Wir sparen uns an dieser Stelle die Beschwerden und Lamenti, die Sorgen und Ängste genauso wie die Durchhalteparolen und herbeigefunkten Hoffnungsschimmer. Alle wissen Bescheid und niemand will noch irgendwas beschönigen. Das Jahr 2022 war ein schlechter Film und wir lassen uns höchstens dazu hinreißen, beim Ablauf der Credits die Lautstärke hochzuregeln. Denn, und auch das ist seit circa Ende 2020 ein zu oft durchgekauter Refrain, zumindest die Musik war immer und ständig top. Es wurde mehr denn je produziert – im Guten wie im Schlechten, 100.000 pro Tag auf Streaming-Plattformen hochgeladene Songs sind ein absoluter Mindfuck – und vor allem radikaler denn je an den Konventionen gekratzt.
Zynischer Zwischenruf: Wenn sowieso kaum jemand mehr Schallplatten anfertigen (Gruß und Dank an die Taylor Swifts und Fleetwood-Mac-Erblassverwalter:innen dieser Welt!) oder auf Tour das zum Überleben notwendige Geld wieder einfahren kann (bei euch noch alles gut, Live Nation? Scheint ja so!), dann muss auch niemand mehr einen Scheiß auf Pflichterfüllung geben. Über 170 Alben hatten wir in der engeren Auswahl, um daraus die besten 50 des Jahres zu picken. Sind dabei unfairerweise ein paar durchs Raster gerutscht? Bestimmt. Gab es noch zig andere, tolle und wegweisende Alben, die wir gar nicht aufnehmen konnten, weil sie überhaupt nicht auf Vinyl erschienen sind? Sowieso.
Fokussiert haben wir uns auf die wagemutigsten, anregendsten, die wenigsten Fucks gebenden Platten – Musik also, die bleibt. Nach einem wieder einmal unendlich beschissenem Jahr, nachdem die letzten Namen über die Leinwand gerollt sind. Sie ertönt, wenn alles für einen kurzen Moment schwarz wird – wenn sich die Chance zu bieten scheint, Tabula rasa zu machen, die Welt neu (und also: besser) zu denken. Dazu braucht es Input und der Output dieser 50 Menschen und künstlerischen Zusammenschlüsse lieferte gegen den. Das waren sie also: Die 50 Alben im Jahr 2022, die uns die Hoffnung gegeben haben, die wir uns nach all dem Abfuck nicht mehr autosuggerieren konnten. Danke, ey. Kristoffer Cornils
DJ Haram und Moor Mother mit einer echten Ansage. »Nothing To Declare« ist ganz und gar 2022. Hörer:innen ersticken fast am Zeitgeist. Die Krümel, oder besser gesagt harten Brocken, die dann bei 700 Bliss hochgewürgt werden sind Rap und supranationale Club-Musik. Hier wird alles auf einen Haufen bzw. über ebendiesen geworfen, was sich nicht bei drei zu totaler Progressivität bekannt hat. Der Vibe ist eine Mischung aus Ballroom und Straßenkampf, der sassy Bulldozer des Halbjahres. Mindestens ein Song sollte man auf der nächsten Show von Mugler erwarten.
Pippo Kuhzart Zur ReviewFür alternde Snobs gibt es kaum ein dankbareres Album als die zweite Platte von Anadol, weil die Bezugspunkte hier zeitlos sind: klassische türkische Breaks, vernebelter Krautrock, britisch-dubbiger Post-Punk, Spiritual Jazz. So weit, so safe, aber was »Felicita« komplett konkurrenzlos macht, ist eine kaum zu Papier bringende Fähigkeit, keinem Genre länger als für einen flüchtigen Moment verpflichtet zu bleiben. Eine wilde Platte, die trotzdem vollkommen in sich ruht.
Florian Aigner Zur ReviewDie Musik, das Cover, die Kuratoren: Die »Air Texture VIII« weist wie kaum eine andere Compilation in vergangenen Halbjahr in Richtung Zukunft. Satte 18 Tracks spannen eine mächtige Bandbreite von Meiteis organischem Downtempo bis hin zu DINAS Techno-Roller »Skin Shed«. Verantwortlich sind mit den New Yorkern Anthony Naples und DJ Python zwei der derzeit progressivsten Köpfe in der elektronischen Musik. Naples’ cleaner Tech-House wie Pythons Vorliebe für außerordentlich geschmackssichere Reggaeton-Einflüsse mit Hang zum Sentimalen treffen im kuratorischen Sweetspot aufeinander.
