnen ebenfalls das Label Math-Rock bekam. »Schlagenheim« offenbart seine großen Momente nicht beim ersten Hören, sondern baut sich mehr und mehr auf, wenn der Geist die verschiedenen Knoten im Sound entwirrt. In den Zeiten so vieler gefälliger Sounds kommen die neun Songs herrlich überfordernd daher.
Björn Bischoff