Conrad Schnitzler scheint die größte Fußnote der Musikgeschichte zu sein. Als Mitbegründer des Zodiak Free Arts Lab in Kreuzberg legte er den Grundstein für die Westberliner Underground-Szene, war Mitglied der frühen Formationen von Kluster und Tangerine Dream besorgte einer jungen Düsseldorfer Band namens Kraftwerk ihren ersten Synthesizer sowie einer andere Namens Ton Steine Scherben Verstärker für ihre ersten Auftritte und wurde in den 1990er-Jahre von einem zerzausten Norweger belagert – er wolle ein Stück von ihm für das Album seiner Band verwenden. Schnitzler schickte es ihm eines Silvestertages und landete damit auf einem Meilenstein der norwegischen Black-Metal-Szene, der EP »Deathcrush« von Mayhem.
Das sind Fakten, von denen einige den sehr knappen deutschen Wikipedia-Eintrag zu Schnitzler dominieren. Beigefügt ist eine sehr verknappte Kurzdiskografie, die nicht einmal ansatzweise sein umfassendes Schaffen zu dokumentieren vermag – über 230 Releases zählt Discogs, doch wird die Dunkelziffer um einiges höher sein, denn noch schlummern unzählige Veröffentlichungen weiterhin in den von Ton-Steine-Scherben-Drummer Wolfgang Seidel verwalteten Archiven. Fast wirkt es mit einem Blick auf die schnell verfügbaren Informationen, als sei Schnitzlers eigener musikalischer Beitrag zu vernachlässigen, seine helfende Hand für andere das wichtigste Merkmal seiner langen Karriere. Ihm mag das vielleicht aber auf verquere Art und Weise sogar gefallen haben: Conrad Schnitzler war ein Randgänger aus Überzeugung.
Oder besser gesagt: Grenzgänger. Denn als »Intermedia«-Künstler bezeichnete sich Schnitzler selbst. Skulpturen, Video-, Installations- und Performance-Kunst: Das alles vermengte er immer wieder miteinander und mit Musik, zog in den 1980ern etwa als »elektronischer Straßenmusiker« durch Berlin oder streifte während des Festivals Ars Electronica durch die österreichische Stadt Linz – gekleidet in einen Anzug, in den er Kassettenrekorder eingenäht hatte, als »lebende Klangwolke«. In den White Cubes der Kunstwelt und den Black Boxes von Musikvenues fühlte er sich nicht zuhause, ließ sich lieber durch den öffentlichen Raum treiben und suchte sich sein Publikum lieber selbst, anstatt die immer selben Menschen mit den immer gleichen Hintergründen zu bespaßen.
Dass Schnitzler sich quer durch die verschiedenen Kunstformen und Genres bewegte, liegt vermutlich auch an der synästhetischen Erfahrung, die die Initialzündung für seinen Werdegang lieferte. Nachdem er den zweiten Weltkrieg als Kind durchlebt hatte, begann er Anfang der 1950er eine Ausbildung als Maschinenbauschlosser. Das Rattern, die Rhythmen, der Lärm und das Aussehen der Geräte zogen ihn magisch an. Ein gutes Vierteljahrhundert später sollte er diese Eindrücke in einem seiner poppigsten Stücke, »Fabrik« verarbeiten. Vor allem aber ist sein gesamtes musikalisches Schaffen geprägt von Wiederholungen, die keine sind; von rhythmischen Strukturen, die in Kombination miteinander wild durcheinander poltern wie nachlässig gewartete Zahnräder.
Schnitzler war auch ein Weltenbummler, dem sowohl die Kunst- und Musikszene wie auch sein keineswegs entnazifiziertes Heimatland oftmals zu eng wurde. Als Ende der 1950er die Wehrpflicht eingeführt wurde, nahm er Reißaus, wurde Seemann und verkroch sich tief im Inneren des Maschinenraums der Frachtschiffe – allein der ästhetischen Erfahrung wegen. Als er sich nach seiner Rückkehr in seiner Geburtsstadt Düsseldorf doch für die Universität einschrieb, hatte er dementsprechend keine akademische Karriere im Sinne, sondern wollte bei Joseph Beuys in der ersten Reihe sitzen. Auch wenn er dessen künstlerische Praxis wenig abgewinnen konnte, war zumindest die Theorie des Künstlers ungemein einflussreich auf ihn: Schnitzlers Sound-Art-Installationen wie beispielsweise an der Wand befestigte Radios, die die Klänge der vom Publikum gespielten Violinen wiedergaben, stehen eindeutig in der Tradition der Sozialen Plastik.
Auch das Beyussche Diktum, dass jeder Mensch eine Künstlerin sei, prägte den selbsterklärten Nicht-Musiker Schnitzler in seinem Denken und umso mehr seiner Praxis. Nach seinem Umzug nach Westberlin Anfang der 1960er gründete er Bands mit Namen wie Geräusche oder Plus Minus, während er sich mit Gelegenheitsjob durchschlug. Es folgte die Gründung des Zodiak Free Arts Lab, zwei LPs mit Kluster, ein Album mit Tangerine Dream und ab dem Jahr 1973 schließlich eine Reihe von Solo-Veröffentlichungen im Selbstverlag. Keine Titel, minimalistisches Design, Kleinstauflagen: Schnitzler produzierte seine elektroakustische und später elektronische Musik komplett am Markt vorbei.