Maximilian FritzRhythmisch vollkommen entfesselt ist »Raw Space« von Authentically Plastic, ein fast ausschließlich perkussiv arrangiertes Patternmassaker, die Hakuna Kulala-Version von Dolo Percussion, Slikback ohne Plug-Ins, eine Schallplatte so frei von Zwängen wie es Tanzmusik überhaupt sein kann und genau deswegen utopisch stark.
Florian AignerBatu ist als Timedance-Kurator und sehr selektiver Produzent längst unfrontbar. Der Schritt zum Albumformat ist im Falle von »Opal« ein dementsprechend wohlüberlegter. Mit gerade einmal einer guten halben Stunde Spielzeit bei 11 Titeln ist »Opal« schon formal kein Album für den Flur, vielmehr fließt hier Batus harsches Sounddesign in eine luzide Sequenzierung, in der dann die drum- und songorientierten Beiträge die Akzente setzen, aber das Narrativ nicht bestimmen. Bestes Objekt-Album seit dem letzten Objekt-Album.
Florian AignerProduktionsmäßig ist auch »Aethiopes« von billy woods absolut sensationell. Der vor allem als Ka-Kollaborateur bekannte Preservation flippt hier von moody ass RZA-Soul bis zu Art Ensemble Of Chicago mäßigen Free-Jazz-Sessions wirklich bemerkenswert unvorhersehbare Instrumentals, die für sich schon ein ziemlich wahnwitziges Album wären, in Kombination mit Billy Woods Mitnuller-Def-Juxismen aber vollkommen überwältigen, in a good way.
Florian AignerAuf ihrem zweiten Album haben Black Country, New Road nichts an ihrer Einstellung verändert: Mit Ideen stets verschwenderisch umgehen. »Ants From Up There« bringt mit jedem Hördurchgang neue Entdeckungen hervor. Vom dampfwalzigen Opener »Chaos Space Marine« bis zum epischen Zehn-Minuten-Rausschmeißer »Basketball Shoes« geschieht auf diesem Album mehr als in so mancher Karriere. Bleibt die Frage, was nach dem Ausstieg von Sänger Isaac Wood, den er kurz vor Album-Release bekannt gab, nun noch kommen soll.
Stefan MertlikWer mag kein IDM? Wer jetzt »Ja« gesagt hat, sollte erst einmal in »Itsame« hineinhören. Brainwaltzera, anonymes Projekt mit Vorliebe für die melodisch-artifiziellen Spielarten der rhythmisch aufgelockerten Clubmusik, der man besondere Intelligenz nachsagt, wirkt ein bisschen wie jemand mit Nostalgie für diese heroische Phase elektronischen Schaffens in den Neunzigern. Dort ist Brainwaltzera definitiv zu Hause und heißt einen so herzlich willkommen, dass ablehnen ein Fehler wäre. Oder ist der Name am Ende doch ein neues Pseudonym für Richard D. James?
Tim Caspar Boehme Zur ReviewWeil wir um den Chanel-Kalauer ja nicht herumkommen: Dieses ist paradoxerweise das erste Album von Christina Vantzou, das nicht wie Billigparfüm sofort vaporisiert, sondern sich durch die Nüstern direkt in den Frontallappen dreht und dort bleibt. Das ist kein, brrr, neo-klassischer Ambient, sondern Vangelis’ »Blade Runner« ins Hier und Jetzt, das heißt ins Jahr 2148 übersetzt. Hantologisches Storytelling mit vielen Registern, durch viele Stimmungen hinweg, mit den unterschiedlichsten musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten konstruiert. Es gibt eigentlich nichts, was auf diesem Album nicht zu hören ist. Und noch mehr gibt es damit – pardon, aber isso – zu fühlen.
Kristoffer Cornils Zur ReviewDer Skandinavier*innen Gespür für Schnee. In diesem Fall sind's Schweden aus Uppsala. Die machen auf »Järnätter« mittels Synthesizers atmosphärischen, melodischen Ambient. Brian Eno hätte die Platte wahrscheinlich »Music for Mushrooms, Lichens & Mosses« genannt. Mit schwerem Gerät machen Civilistjävel! hier leicht Musik. Jeder der sich mit dicken Fausthandschuhen versucht hat, die Schnürsenkel zuzubinden, sollte die Finesse hinter dieser Ansammlung von Tracks ahnen. Es ist zudem das erste Release auf dem von Perko neu gegründetem Label FELT.
Sebastian Hinz Zur ReviewClaire Rousay hat ihre Collagen aus Field Recordings, Objektsounds und Stimme mit »Everything Perfect Is Already Here« nochmals perfektioniert. Sie macht uns Hörer hier mehr denn je zum Teil des musikalischen Prozesses. Wir sind dabei, wenn sie aus dem Fenster schaut, wir sind dabei, wenn sie am Klavier deletiert, wir sind dabei, wenn beim Tee holen die Diele des Altbaus knarzt. Wir sind Teil reiner Poesie.
