Happy birthday, dear walkman! 45 Jahre alt ist unser (nach den Technics) zweitliebstes Musikabspielgerät geworden, die Musikkassette selbst bringt es auf 61 Lenze. Seit einigen Jahren wird ein neuerlicher Hype um das Tape herbeifabuliert, wir aber wissen natürlich: Die Dinger waren nie weg, und nur weil, weil Guardians of the Galaxy sie wieder für die Stranger Things-Fans zur Billy-Regal-Deko gemacht haben, macht das noch lange keinen Boom aus. Und wenn es ihn gibt, kommt er uns nicht zugute: Wie auch Vinyl ist die MC mittlerweile teurer geworden. Anders wäre schöner.
Also, warum Tapes? Klar, sie nehmen weniger Stauraum weg und passen in jede Hosentasche. Aber sie sind auch schneller verschlissen und wer mit ihnen Musik hört, hört das Medium mit. Das eben macht ja ihren Charme aus, das macht diese eigentlich antiquierte Technologie in Zeiten reibungsloser Lossless-Wiedergabe im Streaming-Umfeld (mit Ausnahme von: Spotify) so wichtig. Das Tape erinnert uns daran, dass da echte Menschen echte Arbeit erledigt haben, deren Reproduktion ihrerseits ein bisschen Arbeit einfordert. Einsichten, die uns kein Smartphone je vermitteln wird.
Tapes sind keine Modeerscheinung
Dass die Musikkassette keine Modeerscheinung ist, das beweist auch unsere Auswahl der 20 besten Tapes aus dem Jahr 2024. Labels wie Not Not Fun und The Tapeworm feiern ihr jeweils 20- und 15-jähriges Jubiläum, Constellation Tatsu und The Trilogy Tapes sind ebenfalls schon seit über einem Jahrzehnt dabei. Vergleichsweise junge Labels wie Warm Winters Ltd., Possible Motive oder Big Tobacco setzen auch darauf, sogar Stroom~ stieg in diesem Jahr ins Kassetten-Game ein. Sinnig ist das nicht nur, weil für Tapes noch nicht dieselben horrenden Preise aufgerufen werden wie für Vinyl.
Außerdem eignet sich manche Musik am besten fürs Magnetband. Ruckeliger Ambient-Noise von Angelo Harmsworth klingt ebenso wie die Overdrive-Power-Electronics von den Yellow Swans im Walkman am besten, sonderbare Sound-Art von Carla Boregas, Delphine Dora & Anaïs Tuerlinckx oder Ubek entfaltet nur so ihre volle Wirkung. Diemajin und Gavsbourg erinnern derweil daran, dass auch das klassische Beat-Tape noch lange nicht an seinem Ende angekommen ist. Ob also mit Tapedeck am Baggersee oder mit dem Walkman in der Tasche: Wir feiern auch dieses Jahr über 60 Jahre Bandsalat! Kristoffer Cornils
»Wer mit wenig auskommt, ist nicht arm«, steht auf mancher Toilettenwand geschrieben. Und eigentlich fehlt da noch ein Nachsatz, aber: Der Spruch passt wirklich zu gut zu Angelo Harmsworth, der »Without Blinking« auf dem hervorragendem Label Warm Winters Ltd. veröffentlicht. Er ist nämlich einer, der mit wenig auskommt und dann doch, Obacht, ganz schön viel draus macht. Damit kann man sich dann eine Dreiviertelstunde befüllen, ohne zum Beispiel mit den ihr-wisst-schon-was zu zucken.
Christoph BenkeserWirklich sehr gut, vielleicht der Beste: Brendon Moeller. Er behandelt mit notfallmedizinischer Sorgfalt, was andere durch Sample-Packs mit Delay-Presets verbrechen: Dub, Techno und den wahren Grund für den absoluten Trip. Den kann man nur nehmen, wie er kommt. Aber die Umstände, da muss man sich nix vormachen, die kann man sich schon recht förderlich zurechtlegen. Zum Beispiel mit diesem »Signal« auf Constellation Tatsu, juhu!
