Schuld war nur der Bossa Nova

30.06.2022
Kaum eine Stilrichtung hat einen tiefgreifenderen Einfluss auf die Popmusik gehabt als der Bossa Nova. Für manche Genres wurden die körperlichen Rhythmen und die harmonische Raffinesse der brasilianischen Jazzspielart zu verbindlichen Elementarbausteinen der musikalischen DNA. Eine Geschichte, die 1958 ihren Anfang nimmt und noch nicht auserzählt ist.

Nein, den Bossa Nova mag nicht ungeteilt die komplette Schuld treffen, nicht exklusiv und ganz allein, wie Manuela 1963 in dem vom amerikanischen Ehepaar und Songwriter-Duo Cynthia Weil und Barry Mann komponierten Schlager »Blame It on The Bossa Nova« argumentiert, der mit einem deutschen Text von Georg Buschor als »Schuld war nur der Bossa Nova« den Grundstein ihrer Teenagerstar-Karriere legt.

Und doch: Im Rückblick hat – außer dem jamaikanischen Dub vielleicht – kaum eine Stilrichtung einen tiefgreifenderen Einfluss auf die Popmusik der vergangenen sechs Dekaden gehabt als dieses Ende der Fünfzigerjahre in Brasilien als Resultat der Liebesheirat von Samba und Cool Jazz entstandene »neue Welle«, wie sich Bossa Nova übersetzen lässt.

Flight to Brazil

Das trifft insbesondere für (elektronische) Tanzmusik zu: Bereits der Easy-Listening-und Boogaloo-Sound der Sixties und Seventies wäre ohne Bossa-Anleihen nicht denkbar gewesen, für die Nu-Jazz-Acts der Neunziger wie Thievery Corporation, De-Phazz oder – hier bereits im Bandnamen manifestiert – Jazzanova wurden die körperlichen Rhythmen wie die harmonische Raffinesse des Bossa Nova zu verbindlichen Elementarbausteinen der eigenen musikalischen DNA.

Mit Brazilectro entstand sogar so etwas wie ein eigenes Subgenre. Aber auch jenseits des Dancefloors wirkte die brasilianische Jazzspielart stilbildend: Nahezu jede Popmusikrichtung bildete mittels des Präfix Latin eine eigene Nische aus – Latin Pop, Latin Rock, Latin Jazz, die Liste ließe sich noch eine Weile fortsetzen (wobei im Latin-Begriff die Grenzen zwischen südamerikanischer und afro-kubanisch-karibischer Tradition zuweilen fließend verlaufen). Beginnend mit Santana, etabliert sich sogar im Heavy-Bereich ein eigenes Latin-Metal-Genre, verstärkt seit den Neunzigern mit Nu-Metal-Bands wie den brasilianischen Sepultura, den Kaliforniern Superfly und Ill Niño.

Ähnliches gilt für Hip-Hop, beginnend mit (Latin) Freestyle-Acts wie Nayobe und Company B oder dem Electro eines Man Parrish bis zum Narco-Rap heutiger Tage. Kurz nach der Jahrtausendwende fingen DJs wie Madlib, Cut Chemist und J Rocc an, systematisch vor Ort in Brasilien nach obskuren Veröffentlichungen zu suchen.

Spezifisch brasilianisch ist der Topos der »Saudade« (Sehnsucht, Nostalgie), eine blaue Melancholie, eine gedämpfte Traurigkeit, aufgespannt zwischen Eros und Tod, Sinnlichkeit und Verlust, Erinnerung und Vergessen.

Vom Hip-Hop ausgehend sendete die brasilianische Musik auch in einer anderen Richtung Impulse. Denn die Bossa-Saat dürfte in keinem anderen Genre besser aufgegangen sein als im House. Jesse Velez, Raz, Ralphi Rosario, Masters at Work, Louie Vega, Kenny Gonzales sind nur die prominentesten Namen, die für Latin House stehen. Zuweilen führt diese Spur sogar bis ins Zentrum von Techno: Die Underground-Resistance-Maxi »Knights of The Jaguar« von The Aztec Mystic alias DJ Rolando, aufgewachsen inmitten der Hispanic-Community im Südwesten von Detroit, zählt zu den Klassikern des Genres schlechthin.

Im Grunde kommt kaum eine Tech-House-Nummer ohne wenigstens ein Quäntchen Latin aus. Für die Musik eines Ricardo Villalobos etwa ist die lateinamerikanische Sensibilität für komplexe, polymetrische und häufig synkopierte Rhythmen und Harmonien grundlegend. Aber auch Carl Cox oder Monika Kruse sind mit expliziten Latin-Nummern aktenkundig geworden.

Obrigado Saudade

Spezifisch brasilianisch ist der Topos der »Saudade« (Sehnsucht, Nostalgie), eine blaue Melancholie, eine gedämpfte Traurigkeit, aufgespannt zwischen Eros und Tod, Sinnlichkeit und Verlust, Erinnerung und Vergessen. Musikalisch kennzeichnend ist die rhythmische wie harmonische Sophistication der Musik: komplexe Entwicklungen im Melodischen umspielen die Figur der Clave, dem vom Samba übernommenen Puls des Bossa Nova, polymetrische Muster verweisen auf das dahinterstehende afrikanische Erbe.

