Label Watch: Dark Entries

15.10.2020
Seit 2009 betreibt Josh Cheon sein Label für Undergroundiges aus den 1980er Jahren und solches, das es werden will. Nächstes Jahr wird er über 300 Schallplatten dort veröffentlicht haben. Wir stellen euch das Label aus San Francisco vor.

Die Geschichte von Dark Entries beginnt mit Bauhaus. Am 10. September 1998 tritt die britische Dark-Wave-Band im New Yorker Hammerstein Ballroom auf. 3.000 Leute begraben Bela Lugosi. Ganz vorne: Josh Cheon. Ein High-School-Kid, das einige Jahre später nach San Francisco fliegen und mit Dark Entries ein Plattenlabel für Düster-Treibendes aus den 1980er Jahren gründen sollte, hat über 13 Stunden vor der Halle ausgeharrt –, um in der ersten Reihe zu stehen; um Peter Murphy in die Augen zu blicken; um seinem Leben eine neue Richtung zu geben. »Anfang 1999 wusste ich, dass ich ein Plattenlabel führen möchte«, sagt Cheon, der mit 25 seine zwei Koffer packt – und seinen Lebensmittelpunkt von New Jersey an die Westküste verlagert. Auf seine To-Do-Liste setzt er einen Punkt: Starte ein Label und veröffentliche Musik deiner Idole. 2009 gründet er das Label Dark Entries, benannt nach dem Bauhaus-Song, den er in Jugendjahren rauf und runter gespielt hat. Die erste Platte, die er pressen lässt, ist »Bas Relief« der Postpunk-Gruppe Eleven Pond.

In seiner Jugend verbringt Josh Cheon die Sommermonate im ländlichen Pennsylvania. Zwei seiner besten Freundinnen sind Goths. Für Rituale zeichnen sie Pentagramme, fahren ziellos im Auto herum, eine CD mit dem Titel »Gothic Rock Compilation Vol.1« läuft auf Repeat. Dass sich Cheon auf der düsteren Seite des Mondes bewegte, ist eine Untertreibung. Als schwuler Teenager mit einem Hang zur Musik der Vergangenheit war er in der Schule ein Außenseiter. Während seine Mitschüler auf der Indie-Rock-Welle zu Belle and Sebastian abgehen, drehen sich in seinem Walkman Depeche Mode und The Cure. »Es war Underground-Musik, eine Gegenkultur mit DIY-Einschlag. Das hat viele Parallelen mit der Schwulenbewegung«, so Cheon. Die Veröffentlichungen auf Dark Entries bewahren das Momentum dieser Nische, indem sie sich auf eine vergessene Zeit in der Musikgeschichte beziehen, die für manche Menschen zur Identifikationsgrundlage wurde.

Vor seinem Umzug nach San Francisco arbeitet Josh Cheon als Praktikant für Metropolis Records, Beggars Group und das Electropunk-Label DFA. Nebenbei studiert er Neurobiologie, weil er »Das Schweigen der Lämmer« im Kino sah. »Bis heute ist es einer meiner Lieblingsfilme. Ich wollte Serienmörder interviewen wie Clarice Sterling.« Dass ihm sein Abschluss bei der Arbeit mit Bands hilft, die seit Jahrzehnten keine Platte mehr veröffentlicht haben, bezweifelt er. »Ich kann gut zuhören, das ist ein Vorteil«, so Cheon. Manche Bands haben sich zerstritten, wollen nicht mehr miteinander reden oder nichts mehr von ihrer Musik und der Vergangenheit wissen. Dabei kommt ihm die Tugend des geduldigen Psychologen entgegen. »Ich warte manchmal Jahre, bis Künstler*innen einer Wiederveröffentlichung zuzustimmen.«

Die Veröffentlichungen auf Dark Entries bewahren das Momentum dieser Nische, indem sie sich auf eine vergessene Zeit in der Musikgeschichte beziehen, die für manche Menschen zur Identifikationsgrundlage wurde.

2018 kündigt Josh Cheon seine Laborstelle an der University of San Francisco. Davor balancierte er zwischen zwei Welten. Neurobiologie als Brotjob, die Suche nach obskuren 80er-Alben als Freizeit-Erfüllung. Über 286 Platten veröffentlichte der selbstbezeichnete »fanboy in the inside« seit der Gründung von Dark Entries. Eigentlich eine Vollzeit-Beschäftigung, trotzdem arbeitet Cheon seit Juli 2020 wieder Teilzeit an der Uni –, um das Label von finanziellen Zwängen zu befreien, wie er sagt. Die Freiheiten ermöglichen ihm einen Zugang, der bei Labels mit kommerziellen Interessen keinen Raum findet: Die Auseinandersetzung mit Künstler*innen und ihrer Musik. Cheon führt Interviews, recherchiert Hintergrundinformationen sowie alte Fotos und versucht, die Originalität der Alben zu bewahren – durchaus auch im eigenen Interesse. Schließlich sind manche Platten längst vergriffen und wechseln bei Discogs für mehrere hundert Dollar das Regal. Zu viel, deshalb versucht der Dark Entries-Chef sie neu aufzulegen.

Wer sich durch die Liste an Veröffentlichungen auf Dark Entries klickt, bekommt einen Einblick in den Geschmack von Cheon. Zuletzt erschien das New Age-Rauschen der deutsch-amerikanischen Space-Oma Suzanne Doucet oder die dada-elektronischen Ausflüge von Velodrome. Immer wieder rutscht der Zeiger aus den 1980er Jahren in die Gegenwart, zum Beispiel mit Wave-House von Steffi, die bei Dark Entries im August ihr Debüt als Crushed Soul gab – oder dem deepen Analog-Gebummse von Vin Sol. Trotzdem sticht für Cheon ein Name aus der Vergangenheit heraus: Patrick Cowley. 2013 stolperte er über Tonbänder der Disco-Legende aus San Francisco, der viele Gay-Pornos vertone und 1982 an den Folgen einer AIDS-Erkrankung starb. Nach Alben wie »School Daze« oder »Mechanical Fantasy Box« sehe sich Cheon inzwischen als Verwalter seiner Musik. »Das geht mit einer großen Verantwortung einher. Deshalb frage ich Freunde von Patrick, was sie von meiner Song-Auswahl für seine Compilations halten.«

Und: Die Verantwortung des Cowley-Nachlasses wird noch in diesem Jahr um eine Platte reicher. Seine Musik, die zwischen 1975 und 1977 erschien, kommt bei Dark Entries raus. Außerdem werde Cheon Alben der aus San Francisco stammenden Mara Barenbaum alias Group Rhoda und das Debüt-Album von Techno-»Queen of Hell« Jasmine Inifiniti veröffentlichen. Für 2021 darf man sich die John Peel-Sessions der niederländischen Dark-Wave-Band Clan of Xymox aus dem Jahr 1985 vormerken. Good News gibt’s auch für Acid-Fans, die mit Neo-Trance von aufgewärmten 90s-Raves nichts anzufangen wissen: die frühen House-Veröffentlichungen der Chicago-Legende K. Alexi seien eingeplant, bevor nächstes Jahr die Schallmauer von 300 Platten geknackt werden soll.