Sebastian HinzRausschauen aufs Meer, die Weite, und dann sagen: Man kommt sich ganz klein vor, so als Mensch. Immer wieder gut, weil es stimmt und wenn man genau hinhört, hört man hier sogar die Wellen, die aus New York kommen oder von woanders. Jedenfalls hat Carla Boregas ihr Mikro aufs Meer gerichtet. Rauschen und dann rumreichen, um noch ein paar Überreste von Cello und Bass aufzugabeln. 50 Minuten können so ganz kurz sein bei The Tapeworm, die dieses Jahr ihren 15. Geburtstag feiern.
Christoph BenkeserDie Vokalakrobatin Delphine Dora und die Pianoentweiderin Anaïs Tuerlinckx starren ins Auge der Tigerin – so zumindest ließe sich der Titel ihres gemeinsamen Albums »L’oeil de la Tigresse« für das konsequent wunderbare schwedische Label Possible Motives übersetzen. Dora flüstert oder singsangt mit sich selbst im Kanon, während ihr Tuerlinckx mit Piano, Stringbox und anscheinend viel elektronischer Manipulation eine Bühne aus strangen Sound dafür aufklappt. Ein eindringlicheres, gar gruseligeres Album war in diesem Jahr nicht zu hören.
Kristoffer CornilsDu zockst seit zwölf Jahren Japanisch mit Duolingo und jetzt fährst du rüber, kommst zurück, sagst: »Boah, echt alles ganz anders«. Und dann stehst du in Berlin mit fünf anderen in einem schimmligen Keller, vorne beschwört einer den Teufel, vielleicht auf Japanisch, so steht es auf dem Flyer - Diemajin, beide aus Japan, der eine jetzt nicht mehr - und du denkst, was für ein Zufall, man versteht echt nix. Geil oder wie das Label schon heißt: Drowned By Locals!
Christoph BenkeserGavsbourg ist als Equiknoxx-Mitglied sowieso ein Regular in unseren Jahres-Charts, »Presents : Select« dann noch einmal ein ganz besonderes Release: 40 Minuten unveröffentliches Material aus dem Giftschrank des jamaikanischen Produzenten, die als streng limitiertes Tape parallel zu einem von Gavsbourg entworfenen T-Shirt-Design für das Modelabel Edwin veröffentlicht wurde. Klingt an sich wie ein schaler Marketing-Zug, klingt als Musik aber voll nach Gavsbourg: treibend, trocken, essentiell.
Kristoffer CornilsDungeon Synth hat das unwahrscheinlichste Comeback der letzten Jahre hingelegt und Ethan Williford aus dem sonnigen Memphis, Tennessee gehört zu einem der führenden Genre-Erneuer:innen. Unter dem Pseudonym Hewer Of Caves hat er in den vergangene vier Jahren neun Soloalben veröffentlicht, unter denen »A Dance Of Sun And Moon« für Big Tobacco als eine Art Retrospektive der Gegenwart dient: Frühe Kompositionen, deren Veröffentlichung vielleicht den Schlussstrich unter seinen Tätigkeiten zieht. Hypnagogisch, melancholisch, verspielt und kindlich, abgrundtief und dunkelbunt zugleich.
Kristoffer CornilsZugegeben, die frühe 2000er Laptop-Ästhetik von »Salt Water« triggert mich total. Wenige Musik hat mich in diesem Jahr so begeistert wie diese unerwartete Zusammenarbeit zwischen Klara Lewis, einer der wohl interessantesten Musikerinnen im Bereich der elektronischen Musik der letzten Jahre, und der japanischen Gitarristin Yuki Tsujii, bekannt von Bo Ningen. Beide leben in Stockholm. Lewis macht es sich zur Aufgabe, unkonventionelle Loops zu finden, Tsujii knallt knorrige Gitarrenriffs rein. Die Soundästhetik ist von einer wohligen Körnigkeit geprägt. Erinnert ein wenig an die Zeit, als Fennesz, O'Rourke und Rehberg zusammen musizierten. Hat gleichzeitig aber auch so eine New Wave-artige Kantigkeit. Und ist herrlich unvollkommen.