Sebastian Hinz Zur ReviewMoment! Denn urplötzlich ist da noch die neue CS + Kreme LP reingerauscht, der Nachfolger also zu einem der besten Alben der letzten zehn Jahre und dennoch so frei von Druck und Zwängen, dass man es fast frech finden kann, wie wenig sich Standish und Carmel hier um Struktur und Melodie scheren. »Orange« ist ein brillanter Impro-Monolith, Noir Jazz und postmodernem Krautrock ebenso verbunden wie elektronischem Experimentalismus, auf dem sich nach zwei Durchgängen nicht sofort diese glasklaren Peaks ausmachen lassen wie auf Snoopy. Stattdessen die Erkenntnis: ein Album, das einen jedes Mal so überwältigen wird, als hätte man es noch nie zuvor gehört.
Florian AignerDalia Neis und Enir Da haben als Fith angefangen, hören nun aber für ihr Album auf STROOM〰 auf den Namen Dali Muru & the Polyphonic Swarm. Arg viel hat sich nicht geändert: Das ist immer noch Peak-SDA-Weirdo-Pop in Moll, auf dem Dalia Neis Vocals in ihrer distanzierten Coolness durch reduzierte, Tolouse Low Trax inspirierte Beats und krautige Kautzigkeiten geistern, in bester Avant-Wave-Tradition. Die Formel mag mittlerweile bekannt sein, aber ein Spitzenalbum ist das trotzdem.
Florian Aigner Zur ReviewVHS, verflossene Liebe, und da ist dieses einsame Mädchen, das vor einem dunklen Wald läuft, ein sanfter Wind blowing through some sycamore trees. Voll auf die 12 Jahre muss das schon her sein pressten **Romance & Dean Hurley** mit ihrem **»In Every Dream Home A Heartache«**. Ausleihernde Loops, melodramatische Vocal-Fetzen und Synths, denen der die Erfahrung von Verlust eingebrannt ist: Für Fans von Caretaker, David Lynch, Palmbomen und Sentimentalität.
Pippo KuhzartEs muss so zwei Jährchen vor Wuhan gewesen sein, da gab es eine regelrechte Gamelan-Wave. Neuerscheinungen und Reissues, überall wurde auf Gongs und Xylophonen und Trommeln rumgeklopft. Nun ist genug Zeit vergangen, diese spezielle Erschöpfung wurde durch x andere ersetzt, es war wieder Platz für Gamelan im Leben, 2022. Dewa Alit und sein Gamelan Salukat spielen den Hörer:innen auf dem aus zwei expansiven Stücken bestehenden »Chasing The Phantom« das Fieber zwischen die Ohren, beschwören bronzene Geister, teuflische Mücken, ein nervöses Hasten.
Pippo Kuhzart Zur ReviewVielleicht das nicht tiktokisierteste Album des Jahres 2022, weil: hier braucht es das Große und Ganze, die volle Länge. Der Lohn entsteht auf dem Weg, Dialect macht ordentlich Strecke, wer sie mit geht, steht am Ende da und ist eine bleibende Erfahrung reicher. »Advanced Myth« dehnt sich während des Hörens aus; in die Vergangenheit eifernde Synth-Flächen greifen in die eine, pluckernde Arpeggios in die andere Richtung. Im Zentrum ein angejazzter Ambient-Sound und eine basinskische Memento-Mori-Hymnik.
Pippo KuhzartEbenfalls eine vielgehörte Platte der letzten Wochen: Eiko Ishibashis »For McCoy«, deren Referenzrahmen maximal random daher kommt (Law & Order, hä?), aber mit Ausnahme des abschließenden und doch arg käsigen dritten Stücks zwei ausufernde Ambient Jazz Skulpturen schnitzt, die sich vor den großen Reissue-Grails auf Black Sweat oder Soave überhaupt nicht verstecken müssen.
Florian Aigner Zur ReviewDas Popalbum des Jahres. Gut, Superlative sind meistens verdächtig. Auf jeden Fall das beste langsame Popalbum des Jahres. Und das beste stille Popalbum des Jahres. Ellen Arkbro und Johan Graden, ansonsten anteilig für Orgeldrones und modernes Jazzpiano zuständig, haben auf ihrem ersten gemeinsamen Album »I Get Along Without You Very Well« eine scheinbar locker improvisierte kammermusikalische Form für Songs voller Sehnsucht gefunden, die sie fast zu zerdehnen droht. Aber eben nur fast. Diese Spannung auszuhalten, ist ein Genuss, der wenig bis gar keine Überwindung kostet.
