Erst fand die Wut Charles Mingus, dann Charles Mingus die Wut

12.11.2018
Foto:Sue Mingus / © BBE
Amir Abdullah staunte nicht schlecht, als ihm die Witwe von Jazz-Drummer Roy Brooks, Tonbänder eines Konzertes von Charles Mingus zeigte, das dieser 1973 in Detroit gegeben hatte. Es wurde Zeit für eine Wiederentdeckung.

Charles Mingus ist eine der herausragenden Titanen der Jazzgeschichte. Und dabei doch schwerer zu fassen als Duke Ellington oder Miles Davis. Das hat mit seinem Instrument zu tun, dem Kontrabass, der nicht so viel Aufmerksamkeit wie die Trompete oder das Klavier auf sich zieht. Und Charles Mingus steht nicht für ein Genre des Jazz wie Ellington für den Swing. Deshalb taucht er bis heute in den unterschiedlichsten Zusammenhängen auf. »He hasn’t been victimized by a style«, sagte Wynton Marsalis über ihn.

Mingus versucht nicht weniger als einen Gegenentwurf zum modernen Jazz zu entwickeln, zum Bebop von Charlie Parker oder Miles Davis. Den orchestral arrangierten Swing seines Idols Duke Ellington erweitert er um einen unwahrscheinlichen, eklektischen Mix aus den verschiedensten Einflüssen, etwa aus der kubanischen, mexikanischen und der klassischen Musik. Dabei kann er archaisch und polternd klingen, sensibel und zerbrechlich oder getrieben und hoffnungsvoll. Diese unwahrscheinliche Musik komponiert er nicht nur, sondern interpretiert sie als Bandleader mit den besten Instrumentalisten seiner Zeit. Statt sich wie die Bebop-Solisten in Klänge und Stimmungen zu vertiefen, geht es bei ihm um stilistische, emotionale und politische Synthesen.

Mingus war nicht nur ein Mann der Klänge, sondern auch des Wortes. Er verfasste Liner Notes, Offene Briefe und seine Autobiographie, auf der Bühne unterbrach er seine Konzerte mit Tiraden gegen die geldgierige, weiße Musikindustrie und den Rassismus der USA, der lange verhinderte, dass er von seiner Musik leben konnte. Die Lichtgestalt hatte aber auch eine düstere Seite. Charles Mingus fühlte sich oft grundlos angegriffen, er überwarf sich mit Co-Musikern, Freunden und Partnern. Er sagte hochdotierte Konzerte ab, wenn ihm irgendein Detail gegen den Strich ging. Dem Posaunisten Jimmy Knepper schlug er einen Zahn aus, nachdem dieser nicht mehr in Mingus’ Sextett spielen wollte. Knepper konnte danach auf seiner Posaune nicht mehr die höchste Oktave treffen.

Ich bin drei. Eine Person steht ständig in der Mitte, unbetroffen, ungerührt, sie schaut zu und wartet darauf, dass sie den anderen beiden mitteilen kann, was sie beobachtet. Der zweite Mann ist ein verängstigtes Tier, das aus Angst angegriffen zu werden, selbst angreift.

Charles Mingus

Zudem war er ein Mann, der die Frauen liebte, er hatte Affären mit Groupies, er war viermal verheiratet. Mingus brüstete sich damit, in einer Nacht mit 23 Frauen geschlafen zu haben. In seiner semifiktionalen Autobiographie erfindet Mingus sich als Pimp, als Zuhälter in der Tradition machohafter, schwarzer Selbstermächtigung, die von Iceberg Slim bis in den Gangsta Rap reicht. Darin beschreibt er seine Zerrissenheit: »Ich bin drei. Eine Person steht ständig in der Mitte, unbetroffen, ungerührt, sie schaut zu und wartet darauf, dass sie den anderen beiden mitteilen kann, was sie beobachtet. Der zweite Mann ist ein verängstigtes Tier, das aus Angst angegriffen zu werden, selbst angreift. Dann gibt es einen übermäßig liebenden, sanften Menschen, der die anderen in den absolut heiligen Tempel seiner Existenz lässt, alles annimmt und Verträge unterschreibt, ohne sie zu lesen, der sich dazu bringen lässt, für wenig Geld zu arbeiten oder umsonst. Wenn er begreift, was man ihm angetan hat, will er jeden um sich herum töten und alles zerstören, einschließlich seiner selbst.«

