Wenn Derya Yıldırım über Musik spricht, dann meint sie damit menschliche Beziehungen. Es geht um Gemeinschaftlichkeit, es geht ums Miteinander, es geht um unsere Bindungen zur Welt um uns. »Community« ist so ein Wort, das sie dabei ständig verwendet. Beispielsweise wenn sie über ihre musikalische Früherziehung auf der Veddel in Hamburg spricht. »Meine musikalische Laufbahn wurde von der Community angestoßen, in der ich aufgewachsen bin«, heißt es dazu. Das ist auch die Kernfamilie und vor allem der Vater, der die Bağlama ebenso spielt wie die klassische Gitarre und sie dazu ermuntert, selbst Stunden zu nehmen. Bei einer russischen Lehrerin übt sie Klavier, die Klassiker des zentraleuropäischen Kanons, auf dem Schulhof schiebt sie sich mit anderen Kids die Charts per Bluetooth hin und her, mit den Cousins und Cousinen hört sie Hip-Hop und R’n’B während zu Hause die volle Bandbreite an türkischer Musik läuft: »Kunstmusik, Volksmusik, Arabeske, Özgün Müzik von Ahmet Kaya, also politische Lieder, aber auch Anadolu Psych Rock aus den siebziger Jahren«, zählt sie auf.
Das ist eine ganze Menge und erklärt dann eben auch, was Yıldırım meint, wenn sie von einer Community und von Musik spricht: So ziemlich alles, eine ganze Welt voller Möglichkeiten. »Ich habe immer schon in Communitys Musik gemacht, in denen es viel um Zusammenhalt geht; darum, Menschen zusammenzubringen und schöne Momente jenseits von der böseren Realität zu erleben«, erklärt sie. »Ich bin ausschließlich in Projekten aktiv, für die Menschen zusammenkommen, in denen die Menschlichkeit im Vordergrund steht.«
Yıldırım spielt nicht nur Klavier, sondern auch Gitarre und das Saxofon, die Bağlama und die Cümbüş ebenso wie die Oud. Sie studiert zuerst in Hamburg Klavier, doch als an der Universität der Künste ein Lehrgang für Bağlama bei Taner Akyol eingerichtet wird, packt sie die Laute ein und zieht nach Berlin. »Ich habe das eher als Chance betrachtet, mich mit der türkischen beziehungsweise anatolischen Musik zu befassen oder zumindest eine Richtung einzuschlagen, die mein Herz mehr berührt als europäische Musik«, sagt sie heute, nachdem sie ihr Studium beendet hat. »Als Pianistin habe ich beim Spielen natürlich auch Gefühle. Wenn ich aber die Bağlama oder die Oud spiele und türkische Musik höre, habe ich ein tiefes Gefühl von… Verständnis. Erinnerungen kommen hoch, die ich nicht wirklich fassen kann.«
Mit Akyol arbeitet sie nicht nur gemeinsam in intensiven Sitzungen zu zweit, sondern auch im freien Spiel mit anderen Bağlama-Instrumentalistinnen zusammen. Es geht um Improvisation, Kommunikation, kurzum: Zusammenkunft. So wie auch bei ihrer Band, die noch so ein gemeinschaftliches Projekt ist: Sebastian Reier alias Booty Carrell bringt sie im Jahr 2015 für das Projekt »New Hamburg« mit anderen Musikerinnen zusammen und trotz der anfänglichen Sprachbarrieren verstehen alle mittels der Musik, dass hier etwas zueinander kommt, das zusammen gehört wie ein Blitz zum nächsten, wie sich sowohl »yıldırım« wie auch »şimşek« übersetzen lassen. Nachdem sie in einer Kirche auf der Veddel im Rahmen einer Installation eine Interpretation des Özdemir-Erdoğan-Stücks »Gurbet« vorstellen, geht es für die frischgebackene Band bald schon ins Studio.
»Wenn ich die Bağlama oder die Oud spiele und türkische Musik höre, habe ich ein tiefes Gefühl von Verständnis. Erinnerungen kommen hoch, die ich nicht wirklich fassen kann.«
Derya Yıldırım
Die Grup Şimşek setzt sich zu diesem Zeitpunkt aus Antonin Voyant, Axel Oliveres alias Graham Mushnik und (dem mittlerweile ausgestiegenen) Andrea Piro, die gemeinsam bereits unter dem Namen L’Orchestre du Montplaisant aktiv waren, sowie der Perkussionistin und Sound-Künstlerin Greta Eacott zusammen. Eine internationale Mischung, die sich erstmals im Jahr 2017 mit der EP »Nem Kaldı« der Welt präsentiert. Von den vier Stücken handelt es sich um zwei Coverversionen, die Vertonung eines Gedichts des Lyrikers Nâzim Hikmet sowie das langsam schwoofende Titelstück. »Alle denken vermutlich, dass ich sage, was gespielt wird«, meint Yıldırım hinsichtlich des Arbeitsprozesses, der jedoch ebenfalls ein gemeinschaftlicher ist. Da schreibt Voyant schon einmal die Lyrics auf Englisch vor, jagt sie für eine Übersetzung ins Türkische durch Google Translate und Yıldırım übernimmt den Rest. Die Aufnahmen? Ein Take, zumindest im Falle der »Nem Kaldı«-EP.
Dennoch scheint bei Yıldırım und der Grup Şimşek alles wie aus einem Guss – und obendrein noch inspiriert von dem Anadolu-Pop-Sound, der zuletzt in Form von Reissues oder neueren Gruppierungen wie Altın Gün jede Menge internationaler Aufmerksamkeit erhalten hat. »Wir bedienen uns aus dem kulturellen Topf Anatoliens und singen alle ausschließlich auf Türkisch«, räumt Yıldırım ein. Sie stellt aber sogleich klar, dass das nicht etwa auf bloße Retromanie zurückzuführen ist: »Wir bedienen uns nur an der Magie der türkischen Kultur. Anatolische Volksmusik hat irgendetwas, das auf der ganzen Welt verstanden wird.« Was genau? Nicht weniger als eine Magie, die Yıldırım ihr zuschreibt: »Wir leben in einer globalisierten Welt. In unserer Konsumgesellschaft, in diesem kapitalistischen System, haben die Menschen das Bedürfnis, sich zu erden. Das geht mit der Musik einher. Die Melodien, die Musik, meine Stimme – das triggert etwas in den Menschen«_
Die Schallplatten von Derya Yıldırım & Grup Şimşek findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/en/derya-yildirim-grup-simsek-rock-indie/i:A135246D2N72S6U9)