Tim Caspar BoehmeDie Koordinaten einer Bushaltestelle in Lagos als Plattentitel sind schon mal originell. Die Klänge rund um die Ojuelegba Bus Station sind es auch. Letztere hat der nigerianische Klangkünstler Emeka Ogboh aufgezeichnet und mit annäherungsweise tribalistischen Beats unterlegt. Rhythmisierte Field Recordings oder Clubmusik als Stadtporträt? So oder so schafft »°30’33.372”N 3°22’0.66”E«, das zweite Album Ogbohs, eine zwingende wie unerwartete Verbindung von Rhythmen unterschiedlichster Art. Ein klarer Fall von »dancing in the streets«. Bedingungslos.
Tim Caspar BoehmeWill Guthrie klöppelt mit seinem Ensemble Nist-Nah in diese Ruhe rein, Gamelan Freakouts mit der Looseness von Jazz, ein polyrhythmischer Headfuck via Black Truffle, ihr wisst Bescheid.
Florian Aigner Zur ReviewEs gibt Musik, die klingt besonders, und es gibt Musik, die klingt wie nichts zuvor. »Hoya« fällt natürlich in die zweite Kategorie, denn was könnten eine Thereminspielerin mit Theater-Background und ein in transkultureller Abstraktionsarbeit geschulter Drummer schon machen, was sich in irgendeinen fixen Referenzrahmen quetschen ließe? Na, eben, nichts. Fhunyue Gao und Sven Kacirek schrammen hier mal an Minimal Music, fiebrigem (Free) Jazz, humoreskem Noise und dumpfen Dub vorbei, eröffnen aber in erster Linie ihr ganz eigenes musikalisches Koordinatensystem. Bitte eintreten und davor nicht vergessen, alles Vorwissen an der Garderobe abzugeben.
Kristoffer CornilsEbenfalls besser als der Rest: Veröffentlichungen auf YOUTH, Andrew Lysters Label, auf dem Fumu nach Singles und einer CD-Only-Sammlung nun ein echtes Album veröffentlicht hat. »Enter The Anima« rafft jedes Microgenre der letzten fünf Jahre, zerrupft Kelman Durans Ambient-Dembow, streift Drill via Warp, benutzt Industrial als Ablenkungsmanöver für eine, bei all der gescrewten Rhythmik, immer instinktiven Funkiness.
Florian AignerDie Muckerpolizei wird bestimmt anklopfen und erzählen, dass ihr SND schon anno dazumal die Synapsen auf dieselbe Art verknotet haben. Gabor Lázár macht’s aber nochmal anders. »Boundary Object« erinnert durchaus an Mark Fells legendäres Projekt Sensate Focus, in dessen Rahmen der Brite seine Abstraktionen von Bums-, äh, wir meinen natürlich Dance-Musik ähnlich fun und funky klingen ließ wie der Ungar auf diesen acht Tracks hier. Die hochglänzenden Sounds, die wirre Cut-up-Ästhetik und das allgemeine Geruckel machen tatsächlich auch mehr Spaß als das Gros aller House-Nummern aus den letzten… seien wir mal ehrlich: zwanzig Jahren, mindestens.
Kristoffer CornilsEigentlich sollte ich aus Hyperbelgefahr und lächerlicher Befangenheit gar nicht mehr über Equiknoxx-Releases sprechen, aber heiliges Kanonenrohr, die hier als Gav & Jord operierende Riddimfabrik Gavsborg und Time Cow kommen auf »Writing Ov Tomato« der Bitte ihres frühen Förderes Jon K, nur ihre abstrusesten Ideen umzusetzen, aber dermaßen nach. So gut das letzte, songorientierte Equiknoxx-Album war, das hier ist das langersehnte Sequel zu den ersten beiden Alben auf DDS. Next Level, ich wiederhole mich.
Florian AignerIch finde »Plonk« ist der deskriptivste Plattentitel seit Bleep Techno gecoint wurde. Die meisten der vielen, sehr vielen Huerco S Sideprojects waahuhbrrrrmmmten eher, »Plonk« plonkt aber direkt in der ersten Hälfte und kreiiert mal eben nebenbei die Weightless Version von Drill. Danach wird's etwas sphärischer und absehbarer, aber bei diesem dubbigen Ambient-Zeug macht Huerco S ja trotzdem keiner was vor. Wenn jetzt noch jemand anmerkt, dass zumindest der Closer auch auf dem Bonobo-Album hätte sein können, dürfte ich final als Heuchler enttarnt sein.