Sebastian Hinz»Airdrop« ist eines der zwei Alben, die Low End Activist in diesem Jahr veröffentlichte. Im Vergleich zu den Hardcore-Continuum-Abstraktionen von »Municipal Dreams« geht der in Berlin lebende Brite im Verlauf dieser neun Tracks noch radikaler mit seinem Ausgangsmaterial um, nimmt Hoover-Sounds durch die Mangel und lässt Jungle-Breaks zentrifugal auseinanderfliegen. Zwischendurch reibt sich sogar eine Garage-Vocal-Hook an sauren Basslines. Das weckt Erinnerungen an Lee Gambles »Diversions 1994-1996« und Death-of-Rave-Panel-Diskussionen, ist vor allem aber ideales Tape-Material: ein rauschend-verrauschtes Comeback der Gespenster der Vergangenheit.
Kristoffer CornilsMaz Gilkes hat sich als Pseudonym den Titel der angeblich schlechtesten »Black Mirror«-Folge ausgewählt und lässt sich vom Label »Recommended if you like Sarah Davachi, Aphex Twin, Klein, Low« in den Pressetext schreiben. Alles daran ist stimmig, denn »Go ‘Swish« denkt Orgel-Ambient und Dronemusik als Albtraum-Soundtrack. Wohlige Moment der Klarheit stehender Töne gibt es unter diesen 13 Stücken viele zu erleben, genauso aber auch kaputte Sounds, die immer wieder Kontrapunkte setzen. Mazy Day macht bipolare Musik im besten Sinne des Wortes.
Kristoffer Cornils20 Jahre sind für jedes Label eine lange Zeit, bei einem vorrangig auf ein vermeintliches Nischenmedium spezialisiertes Imprint wie Not Not Fun allerdings umso mehr. Freak Folk kam und ging, Lo-Fi-House kam und blieb, kosmische Synthesizer-Exkursionen waren immer irgendwie da. Die Doppel-MC »Casino 2223« von den New Mexican Stargazers, ironischerweise ein in Tennessee ansässiges Solo-Projekt, verwebt die verschiedenen Stränge im Katalog der Manchmal-Label-Homebase zu eleganten Texturen, als wolle es NNF ein verschwurbeltes Geburtstagslied singen.
Kristoffer CornilsDie »Acid Dub Studies«-Serie des hyperproduktiven Briten Om Unit läuft seit mittlerweile drei Jahren. In dieser Zeit hat Jim Coles die beiden Genres beziehungsweise Soundästhetiken beziehungsweise Produktionsmethoden auf immer wieder überraschende Arten miteinander gekreuzt und sie schließlich Ende 2023 gemeinsam mit der Video-Künstlerin Marta Pang für eine Live-Show auf Ambient-Level eingedampft. »Acid Dub : Redux« dokumentiert die 45-minütige Performance und ergänzt sie im Artwork der Kassette durch Stills von Pangs visuellem Kommentar auf das zu Hörende.
Kristoffer CornilsStell das Soundsystem auf. Und dann noch eins. Dort drüben geht sich auch eins aus – bis wir irgendwann genug Bass für diesen Dub beieinander haben. Der erfüllt bei Scopeotaku die Minimalanforderung. Er schiebt rum. Und hallt nach, nach, nach. Dazwischen: endlose Tiefe auf der Smartphone-Oberfläche. In der darf man sich dann fragen, wieso noch nicht alles verschwunden ist. Oder ob sich da hinten links nicht eventuell doch noch ein Subwoofer ausgeht.
Christoph BenkeserDas belgische Label STROOM 〰 bringt seit diesem Jahr auch Kassetten heraus. Das ist natürlich gefährlich für alle anderen Labels in Bezug auf die Jahresendlisten, denn das Risiko, verdrängt zu werden, ist groß. Drei tolle Tapes sind erschienen. Das erste von Florian T M Zeisig, das letzte von Ben Bertrand & Manah Depauw. Dazwischen das selbstbetitelte Debüt von Temir Alcy, bekannt von Dali Muru & The Polyphonic Swarm. Zu hören sind neun quecksilbrige Trips in die kosmische Natur. Eine der Welt zugewandte und zugleich von ihr abgewandte Musik, Geistertänze und Weltmotetten.
