Jenseits von Bravo-Hits und Kontor-Samplern sind Compilations Sammelbecken für Gespenster der Vergangenheit, Umschlagplätze für alternative Produktions- und Distributionsmethoden und Verständnisschlüssel für das Leben und die Leiden von Randgänger:innen, Marginalisierte und Vergessene.
Ein Einblick in die Highlights der Funk-Industrie der DDR reiht sich in den folgenden 20 Schallplatten neben aktuelle Blasmusik aus Japan und über WhatsApp quer durch die Sahara verschickte Musik ein. Ägyptische Kassettenkultur aus den 1980er-Jahren wird ebenso in die Gegenwart übersetzt wie der Gwoka-Sound von Guadeloupe oder die absonderlichen Heim-Experimentchen irgendwelcher Amis quer durch die Jahrzehnte.
Regionen, Szenen, musikhistorische Ären und gegenwärtige Trends: Das alles findet auf zwei bis sechs LP-Seiten zusammen und darf von uns nach Hause genommen werden. Wie glücklich wir uns schätzen können, mit Musik so viel über das Gestern und das Heute, über nah gelegene und weit entfernte Länder und Kultur lernen zu dürfen. Kristoffer Cornils
»Welcome to the ›America Dream Reserve‹, home to husband & wife duos, pub legends, one-man-bands, preachers’ sons, and country-lounge entertainers«. Klar schaltet man da ein. Und dann nicht mehr ab. Man fühlt sich zu diesem Drumcomputer-Folk-Yacht-Rock als hätte man einen Duster-Mantel an, sieben Kurze intus, in inniger Verbindung mit diesem Tresen in dieser maximal beliebigen Karaoke-Bar im Mittleren Westen.
Pippo KuhzartMarkus Acher kompiliert ein Album mit japanischen Indie-Bands, bei denen Blasinstrumente eine zentrale Rolle spielen: Da wundert man sich natürlich nicht. Stattdessen freut man sich zuallererst, lauscht gespannt, wird abgeholt, ins gut-temperiert-kalte Wasser geworfen und mitgerissen – und trotz ausbleibender Verwunderung auch noch angenehm überrascht. Kein Wunder: Die 22 Tracks der Compilation »Alien Parade Japan« trennen teils drei Jahrzehnte hinsichtlich ihrer Entstehungszeit und pfeifen auf Genre-Grenzen. Da kommt einiges zusammen.
Christian Neubert Zur ReviewMigration ist ja schon länger ein Thema für Deutschland. Manches davon wird einem erst im Nachhinein klar. Dass in deutschen Großstädten etwa die nächste Zündstufe des ghanaischen Highlife, der »Burger Sound«, produziert wurde. Mangelnder Aussichten im eigenen Land wegen waren viele Musiker nach Europa gekommen, hierzulande entstand dabei eine stark elektronische Variante von Boogie-Highlife in den Tonstudios. Die hat, wie »Borga Revolution! Ghanaian Music (1983-1992)« zeigt, die Jahrzehnte bestens überdauert: Thomas Frempongs »Mada Meho So« etwa ist ein echt berührender Song, der Hit werden müsste.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewDie rhythmische Nähe zu Disco-Funk, die aufreibend-psychedelischen Tonalitäten zwischen Gamelan und Acid, der melismatische und doch akzentuierte Gesang: Es ist eigentlich ein Wunder, dass Molam auf den Dancefloors dieser Welt keinen größeren Stellenwert hat. Umso willkommener ist da diese Compilation des japanischen Labels EM Records, die Produzentenschwergewicht Surin Phaksiri Tribut zollt. War ein erster Sampler noch seinen Luk-Thung-Arbeiten gewidmet, geht es hier um, der Untertitel sagt es ja, »Molam Gems From The 1960s-80s«. Obwohl einige Gruppen mit mehreren Stücken vertreten sind, eröffnet sich auf vier Schallplattenseiten doch eine beeindruckende stilistische und klangliche Bandbreite. Absolut essentiell. Kristoffer Cornils
Kristoffer CornilsYasuhiro Morinaga ist ein eifriger Sammler von Aufnahmen regionaler Musiktraditionen. »Exploring Gong Culture In Southeast Asia. Mainland and Archipelago« bietet, was der Titel verspricht: 35 beziehungsweise auf Schallplatte zwölf Aufnahmen sehr verschiedener Stücke, die auf unterschiedlichen Typen von Gongs eingespielt wurden, wie sie von diversen ethnischen Gruppen in Südostasien verwendet werden. In Vietnam und Kambodscha, auf den Philippinen und verschiedenen indonesischen Inseln hat Morinaga unterschiedliche Musiken dokumentiert, die durch Linernotes und Fotografien im umfangreichen Booklet in regionale, soziokulturelle und (musik-)historische Kontexte eingebettet werden.