Florian Aigner Zur ReviewIn unserem LOL-Zeitalter, in dem es nichts mehr wirklich zu lachen gibt, das perfekte Album: Aufrichtig sad und in sich gekehrt spielte sich Jake Xerxes Fussell an genau die Stelle, wo die Brust über dem Bierglas schwebt. Emo-Musik aus dem ruralen US-amerikanischen Raum, oder auch Country-Folk, fürs in die Ferne schweifen bei enger, aber gut durchspülter Kehle. Jake Xerxes Fussell traut sich auf »Good And Green Again« die echten, unverklärten Emotionen zu und macht sie eindrücklich nachfühlbar, nur mit Stimme und Gitarre. »We all marchin’ around very well« ist wahrscheinlich die gegenwärtigste Zeile des 2022 so far, natürlich ausschließlich erreicht durch die Art und Weise, wie Fussell sie hier vorträgt.
Pippo KuhzartDas schönste Jazzalbum des Jahres 2022 ist womöglich gar keines. Der Chicagoer Gitarrist Jeff Parker könnte aber im Zweifel ebenso gut mit dem wie auch ohne diesen Begriff leben. Live eingespielt, für Jeff Parker in dieser Form ein Tonträgerdebüt, sind die langsamen Verschiebungen, mit denen sein Quartett auf »Mondays At The Enfield Tennis Academy« improvisiert, begeisternd beiläufige Gesten des Miteinanders. Als würden sich alle im Gespräch dauernd freundlich wiederholen, bloß dass man am Ende das Gefühl hat, es wurde trotzdem eine Menge gesagt, doch nicht zu viel. Weil es so schön war: Jazzalbum des Jahres.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewAuf Jenny Hvals Alben ist das dahinterstehende Konzept meistens ganz toll und die eigentliche Musik ein bisschen egal. Es sei denn natürlich, sie schreibt ein Konzeptalbum über bestimmte Orte (ja, okay, whatever) und versucht sich dafür Popsongs (jetzt wird’s nämlich spannend). »Classic Objects« zitiert sich vor allem durch die musikhistorische Ära zwischen »Pet Sounds« und »Hounds of Love«, aber das ist eigentlich nicht weiter schlimm und der Sache sogar zuträglich, weil sich Jenny Hval trotz intensiven Studiums der Konventionen eben doch nur die Weirdos zum Vorbild nimmt. Gibt’s auch nur bei Hval: Ihr sonderbarstes ist zugleich ihr normalstes Album. Und ihr bestes obendrein.
Kristoffer CornilsEin Release, der auf den ersten Blick nicht von International Anthem erwartbar war. Das Chicagoer Label war in den letzten Jahren nicht unbeteiligt, Jazz zu entstauben. Auf »Recordings from the Åland Islands« ist Jazz fast verschwunden, nur als Echo einer fernen Vergangenheit erahnbar, als Klavierakkorde auf »Stureby House Piano«, als Coltrane'sche Trompete in »On The Other Sea«. Als würde Jazz als Windzug über Ozeane hinweg zu den finnischen Åland Inseln wehen, auf denen Jeremiah Chiu und Marta Sofia Honer mit ihren Gerätschaften stehen und ihn einfangen. Er ist nun nicht mehr derselbe, verwandelt, hat nichts mehr von seinem Ursprung, außer seine auratische Magie.
Sebastian HinzSchön wär’s, kann man sich da nur denken. Nicht nur, wenn man diesen Titel, »A Time For Healing« liest, sondern auch, wenn man diese Musik hört, oder noch besser: Das Quartett spielen sieht. Kahil El’ Zabar ist fast 70, aber wie er da vorne sitzt und musiziert mit Stimme und Instrument, da lässt sich das alles reinprojizieren, was sonst so verloren scheint: Wahrhaftige Kreativität – als Gegenpol zur Lifestyle-Kreativität, Eigenständigkeit – als Gegenpol zur gleichgeschalteten Individualität –, und Lust und Hoffnung und Verbundenheit. Als Gegenpol zum Rest. Große Musik, überzeitliche Musik, die ihr Dasein jenseits der Dinge gefunden hat, ziemlich sicher viben die Einzeller zu diesem Jazz.
Pippo Kuhzart Zur Review»Living Torch« ist großartig. Aber darüber zu schreiben, warum das so ist, fühlt sich sofort an, als würde man sich auf parfumo.de an Kopfnoten-Analysen beteiligen. Die Platte besteht bei gründlicher Recherche aus zahllosen Komponenten, aber Kali Malones Ambient ist deswegen so gut, weil er mit Ambient nichts zu tun hat und einfach anders schwitzt und atmet.