Sebastian HinzNachdem sich ihr Duo-Projekt mit Sayaka Botanic, group A, anscheinend aufgelöst hat, bleibt Tommi Tokyo unter dem Namen Tot Onyx weiterhin sehr produktiv. Neben der LP »Satire Of Desire« war »T.O.1.« ihr zweites Release in diesem Jahr. Die acht Stücke dokumentieren Vorbereitungen auf ihre Live-Performances und sind als erster Teil von regelmäßigen »annual reports« zu verstehen – wobei die Wortwahl aller Wahrscheinlichkeit nach bewusst in Anlehnung an Throbbing Gristle erfolgt ist. Industrial, Drone, spröde Musique concrète: abgründige Klänge für unschöne Zeiten.
Kristoffer CornilsHinter dem Namen Ubek verbirgt sich angeblich ein Duo aus Gdańsk, allerdings ist über das »mysteriöse polnische Duo« ansonsten sehr wenig herauszufinden. Nach zwei Tapes für das Discrepant-Sublabel Sucata in den Jahren 2017 und 2020 kehrten Ubek nun mit einem dritten Teil zurück, der auf den bewährten Plunderphonics-Ansatz setzt und sein bisweilen höchstbanales Ausgangsmaterial – Radiomitschnitte, Filmdialoge, Synthesizerklänge verschiedenster Provenienz kommen hier anscheinend zum Einsatz – zu sehr trippigen, hochgradig dynamischen Klangcollagen verleimt. Ist dann auch egal, wer dahintersteckt.
Kristoffer CornilsHeute ist alles roh – das Steak, die Stimmung, sogar der Sänger. Dabei kommt er aus Paris, aber das ist ja egal. Veins Like Vines gibt jedenfalls den gescheiterten Opernsänger im Hinterzimmer des letzten verbliebenen Subkultur-Schuppens kurz vor der Ausfahrt ins Nirgendwo. Die Gitarre fuckt das Schlagzeug an und schon gibt’s Stress ohne Grund – geschlichtet wird mit Gegenwind. Aus der Oper. Ins Endless Chaos.
Christoph BenkeserGabriel Mindel Saloman und Pete Swanson gründeten ihr Digital-Noise-Techno-Projekt Yellow Swans im Jahr 2001 und veröffentlichten bis 2009 eine Vielzahl von Alben und anderer Releases, zogen sich dann aber abrupt zurück – bis die Pandemie kam und ihnen Zeit gab, in denen Archiven zu kramen, altes Material neu zu veröffentlichen und dann doch irgendwie Bock auf Konzerte zu bekommen. Die beiden Teile von »Out of Practice« dokumentieren ihre ersten Reunion-Konzerte. Ungeübt mögen sie während dieser gewesen sein, eingerostet jedoch keineswegs.
Kristoffer CornilsDas kreativste Tape-Release des Jahres lieferte Kashual Plastik bereits im Januar mit »Die Tödliche Doris im Bausatz« ab, aber auch die ohne IKEA-Zusammensetz-Anleitung kommende Compilation »Ministry of Excess« wusste zu überzeugen. 21 Mal wirklich weirde Sounds von Label-Regulars wie Greymouth, Natalia Beylis oder Laure Boer sowie zertifizierten Underground-Ikonen wie Gen Ken Montgomery und Altar of Flies zwischen Rumpel-Industrial, DIY-Soundart, Abstrakto-Noise und, hey, zwischendurch auch mal einer recht straighten Klaviernummer: Nichts passt hier zusammen, alles reibt sich aneinander. Das hält warm.
Kristoffer CornilsDer Tango fand nach dem Ersten Weltkrieg nach Europa und landete zuerst in Beyoğlu, bevor er ganz Türkiye erreichte. Nach der Gründung der Republik unter Kemal Atatürk erfreute sich der argentinische Tanz im ganzen Land großer Beliebtheit, die nachhaltig sein sollte: Die Stücke auf »The Past Is A Wound In My Heart«, eine Zusammenstellung türkischer Tango-Stücke durch Death Is Not The End, wurden zwischen den 1920er- und 50er-Jahren aufgenommen. Der Tonfall ist meistens, aber nicht immer dramatisch, die Atmosphäre der Verrauschtheit der Aufnahmen wegen gespenstisch. Very tango, so gesehen.
Kristoffer Cornils