Kristoffer Cornils Zur ReviewBristol Anfang der 1980er-Jahre, ein Plattenladen, eine ganz eigene Ästhetik und das daraus entstandene Label Recreational Records. Es ist vor allem die Energie dieser Musik, die 2022 so different hittete, einem Jahr, in dem der »Irokesenschnitt« wieder pop war, Punk als gelebte Haltung aber so tot wie nie erschien. Auf »Get It Right: Afro Dub Funk & Punk Of Recreational Records ’81-’82« macht niemand irgendwelche Anstalten, sich zu entschuldigen, hier wird Post-Punk mit Funk, Dub und Tribal gemischt und auf die verregnete Straße gespuckt.
Pippo Kuhzart Zur ReviewEr ist also da, der offizielle Nachfolger der Jahrtausend-Compilation »Sky Girl«. Dieses Mal zusammengestellt von Ivan Liechti, falls das jemand was sagt, top Name jedenfalls, und ein Kenner ist der Mann auch. »Ghost Riders« versammelt 17 naive Garage/Folk-Tracks aus Nordamerika, aufgenommen zwischen 1965 und 1974 und bis lang von halt so ziemlich niemandem je gehört. Wie auf »Sky Girl« besitzt auch diese Comp. eine große erzählerische Stärke (wenn auch nicht die Abwechslung), Herzschmerz und Motorschaden, man strandet auf einem langen Highway, Staub auf den Jeans, unerwiderte Liebe im Gepäck und einen Durst in der Kehle, dass es kracht.
Pippo Kuhzart Zur ReviewOft sind geografische Grenzen weitaus durchlässiger für Ideen als für Menschen. Auf der anderen Seite der Mauer experimentierten Musiker und Musikerinnen so erfolgreich wie virtuos mit Einflüssen der Schwarzen Musik: Da gab es Funk und Soul mit zwingenden Grooves, euphorischen Streicher-Arrangements und beseeltem Gesang – nur eben mit deutschen Texten. Nicht nur wer populäre Musik aus der DDR bislang vor allem mit Karat und den Puhdys assoziierte, wird auf der von Max Herre und Dexter zusammengestellten Compilation »Hallo 22 DDR Funk & Soul Von 1971-1981« große Augen machen.
Andreas Schnell Zur ReviewBraucht man Synthesizer-Sounds aus Ex-Jugoslawien, haut man Višeslav Laboš auf Facetime an. Der Kroate spürt seit mindestens vier Jugo-Samplern den Underground-Shit zwischen Amiga und Jugoton auf. Weil Black Pearl Records aus Berlin den Bosporus schon kartografiert hat und jetzt der Balkan dran ist, hat Laboš wieder was zu tun. Die Songs, die er auf die Seven Inch »Jugotronic EP« packt, herzen das Casio-Keyboard und feiern den Four-Tracker. Rauscht wie auf der Abifeier 97, knallt aber die bessere Playlist raus.