Florian AignerKendrick Lamar rappt mit variablen Flows und komplexem Storytelling weiterhin auf Pulitzer-Niveau. Das spiegelbildliche Konzept des Doppelalbums geht auf, weil er nach dem dunklen »DAMN.« hier nicht nur seine Traumata offenlegt, sondern diese positiv bearbeitet, nun scheinbar zur Selbstliebe fähig. Obwohl nicht alles Volltreffer sind, überzeugt »Mr. Morale & The Big Steppers« durch einige der besten Beats seiner Karriere und überraschende Featurgäste wie etwa Beth Gibbons. Seinen Messias-Komplex scheint Lamar trotz Dornenkrone auf dem Cover abgelegt zu haben.
Martin SilbermannSchon Leila Sakinis Debütalbum »Vivienne« fand sich vor zwei Jahren in sämtlichen Bestenlisten, dem Nachfolger dürfte es ähnlich ergehen. »Paloma« ist noch klassischer in seinem Angang und wesentlich zwingender in seiner Atmosphäre. In fragile Klavier-Geige-Glockenspiel-Kompositionen baut Laila Sakini hier immer wieder krachende Dramen ein, man rennt in einem wunderschönen und teuren Mantel übers Pflasterstein, innerlich zerrissen natürlich, und liegt dann später in einem durchwühlten Bett bei Kerzenschein, den Regen die Scheibe runterfließen am Betrachten.
Pippo KuhzartMarek Pędziwiatr hat in letzter Zeit mit seinen Bands EABS, Bloto und Night Marks den Polish Jazz aufgemischt und mit Jaubi und »Nafs at Peace« eins der Free-Jazz-Alben 2021 vorgelegt. Irgendwie blieb dann immer noch genug innere Tiefe, um solo - als Latarnik - an einem 100 Jahre alten Steinway-Flügel diese musikalische Biografie seiner Urgroßmutter zu erschaffen. Dass er »Marianna« nur aus Erzählungen und von Fotos kennt, ist der besonderen Zärtlichkeit der Stücke anzuhören, die gängige Konzepte von Spiritualität und Romantik vertauschen und verzetteln. Nicht nur wer gern W.G. Sebald liest, wird daran Gefallen finden.
Jana-Maria MayerBitte, bitte einen nachhaltigen Hyperzirkel für Lucrecia Dalt, die mit »¡Ay!« easily ihr bestes Album bisher veröffentlicht hat. Eine sensationell abgründige Pop-Platte, die Mambo, Merengue und »Twin Peaks« zusammenbringt. Lucrecia Dalts spanische Vocals, nach zahlreichen rein instrumentalen Arbeiten, sind selbst in Spoken Word-Passagen komplett fokussiert und zentral und geben ihren Songs hier ein ganz neues Gewicht.
Florian Aigner Zur ReviewMit dem Cello komische Sachen anzustellen, ist in den vergangenen Jahren zum musikalischen Meme verkommen und ein bisschen schien es so, als könne Mabe Fratti zu der Sache herzlich wenig Neues beitragen. Dann kam »Se Ve Desde Aquí« und damit ein Album, das bisweilen an die gemeinsame Platte von Scott Walker und Sunn O))) erinnert, sich aber B2B mit der neuen Lucrecia Dalt verträgt und Okkyung Lee zum Noise-Showdown herausfordert – und zwischendurch schlicht unfassbar schön und unfassbar schlicht ist. Alle vorigen Alben waren nur Etüden, das hier ist Mabe Fratti, wie sie immer sein sollte. Die Welt muss sich bereit machen.
Kristoffer CornilsAn der überkochten Suppe des Ambient-Topfes versuchen sich ja seit einigen Jahren alle, denen man nicht früh genug den Reverb deinstalliert hat – vom ausgewachsenen Technohead über den 08/15-Rockdude bis zum gefeierten Soulprojekt. In der Regel endet das mit fadem Mittelmaß oder übersalzenem Kitsch auf ganzer Breite. Merrin Karras gehört zu den wenigen, die selbst mit üppigen Synthflächen für die Endlosigkeit ganze Welten schaffen, die nicht nach eingeweichten Brötchen von gestern schmecken. Selbst wenn er – wie auf »Silent Planet« – nur kurz hineintaucht, um im nächsten Atemzug schon wieder davon zu jagen.