»Der rote Faden, der sich durch alle Erzählungen zieht, ist Schnitzlers Fähigkeit, andere zu inspirieren«
Wolfgang Seidel
Erst ab Ende der 1970er setzte eine Art von Professionalisierung in Schnitzlers Schaffen ein. Das Album »Con«, heute auch als »Ballet Statique« bekannt, stellte seine erste Veröffentlichung auf einem größeren Label dar und ist bis heute eines seiner bekanntesten Werke. Es ist Musik, die bisweilen wie mit dem Stück »Zug« Techno vorwegzunehmen scheint, genauso aber harschen Noise bietet und dem kosmischen Krautrock seines ehemaligen Bandkollegens Klaus Schulze eine nüchterne, mehr an einzelnen Soundereignissen und ihrem reibungsvollen Mit- und Durcheinander denn an großen pathetischen Erzählbögen interessierte Soundpoetologie entgegensetzte. Musik als Geräusch, Form als Zufall.
In den Jahren 1980 und 1981 neigte sich Schnitzler dennoch klassischen Songstrukturen an, wenngleich unter seinen ganz eigenen Bedingungen. Die Single »Auf dem Schwarzen Kanal« erschien auf dem Major-Label RCA und kokettierte mit einer reißerischen Aufmachung – »Super-Sound-Single – Disco-Remix« steht über seinem markant in Schwarz und Weiß geschminkten Gesicht – sowie sich stark an den Sound der Neuen Deutschen Welle anlehenden Grooves und sogar Lyrics, wie sie zuvor und danach nur selten von ihm zu hören waren. Auf dem Album »Con 3« für das Krautrock-Label Sky formulierte er das weiter aus, schien aber schon wieder sichtlich unzufrieden im Zwangskorsett des Pop-Songwritings. Es blubberte, flirrte, fiepste unter den ironischen Gassenhauern, die er darauf sang.
Tatsächlich zog sich Schnitzler bald endgültig aus dem Musikgeschäft, in dessen Tür er seinen Fuß kaum gesetzt hatte, zurück. Er spielte Anfang der 1980er seine letzten Konzerte und verlegte sich wieder auf die Veröffentlichung von Kassetten, die oft im Selbstverlag oder Spezial-Labels wie Generations Unlimited erschienen. Nur gelegentlich erschienen LPs, für die er nur kurzfristig bei kleinen Plattenfirmen wie Qbico anheuerte – einen Vertrag unterschrieb er in seiner langen Karriere kein einziges Mal. Spätestens ab Mitte der 1980er suchte er für seine Experimente zunehmend die Kollaboration mit anderen, etwa Gen Ken Montgomery. Selbst Aufführungen seiner Musik wurden von Dritten übernommen: Für die legendären »Kassettenkonzerte« bekamen sie seine Tapes zur Verfügung gestellt, damit sie die Aufnahmen wie DJs vor dem Publikum mischen konnten.
So ist es dann auch zu erklären, dass sein Werk bis heute von anderen Künstler*innen neu interpretiert beziehungsweise (re-)konstruiert wird. Wenige Tage vor seinem Tod im Jahr 2011 erschien mit »Con-Struct« von Borngräber & Strüver das erste Release in einer auf m=minimal gestarteten und mittlerweile von Bureau B weitergeführten Reihe von Veröffentlichungen immer gleichen Titels, für die Artists wie Pyrolator, Pole oder Frank Bretschneider sich aus zuvor unveröffentlichtem Material aus dem reichhaltigen Fundus seines Archivs bedienen und ihre eigenen Interpretationen davon anfertigen. Das Œuvre als Open-Source-Angebot: Wer würde das sonst bitteschön so halten?
»Der rote Faden, der sich durch alle Erzählungen zieht, ist Schnitzlers Fähigkeit, andere zu inspirieren«, schrieb Wolfgang Seidel folgerichtig in einem Nachruf auf den langjährigen Freund. Das nämlich heißt »Intermedia« auch: Dass Medien zwischen den Menschen und ihren sehr spezifischen künstlerischen Visionen vermitteln. Schnitzler lebte in den Verbindungen zu anderen Außenseiter*innen der Kunst- und Musikwelt genauso wie zwischen den einzelnen Kunstformen. Er ließ sie aufeinanderprallen wie die Klänge, mit denen er arbeitete. Ob mit verzerrten Streichinstrumenten, abmikrofonierten Alltagsgegegenständen, Synthesizern oder wie in seinem Spätwerk am Piano – Schnitzler war kein Komponist, sondern Con-Strukteur, der Sound als Bausteine verwendete, um sie zu dynamischen Plastiken zusammenzufügen.
Es scheint also nur folgerichtig, Conrad Schnitzler als einen Radikalen zu bezeichnen, würde dieses Wort nicht etymologisch auf Wurzeln verweisen, die er selbst nie geschlagen hat. Trotz seiner Liebe zu Berlin, trotz seinem Rückzug ins ländliche Dallgow in der Nähe der Hauptstadt – Schnitzler bleib sein Leben lang ein Getriebener, Fortschreitender, nirgendwo anders zuhause als mitten im Durcheinander. Er starb am 4. August des Jahres 2011 an Krebs. Beigesetzt wurde er überall auf der Welt: Noch vor seinem Tod verschickte er seine DNS in Form von Haaren an Freund*innen überall in der Welt, die sie an verschiedenen Orten vergruben. Wie es sich für einen echten Grenzgänger gehört.