Diese Gefühle sind ein Teil der afroamerikanischen Erfahrung. In Mingus’ Fall spiegeln sie auch seine Familiengeschichte wider. Sein schwarzer Großvater war Hilfsarbeiter auf einer Farm. Er schwängerte eine Schwedin, die den Sohn allein großzog. Mit sechzehn lief der Junge von zuhause weg und ging zur Armee. Er heirate eine Frau mit chinesischen, britischen und afroamerikanischen Wurzeln, die starb, als Mingus achtzehn Monate alt war. So wuchs Charles Mingus bei seiner Stiefmutter Mamie auf. Sie kümmerte sich um ihn und seine Schwester, während sein Vater sie mit einer anderen Frau betrog. Der war ein vom Militär geprägter, autoritärer Typ und schlug seine Kinder. Mingus prägte das Gefühl, nirgendswo reinzupassen oder dazuzugehören. Als Teenager glättete er seine Locken, um als Mexikaner durchzugehen, denn er war nicht schwarz genug, um als Afroamerikaner wahrgenommen zu werden. Die anderen Kinder nannten ihn »shit colored motherfucker«, seine Autobiographie wollte er ursprünglich »Memoirs Of A Half Yellow Schitt Covered Nigger« nennen.

Noise, Nachbarschaftshilfe, Nahbarkeit

Los Angeles lag damals an der Peripherie des Jazz. Mingus interessierte zunächst gar nicht der angesagte Bebop und Hardbop. Er bewunderte Duke Ellington, der den Swing als Stil und das große Jazzorchester als Format miterfunden hatte, der damals aber schon als Schnee von gestern galt. Mingus spielte zuerst Posaune und Cello und interessierte sich für die klassische Avantgarde von Bela Bartok oder Arnold Schönberg. Aber als Schwarzer konnte er mit keinem klassischen Orchester auftreten. So begann er Kontrabass zu spielen, als ihm die Position in einem Jazzensemble angeboten wurde.

Die von Amir Abdullah ausgegrabene Aufnahme ist am 13.Februar 1973 in der Strata Concert Gallery in Detroit entstanden. Natürlich gibt es viele Aufnahmen von Mingus’ Konzerten, und seine stärkste Zeit hatte er da bereits hinter sich. Einzigartig ist die Aufnahme aus anderen, sozialen Gründen. Auch wenn sie jazzologisch einiges zu bieten hat: Viele auf den Originalalben mit dem großen Orchester aufgenommenen Songs spielt er hier mit dem Quintett. Und mit dem hier vertretenen Saxophonist John Stubblefield und dem Trompeter Joe Gardner hat er nur ein paar Monate zusammengespielt. Detroit-Local Roy Brooks ist einer der besten Drummer seiner Generation. Er tourte mit Mingus 1972 durch Europa. Zu einem einzigartigen Fund wird die Aufnahme durch den Ort, an dem sie entstanden ist: In der Strata Concert Gallery in Detroit. Das war kein regulärer Veranstaltungsort, sondern ein Kollektiv, das gleichzeitig Nachbarschaftshilfe betrieben und der Jazz- und Funkszene der Stadt ein Forum verliehen hat.

1967 und 1968 wurde Detroit von den Riots erschüttert, die zusammen mit der De-Industrialisierung den Niedergang der Stadt einläuteten. Der schwarze Trompeter Charles Moore und der weiße Pianist Kenny Cox gehörten zu dem Kollektiv von Musikern und Aktivisten, das mit Strata gegen soziale Atomisierung und De-Politisierung ankämpfte. Der unscheinbare Flachbau in der Selden Street 46 befindet sich in Cass Corridor, einer Boheme-Gegend von Detroit, in der damals das legendäre Rockmagazin Creem beheimatet war und aus der die White Stripes stammen. Heute steht das Gebäude leer und die Fenster sind vergittert. 1969 begann die Gruppe dort, Essenprogramme und Jazzkonzerte für die Nachbarschaft anzubieten. Über den Dichter, Aktivisten und Manager der Stooges und von MC5, John Sinclair, kam ein Kontakt zu John Lennon zustande, der das Projekt unterstützte.

Moore und Cox richteten ein kleines Studio ein und gründeten das Label. Für Konzerte konnten erstklassige Musiker wie Herbie Hancock das Art Ensemble of Chicago oder eben Charles Mingus gewonnen werden. Die Tickets für Mingus kosteten nur 5 US-Dollar und waren damit auch für Leute erschwinglich, die keinen Zugang zu den großen Konzertsälen hatten. Wahrscheinlich waren bei dem Konzert am 12. März 1973 nur zwanzig oder dreißig Leute anwesend. So entsteht unter den Musikern eine Gelöstheit, die man auf den Live-Mitschnitten der großen Säle selten erlebt, die sich auch in bis zu halbstündigen Versionen einzelner Songs äußert. Amir Abdullah, der seit Jahren daran arbeitet, die Aufnahmen des Strata-Labels zugänglich zu machen, erklärt: »Auf der Aufnahme ist ein Typ, der offenbar betrunken ist, der Mingus Chuck nennt. Wow, ok! Das war ein kleiner, intimer Ort, an dem sich die Leute zuhause fühlten. Die Strata Guys hatten kein tolles Equipment, deshalb sind auf den Aufnahmen eine ganze Menge Noise und viele Geräusche aus dem Publikum. Ich habe einiges davon drin gelassen, weil ich die Leute spüren lassen wollte, was für eine Stimmung da geherrscht hat. Manche Liveaufnahmen sind so gesäubert, dass die Atmosphäre verloren geht. Ich wollte dem Hörer das Gefühl erleben lassen, das die Leute hatten, als Mingus direkt vor ihnen stand.«