Jens Pacholsky Zur ReviewRaime werden auf ewig einen Vertrauensvorschuss bei mir genießen. Auch wenn die Dischord-Referenzen ihres zweiten Albums mit Valentina Magaletti als Moin mich nur über Umwegen erreichen und ich Fugazi et al. immer nur via Skate-Videos in Echtzeit rezipiert habe: alleine der gescrewte Math-Rock von »Forgettng Is Like Syrup« ist eine absolute Sensation. Eine logische Weiterentwicklung zum angedoomten Sound des zweiten Raime- Albums ist das ohnehin, Moin sind aber auf »Paste« dank ihrer ungebremsten Umarmung galoppierender Gitarren und Magalettis energischem Drumming noch näher dran an dem was Raime ohnehin live schon länger gewesen sind.
Florian AignerDas Jahr war keine vier Wochen alt und schon war die Messe in Sachen Deutschrap für 2022 gelesen. Dass OG Keemo mit »Mann Beißt Hund« das narrativ konkurrenzloseste Deutschrap-Album der Geschichte machen würde, ließ sich nach den wenigen vorab veröffentlichten Tracks bereits prophezeien, die Selbstverständlichkeit aber mit der Keemo hier mindestens drei Perspektiven zu einem Block-Prisma zusammenkittet, in dem es weder verlässliche Erzähler noch sozialpädagogische Well-Actually-s gibt, ist so aber auch international beinahe einzigartig. Natürlich muss an dieser Stelle irgendwo der abgelehnte Kendrick-Vergleich kommen, aber allein mit welcher - Vorsicht, Klischee - cineastischen Detailverliebtheit Keemo schon auf dem Opener jeden Quadratzentimeter seines Viertels vermisst, kennt man so eigentlich auch nur von Alben der Größenordnung »Illmatic« oder »The Infamous«. Und das sind nur die ersten drei Minuten. Schluck.
Florian AignerWenn Painting im Opener von »Painting Is Dead« falsche Symmetrien thematisieren, kann von Theresa Stroetges‘ Gesang jedenfalls nicht die Rede sein: ebenmäßig hochfrequent schallt er fürs neue Bandprojekt in die Cochlea. Im Gegensatz zum Textlichen ist stilistisch weit mehr Klarheit. Mit ihrem Entwurf aus grungigen Riffs, Chorgesängen, Synth-Pop mit Sprudel, Dystopie und performativem Eigensinn sind Painting dem behäbigen Begriff der Interdisziplinarität einige Power-Point-Präsentationen voraus. Sie sind das, was die Erfindung des Flipcharts nie geschafft hat. Und nebenbei mit »All My Eggs Go Down the Drain« für meinen Sommerhit 2022 verantwortlich.
Jana-Maria MayerWird ein entstelltes Caspar Hauser-Kind in Tokyos Nachtgassen ausgesetzt und heult den Mond an. Prettybwoy hat mit »Tayutau« ein verstörendes, unruhiges und zugleich verträumtes sonambulantes Album in die Welt geworfen, das den Tokyoer Produzenten durch die Zeit von 2018 bis 2021 begleitete. So werden befreite Clubbanger von isolationsgepeinigten Klaustrophobien gebissen und mit Sehnsüchten nach Verbindung und Menschlichkeit umgarnt. Der musikalisch authentischste Pandemie-Breakdown inklusive komplettem Verlust der eigenen Körperlichkeit. Allein das Artwork von Wang Jingxin reicht für drei Jahre Albtraum.
Jens PacholskyUnderground Hip-Hop würde ohne Roc Marciano und The Alchemist nicht so klingen wie er heute klingt. Fakt! Fragt mal bei Griselda und Konsorten – oder auch bei Drake – nach. So war klar, dass alle Augen auf die beiden Underground Kings gerichtet sind, wenn sie zur längst überfälligen Elefantenrunde laden. Eiskalt wie einst Rakim kredenzt Roc Marci darauf endlose Quotables, die mindestens so bedeutungsschwanger daher kommen, wie der Albumtitel »The Elephant Man's Bones« selbst. Das klingt mal bedrohlich düster, mal minimalistisch experimentell und setzt die Messlatte für das Subgenre für die kommenden Jahre locker aufs nächste Level.
Benjamin MächlerIn vielerlei Hinsicht ist Rosalía verglichen mit Beyoncé heute der aufregendere Popstar, der Diskurs um das Phänomen ist nur nicht halb so masturbatorisch. »Moto Mami«, inzwischen auch physisch erschienen, bleibt aber auch jenseits kompetitivem Journo-Bubbling ein instant 100% körperliches Album mit einem Peak-Neptunes-Brett von einer Leadsingle, der Type of Shit über den N.O.R.E. wie Timberlake 2002 gleichermaßen unantastbar geklungen hätten.