Christoph Benkeser Zur ReviewDer nächste Beweis für den wachsenden Ausnahmestatus von Time Capsule. Das auf Ausgrabungen fast verlorener Schätze weltweiter Musikkultur spezialisierte Label aus London widmet sich mit »Lespri Ka: New Directions In Gwo Ka Music« rund dreißig Jahren Gwoka Musik, den Traditionsklängen des karibischen Archipels Guadeloupe. Komplexe Rhythmen, entrückte Call-and-Response-Gesänge und eine Vielzahl von Einflüssen aus Jazz, Funk und Elektronik machen den Sound dieser Kompilation zu einem unkonventionellen, semi-psychedelischen Erlebnis besonderer Art – abenteuerlich, ungestüm, unverfälscht.
Nils SchlechtriemenWissen ja viele gar nicht: Auch heutzutage wird in Japan noch Musik gemacht. Statt sich nur auf DJ Sidebar oder die einschlägigen Reissue-Labels zu verlassen, lohnt sich der Vertrauensvorschuss für Markus Acher und Saya Ueno: »Minna Miteru 2« knüpft an der ebenfalls exzellenten Vorgänger-Compilation an und erweitert das stilistische Miteinander zwischen Minimal-Folk, Indie-Pop und Blubbertronics noch um weitere Facetten: Bröckel-Beats von Daisuke Tanabe, Orgel-Ambient von FUJI||||||||||TA und Hyper-Polka von Tenshinkun sind ebenfalls zu hören. Vereint werden sie vom Flair des Unfertigen, Imperfekten – das heißt einem allumfassenden Gefühl von Freude. Schlagt jetzt zu oder kauft sie in 20 Jahren bei Light in the Attic für den doppelten Preis!
Kristoffer Cornils Zur ReviewDer musikalische Reichtum der größten Trockenwüste der Welt steht im Zentrum der mittlerweile beinahe legendären Reihe »Music From Saharan Cellphones«, die in »Music From Saharan Whatsapp« ihre zeitgemäße Fortsetzung findet. Vom bluesigen Rock der Tuareg über HipHop und Techno bis zu traditionelleren Sounds, in deren Klang die Entwicklung der Produktionsmittel eingeschrieben ist: Drum-Computer und Autotune treffen gehen mit eher traditionellen Spielweisen faszinierende Verbindungen ein.
Andreas Schnell Zur ReviewJede:r und alles trancet. DJ Heartstring, KI/KI, Narciss, Marlon Hoffstadt und tausende weitere Künstler:innen popularisieren seit diversen Monaten wieder eine Musikrichtung, die vor ein paar Jahren noch totgesagter war als die Karriere von Gieglings Konstantin anno 2017. Den Ursprüngen des Genres spürt »Planet Love 2: Early Transmissions 1990-95« auf dem holländischen Label mit dem bezeichnenden Namen Safe Trip nach. Und, siehe da: Höher, weiter schneller ist hier nicht das Credo, im Gegenteil: Die Tracks betonen die psychedelische, bewusstseinserweiternde Seite von Trance und zeigen damit, wessen Geistes Kind das Genre eigentlich mal war.
Maximilian Fritz Zur ReviewJD Twitch kam nach Japan, diggte sich durch die Crates und fiel den weirden Synth-Experimenten der frühen bis mittleren 1980er-Jahren auf Labels wie Yen und Better Days anheim. Ja, »Polyphonic Cosmos: Sonic Innovations In Japan (1980-1986)« hat die erwartbarste aller Origin-Storys und bietet obendrein noch sehr, sehr viel Bekanntes von den üblichen Verdächtigen wie Masumi Hara, Yasuaki Shimizu, Geinoh Yamashirogumi und … eh klar, Ryūichi Sakamoto. Keine Frage, das hier ist ein Einstiegswerk beziehungsweise eine handliche Zusammenstellung für DJs, die gerne für jeden möglichen Dancefloor-Aggregatszustand den richtigen Tune parat haben möchten. Sie ist aber schön sequenziert und wartet bisweilen mit ein paar klanglichen Überraschungen auf.
