»Chillhop war am Anfang nur der Name, dem man der Musik gegeben hat, kein Label«, sagt Ben Diamond. Der Engländer kümmert sich bei Chillhop Music um den Webshop, produziert nebenbei Musik. Chillhop, klar. Aber auch Rap. Die restlichen drei Tage der Woche sitzt er in einem Büro, das Chillhop Music gerade erst bezogen hat. »700 Quadratmeter«, sagt er. »Außerdem bauen wir im Keller ein Studio.« Hinter Diamond liegt ein riesiger Totenkopf – das Überbleibsel vom Vormieter. »Die haben hier Kostüme für Partys designt und einiges liegen gelassen.« Er lächelt.
Dass Chillhop Music sich zu einem Unternehmen mit schickem Büro in Rotterdam entwickeln würde, hätte vor einigen Jahren niemand geglaubt. Nicht einmal der Gründer selbst. Bas van Leeuwen startet 2013 einen YouTube-Kanal und lädt Musik hoch, die er im Internet findet. Es sind Sounds, die rauschen, als hätte man J Dilla drei Liter Hustensaft in die Sprite gekippt. Und Beats, zu denen manche Leute für Klausuren büffeln oder einen durchziehen, ihren beschissenen Bürojob durchbeißen oder einfach nur allein sein wollen, ohne das Gefühl zu haben, allein zu sein. Das funktioniert. 2016 hat der Kanal über 100.000 Abonnent:innen. Bas entscheidet, mit Chillhop Music ein Label zu gründen, weil er die Musik der Künstler:innen sichtbarer machen – und vor allem in Spotify-Playlists landen will.
Chillhop und der schwedische Streaminganbieter waren von Anfang an ein Match. Man gehörte zusammen wie Gzuz und Stress ohne Grund. Die Professionalisierung von einem YouTube-Kanal hin zum eigenen Label mit Vertrieb ging trotzdem mit Veränderungen einher. »Am Anfang basierte Chillhop mehr auf Samples«, sagt Diamond. »Als Bas das Label startete, wären die Rechte für Samples aber zu teuer gewesen.« Die Musik musste sich verändern, um weiter existieren zu können.
»Es ist nicht unser Plan, Musik zu veröffentlichen, die man nur im Hintergrund hört. 99 Prozent der Menschen hören heutzutage aber Musik, während sie gleichzeitig etwas anderes zu tun.«
Ben Diamond
Inzwischen arbeiten 25 Leute für Chillhop Music. 3,2 Millionen Menschen haben den YouTube-Kanal abonniert, gerade jetzt lauschen mehrere Tausend einem der beiden Livestreams, die immer laufen. 24 Stunden am Tag. Sieben Tage die Woche. Immer dabei: ein Waschbär. Manchmal tippt er im Bett auf einem Laptop, schiebt ein Fahrrad durch den Wald oder blättert neben einer brühenden Tasse Kaffee in einem Buch. Er ist Gesicht und Aushängeschild von Chillhop. Der Designer Bastien Hebeisen habe ihn 2017 erfunden. »Bas und er waren damals in Kanada«, erzählt Diamond. »Sie sahen einen Waschbären und hatten die Idee für das Logo. Weil Waschbären zwar in der Natur leben, sich aber schon mal in die Stadt verirren. Außerdem sind sie frech, lustig und ziemlich chill.«
Das klingt nach einer fein zurechtgelegten Geschichte aus dem Paulanergarten, aber: Inzwischen gehört der Waschbär zur Corporate Identity. Allein die Covers, auf denen er herumpurzelt, schauen aus wie Kinderbücher ohne kindisch zu wirken. Sie bedienen sich eines Tricks, den man aus Filmen von Studio Ghibli oder Disney kennt. Man spricht alle an – vom ersten Milchzahn bis zur letzten Kukidenttablette. Playlists wie »Seasonal Essantials« streamen Millionen von Menschen – im Hintergrund, während man an Integralrechnungen verzweifelt, auf Marie Kondo macht oder sich Das Kapital in die Birne ballert.
»Dabei ist unsere Zielgruppe gar nicht mal so einfach zu definieren«, sagt Diamond. »Wir dachten, dass es Leute sind wie wir. Aber unsere Daten sagen was anderes.« Genau wolle er das nicht sagen, nur so viel: Die meisten Menschen, die Chillhop streamen, kämen aus den USA. Von der Lehrerin, die am Vormittag ihren Unterricht beschallt bis zum 50-jährigen Arbeiter, der die Musik gut findet, sei alles dabei. Trotzdem dürfe man die Streamingzahlen nicht mit der Anzahl aktiver Hörer:innen verwechseln. Viele drehen einfach auf, ohne zu wissen, was sie hören. »Allerdings haben wir auch Superfans«, so Diamond. Das seien Leute, die sich nicht nur stärker mit Musik oder den Künstler:innen auseinandersetzen, sondern auch auf dem Chillhop-Server bei Discord oder auf Reddit interagieren. Und von Hoodies über Plüschtiere bis zu Platten alles kaufen, was der digitale Merchstand hergibt.
»Wir konzentrieren uns inzwischen stärker auf physische Produkte«, sagt Diamond und meint: »Damit werden wir unabhängiger von Spotify.« Trotzdem lebt Chillhop Music von Leuten, die passiv hören, um aktiv wegzuhören. Die Musik ist wie ein Fernseher, der läuft, ohne dass jemand zuschaut – sie ist da, ohne da zu sein. Schiebt sich ins Unterbewusstsein. Sorgt für einen Vibe, den niemand fassen kann, aber alle checken. Ben Diamond versucht zu relativieren. »Es ist nicht unser Plan, Musik zu veröffentlichen, die man nur im Hintergrund hört. 99 Prozent der Menschen hören heutzutage aber Musik, während sie gleichzeitig etwas anderes zu tun.«
Chillhop versuche das nicht zu verhindern, doch es gehe um mehr. Man gebe den Leuten schließlich nicht nur Musik, um abzuschalten, sondern auch ein Erlebnis, das sich durch das Artwork erzählt. Außerdem fördere man die Künstler:innen. Um ihnen ein Gesicht zu geben. Und zu verhindern, dass ihre Musik unter einem Sammelbegriff auf einer Playlist verschwindet. »Die Nachfrage ist groß«, so Diamond. »Deshalb glaube ich nicht, dass sich unser Publikum in nächster Zeit langweilen wird.«