Charles Bradley ist ein bescheidener Mann. Nie hatte er sich träumen lassen, in vollen, großen Konzertsälen in Europa vor größtenteils jungen Weißen zu spielen. Oder auch nur von einer hervorragenden Band wie The Extraordinaries begleitet zu werden, die fast alle ebenfalls weiß waren und vom Alter her auch noch alle seine Söhne sein könnten. Dieser Mann kennt nämlich noch sehr wohl die Zeiten, in denen Schwarze als Abschaum der amerikanischen Gesellschaft galten. Umso unwirklicher müssen ihm solche Abende erscheinen. Der vergangene Sonntag im Lido wird wohl so einer gewesen sein.
Eine der großen Fragen vor dem Konzert war wohl, wie seine Stimme klingen würde. So eine Stimme könne wohl kaum eins zu eins live umgesetzt werden, glaubte man. Zunächst lässt er jedoch auf sich warten, denn zum Konzertbeginn betreten bloß sechs junge, eher unscheinbare Musiker die Bühne. Dem einen Instrumental folgte das nächste und langsam fragte man sich: Wo bleibt Bradley? Doch dann wird er angekündigt und betritt kurz darauf die Bühne: Schon dann kennt das Publikum kein Halten mehr und kreischt sich den Soul aus dem Leib – was für eine perfekte Inszenierung. Als Bradley dann auch noch eindrucksvoll die ersten Zeilen singt und zeigt, was live geht, gibt es spontanen Szenenapplaus. Denn: Er kann es doch live umsetzen! Und nicht nur das, er übertrifft sich sogar.
Emotionen pur
Im Lido erlebte man eine Atmosphäre, die man sonst nur aus dem Fernsehen zu kennen meint. Man kam sich teilweise vor als sei man in einer Gospel-Kirche gelandet, in denen der Prediger noch von seiner Gemeinde angefeuert wird. Am Sonntag war das Lido definitiv die Gemeinde von Preacher Charles Bradley. Alle hingen an seinen Lippen, nicht allein wenn es emotional wurde und er unter Tränen aus seinem Leben erzählte. Dann wurden wiederum Hüften und Tanzbeine geschwungen, wenn der Zeitpunkt dazu gekommen war. Bradley strotze vor Energie, tanzte wie ein Besessener auf der Bühne, wechselte seine glitzernden Outfits gleich mehrmals. Zum Ende hin nahm er sogar ein ausgiebiges Bad in der Menge und verschwand daraufhin, nur um kurze Zeit später wieder die Bühne zu betreten, um in einem der berührendsten Momente, die dieser Konzertsaal wohl je erlebt hat, seinen letzten Song, die Geschichte vom Tod seines Bruders Joseph, anzustimmen: »Heartaches And Pain«. Danach – nach anderthalb Stunden – war Schluss und es ist nicht auszuschließen, dass Bradley hätte länger spielen sollen, aber selbst emotional so mitgenommen war, das er einfach nicht mehr konnte. Niemand hätte ihm das übel genommen.