Kristoffer Cornils Zur ReviewEine Reise in die fremde Welt der Sonideros, der Betreiber von Soundsystems in Mexiko. Die spielten seinerzeit Cumbia-Platten langsamer ab und versahen sie mit diversen Zugaben, die sich selbstgebauten Tonhöhereglern und anderen Soundeffekten verdankten. Das Ergebnis, die Rebajada, zu Deutsch »das Reduzierte«, ist ein ganz kleines bisschen wie der Dub Lateinamerikas. Selbst Echo- und Halleinsatz gibt es auf »Saturno 2000«, dazu gelegentliche Field Recordings, das alles durchaus mit einigem an psychedelischer Wirkung. Reduktion einmal etwas anders.
Tim Caspar Boehme Zur ReviewMusik ist keine Universalsprache, Disco schon. Es gibt ja auch an einem stampfenden Four-to-the-Floor und großen Gesten wenig falsch zu verstehen. WeWantSounds beweist mit »Sharayet El Disco: Egyptian Discos & Boogie Cassette Tracks 1982-1992« einmal mehr, dass der Soundtrack der queeren New York City in wirklich jede Ecke der Welt vordrang und dort unter lokalen Bedingungen für die dortigen Crowds sofort verständlich gemacht wurde. Bisweilen werden deutlich die bekannten Originale zitiert, manchmal wird es unfassbar cheesy und in den allerbesten Momenten slappt der Bass zu Chaabi-Keys: Die Bandbreite dessen, was hier auf recht simple rhythmische Grundgerüsten gepfropft wurde, ist absolut beeindruckend. Eine ebenso detail- wie abwechslungsreiche Zusammenstellung.
Kristoffer CornilsArgentinische Popmusik ist eng verwoben mit der Geschichte des Landes. Nach Jahren der Zensur erfährt sie in den 1980ern einen Aufschwung. Der Sampler »Síntesis Moderna« widmet sich dieser experimentierfreudigen Phase. Techno, Funk, Post-Punk und Italo Disco – auf den 19 Stücken vermischen Künstlerinnen und Künstler die Stile so wild, wie die Zeiten damals gewesen sein müssen. Nach Jahren des Stillstands einfach mal machen, lautete das Motto in den Studios von Buenos Aires, Córdoba und Rosario.
Stefan Mertlik Zur ReviewMan will wahrscheinlich nicht dabei gewesen sein, als die Protagonist:innen von »Spirit Of France« in den Siebziger in irgendwelchen Höhlen musizierten, Narzissmus, Nagellänge und Meinungsstärke waren sicherlich ausgeprägt unter diesen Folks. So viel nur zu Vorurteilen und Beipackzettel. 2022, dem Jahr des endgültigen Aus' der Hippies, ließ sich das aber köstlich von der bürgerlichen Couch genießen. Was hier abgespult wird, pustet Geist in zynische Mittelstands-Existenzen. Wilder, weitläufiger und natürlich sehr spiritueller Jazz, teilweise nicht weniger als sensationell (»Bujumbura Lyon«).
Pippo Kuhzart Zur ReviewAmateur & non-amateur music, so schreibt es sich das Londoner Label World of Echo auf die Fahne. Spät in diesem Jahr erschien dort »Thorn Valley«, diese absolute Wonne einer Compilation. Die erste Seite besteht aus entrücktem, kauzigem, weggeschlossenen D.I.Y-Kammer-Folk aus den Heimstudien meist unbekannter Träumer:innen, der Vibe ist Göteborg, die Müdigkeit universell. B und C sind dann kratziger. Man dreht schließlich das Scheibchen ein letztes Mal, und: bliss.
Pippo KuhzartEndlich mal was für Liegestühle und Lohnarbeitsgeplagte! Mit »Vacation From My Mind« schiebt Forager Records Soft-Soul in deine Playlist, für die man sich eine Stunde in den gedanklichen All-inclusive-Urlaub flüchtet. Dort ist das Leben schön und die Liebe toll. Man lauscht Stimmen und Gitarren und Flöten und bestellt noch einen Drink. Könnte man echt das ganze Jahr über haben, sagt man zu sich selbst und kehrt dem Paradies den Rücken. Um wieder zu funktionieren. Um nächstes Mal wiederzukommen.
Christoph Benkeser Zur Review