Bleibender Einfluss

Strata musste schon 1976 schließen, nachdem ein Antrag auf Förderung abgelehnt wurde. Mingus starb drei Jahre später. In die Jazzgeschichte ging Strata auch ein, weil die Gruppe den ersten Studiengang für Jazz in den USA am Oberlin Collage einrichtete. Mingus’ Experimentierfreudigkeit und Unberechenbarkeit prägte mehr oder weniger sämtliche folgenden Musikergenerationen. Sein Eklektizismus war er für den postmodernen Jazz der 1990er Jahre etwa von John Zorn wichtig. Noch größer war sein Einfluss im Hip-Hop: Organized Konfusion benutzten die Trompeten von »Mingus Fingus No.2« um einen avantgardistischen Hip Hop-Sound zu entwickeln, der sich nicht mehr auf den Kanon von Soul und Funk beschränkte. Bei »I’m The Man« von Gang Starr und Jeru the Damaja bleibt der schmetternde, marschierende Oldschool-Beat auf einmal stehen und der Swing von Mingus’ Bassline von seinem größtem Hit, dem »Hatian Fight Song«, ertönt, anstachelnd, aufrührerisch und zugleich sublim und entrückt. Auch Industrial Bands wie Meat Beat Manifesto oder Ministry bezogen sich auf Mingus: Meat Beat Manifesto sampelten einen Wutausbruch von ihm auf der Bühne, wo er den Ton-Mann mit dem Worten »Turn the fucking mic on« anranzt. Auch neuerdings taucht Mingus wieder auf, etwa bei Nicolas Jaar und Blood Orange. Blood Orange lässt die altersweisen, melancholischen und doch noch sehnsüchtigen Pianotöne von »Myself When I Am Real« in den ersten Momenten seines Albums »Freetown Sound« verstimmt und fern klingen und leitet damit in das feministische Gedicht von Ashlee Haze ein.

Charles Mingus war einer der ersten Musiker, der den US-Rassismus offen thematisierte. Er legte nicht mehr die Unterwürfigkeit Louis Armstrongs an den Tag, aber genauso wenig die überhebliche Verachtung von Duke Ellington.

Im Hip Hop und R&B geht es bis heute darum, die fehlenden Rechte afroamerikanische Bevölkerung in den USA zu beklagen und einzufordern. Dieser Kampf um Emanzipation und Anerkennung durch die Musik als Waffe begann im späten 19. Jahrhundert mit dem Blues, der nach dem Ende der Sklaverei entstand. Mit der Improvisation und der Rhythmik des Swing emanzipierte sich der Jazz besonders durch Louis Armstrong von diesen Ursprüngen. Die Musiker*innen der ersten Jazz-Generationen litten unter der Rassentrennung der Jim-Crow-Zeit, sie konnten nur für ein schwarzes Publikum spielen. Als sie später auch vor Weißen auftreten konnten, waren ihre schwarzen Fans ausgeschlossen. Charles Mingus war einer der ersten Musiker, der den US-Rassismus offen thematisierte. Er legte nicht mehr die Unterwürfigkeit Louis Armstrongs an den Tag, aber genauso wenig die überhebliche Verachtung von Duke Ellington.

Charlie Parker und Dizzy Gillespie waren politisch die Archetypen von Mingus’ Generation: Parker ließ sich von den rassistischen Resentiments aufreiben, Gillespie war diplomatisch, und übte erst Kritik an der amerikanischen Mehrheitsgesellschaft als er erfolgreich war. Mingus äußerte sich intensiver als jeder Kollege. Seine Tiraden auf der Bühne waren ein Markenzeichen, das viele Leute in seine Konzerte trieb. In seinem Offenen Brief an Miles Davis schrieb er 1955: »Musik ist die Sprache der Emotionen. Wenn jemand der Realität entflieht, erwarte ich nicht, dass er meine Musik begreift, und ich würde anfangen, mir Sorgen um meine Stücke zu machen, wenn eine solche Person auf sie stehen würde. Meine Musik ist lebendig, und sie handelt von den Lebenden und den Toten, von Gut und Böse. Sie ist wütend, aber es ist echt: weil sie reflektiert, dass sie wütend ist.«