Florian AignerStell dir vor, du trägst dein Drogenköfferlein in die Wüste von Nebraska – ein Scheißort, um sich was reinzupfeifen – und pfeifst dir was rein. Die Weite wacht auf. Die Nacht wird lebendig. Plötzlich schrammelt jemand auf der Klampfe rum und gurgelt in der Stimmlage des Marlboro Mans in ein Mikro, das aus einem Kaktus wächst. Tja, Roy Montgomery, der Kiwi unter den Steppenwölfen, pleast das US-Label Grapefruit seit Jahren mit What-the-Fuck-Moments. »Audiotherapy« passt deshalb perfekt – zur nächsten Kopfmassage.
Christoph Benkeser Zur ReviewWer sich nichts Spannenderes als Drones und Dichteleien vorstellen kann, euphorisiert sich mit »Songs For Sad Poets« bis zum musikalischen Leistenbruch. Dass Siavash Amini, der Iraner mit dem Knisterknacks, den Deep-Listening-Dreh raushat und Musik für die Metallverarbeitungsanlagen zusammenbastelt, dürften Ekstase-Experten bereits erahnen. Warum Thacker als Horror-Philosoph für Hallow Ground mitwirkt, wird nach drei Geisterbeschwörungen und einer feuchten Unterhose klar.
Christoph BenkeserMystifizierter Folk mit Fourth-World-Anleihen aus Slowenien, »The Liquified Throne Of Simplicity« von Širom dürfte dieses Jahr noch an einigen Bilanz ziehenden Stellen auftauchen. Hier wird, neben unzähligen anderen Instrumenten, tatsächlich auch die Lyra gezupft. Dem mittelalterlich verklärten stehen zum Glück die fiebrigen Stammestrommeln gegenüber, so dass man nie so richtig weiß, ob das jetzt heikel LARP-y oder allumfassend geil ist. Ur-eigen jedenfalls ist es und das ist ja schon per se ganz schön was.
Pippo Kuhzart Zur ReviewAuch wieder zwingendes gibt es aus Göteborg, natürlich aus dem Umfeld von Förlag For Fri Musik. »Mitt Stora Nu« ist das zweite Album von Treasury Of Puppies, ein selbstbewusster Schritt weg von der murmelnden Introvertiertheit des Debüts, Rotz n Roll Hit inklusive. Dazwischen Lo Fi Folk, eiskalte Synths und skandinavischer Existentialismus.
Florian Aigner Zur ReviewNein, das ist kein Co-Release zwischen Faitiche, Lo-Fi Girl, Dean Blunt und einem YouTube-Kanal für Smooth-Jazz-Vaporwave, sondern die neue Ulla. Ja, Ulla Straus, die mit dem Händchen für Rhythmbient und Kollabos mit fragilen Klangpoetiker:innen wie Perila im Backkatalog. »Foam« ist der perfekte Titel für ein Album, auf dem alles weich und formbar scheint, das quietscht und sich dehnt, polstert und doch entfremdet. Als wäre Oneohtrix Point Never nicht in Richtung Stadionrock abgedriftet, weil er einfach nur mal in Stadien spielen wollte. Als hätte jemand eine KI dazu gezwungen, alle Tiny-Mix-Tapes-Reviews zu neuer Musik zusammenzurechnen.
Kristoffer Cornils»Yarai Sa Doom« aus dem Vorjahr war ein klares Highlight und dass das Wau Wau Collectif mit »Mariage« dermaßen schnell nachlegen kann, liegt vor allem daran, dass die grundlegenden Aufnahmen dafür bereits vier Jahre alt sind. Erneut zeigt sich das Kollaborationsprojekt zwischen senegalesischen Musiker:innen unter der Führung von Arouna Kane und Karl Jonas Winqvist aus Schweden als Geistesverwandte von Umeko Ando, Chouk Bwa & The Ångstromers oder Labelmate Luka Productions: DieTrennlinien Tradition und Gegenwart werden in ihrer musikalischen Praxis nicht etwa zusammengeführt, sondern komplett ignoriert. Das Ergebnis ist visionäre Musik, gleichermaßen geerdet wie dubbig-kosmisch und entzeitet. Schwer zu erklären, leicht zu verstehen.
Kristoffer CornilsVom Scope her natürlich bescheidener als Coby Sey's »Conduit« und in seiner Inspiration mindestens noch 15 Jahre weiter zurück geht Yuta Matsumura auf »Red Ribbon«, eine dieser Platten, die nur auf Low Company erscheinen kann, obwohl es mittlerweile locker zwanzig ernstzunehmende andere Anlaufstellen für diesen ungeduschten Outsiderpop gibt. Der Champions League-Scheiß kommt immer noch über Low Company und ihr könnt euch locker zwölf Tapes pro Monat schenken.
Florian Aigner