Zurückgenommene Vocals und gedämpfte akustische Instrumentierung erzeugen ein unaufgeregtes, angenehmes Klangbild, in dem die Virtuosität der Einzelstimmen als souveränes Understatement zum Tragen kommt.

Samba de Uma Nota Só

Marcel Camus’ grandioses Leinwanddrama »Orfeu Negro« mit der kongenialen Musik von Luiz Bonfá und Jobim bringen im Folgejahr den internationalen Durchbruch für den neuen Stil. 1962 nehmen Charlie Byrd und Stan Getz das Album »Jazz Samba« auf – spätestens jetzt ist Bossa Nova in aller Munde. Produziert von Creed Taylor, der gerade von Impulse! zu Verve gewechselt war, und eingespielt im Studio von Rudy Van Gelder, enthält es mit den beiden Jobim-Kompositionen »Desafinado« und »One Note Samba (Samba de Uma Nota Só)« zwei Titel, die allgemeingültige Jazzstandards geworden sind, und zählt zu den kommerziell erfolgreichsten Jazz-Alben aller Zeiten.

Für die Aufnahme von »Desafinado« wurde Getz mit einem Grammy ausgezeichnet. Von den USA aus breitet sich das Bossa-Nova-Fieber wie ein Lauffeuer über den Erdball aus – wovon jenseits des Atlantiks, wie eingangs erwähnt, eben auch eine gewisse Manuela in den Charts nach oben gespült wird.

1964 erscheint »Getz/Gilberto«. Mit João Gilberto (Gitarre, Gesang) und Tom Jobim (Piano) stehen Getz nun zwei der Pioniere des Stils im Studio zur Seite, das Ergebnis ist eines der meistverkauften Alben überhaupt und gewinnt mehrere Grammys. »The Girl from Ipanema«, gesungen von João Gilbertos Frau Astrud Gilberto, wurde nicht nur ein ebenfalls mit einem Grammy prämierter Welthit, sondern gewissermaßen die Nationalhymne des Bossa Nova: »Garota de Ipanema«, so der Titel des portugiesisch-sprachigen Originals von Jobim (Musik) und de Moraes (Text), steht wie kein anderer Song stellvertretend für das gesamte Genre.

Bis heute überaus populär, gehört ihr Strandmädchen mit Evergreens wie »Yesterday« zu den meistinterpretierten Songs des 20. Jahrhunderts. Produziert hatte erneut Creed Taylor, der das Antlitz des seinerzeit neuen Sounds mit seinen visionären, wie detailgenauen Vorstellungen entscheidend mitgeprägt und auch auf seinem späteren Label CTI weiterverfolgt hat, wo etwa Eumir Deodato 1973 mit »Prelude« seinen internationalen Durchbruch feiern konnte.

Tristeza on Guitar

Mit dem Militärputsch von 1964 veränderten sich in Brasilien die allgemeinen Rahmenbedingungen, auch und gerade für Künstler: Etliche Musikerinnen und Musiker emigrieren, vorwiegend in die USA. Wer bleibt, muss sich mit der Zensur arrangieren. Die Notwendigkeit, insbesondere im Bereich der Texte Formen und Metaphern zu finden, die unterhalb des Radars der Zensurbehörden operieren, konkrete politische Aussagen also zu codieren, hat allerdings einige Meisterwerke des Genres hervorgebracht.

So zählt Chico Buarques 1971 veröffentlichtes Album »Construção«, an dem auch Jobim und de Moraes mitgewirkt haben, zu den allgemein anerkannten Meilensteinen der Popmusik. Das 1963 von Jorge Ben komponierte »Mas que nada« wird 1966 zum Welthit für Sérgio Mendes und dessen im US-amerikanischen Exil gegründete Formation Brasil ’66 (nach einer Umbesetzung 1971 Brasil ’77). Auch hier dürfte die Zahl der Coverversionen gegen unendlich gehen. Eine mit The Black Eyed Peas aufgenommene Fassung brachte Mendes 2006 erneut in die Charts.

Als weitere Schlüsselfigur des Bossa Nova ist neben Jobim und João Gilberto der Gitarrist Baden Powell zu nennen: In den Fünfzigern bildete er mit diesen und Luiz Bonfá ein erfolgreiches Quartett, der Zusammenarbeit mit Vinícius de Moraes entstammt »Os Afro Sambas« (1966). Das darauf enthaltene »Canto de Ossanha« wurde in der Interpretation von Elis Regina weithin bekannt. Im selben Jahr beginnt Joachim-Ernst Berendt, Platten mit Baden Powell zu produzieren: »Tristeza on Guitar«, 1966 noch in Rio de Janeiro entstanden und zunächst auf Saba erschienen, wird ein internationaler Erfolg.

Die Nachfolger »Poema on Guitar« (1968), »Canto on Guitar« (1971) und »Images on Guitar« (1973) wurden im MPS-Studio in Villingen aufgenommen und auf Hans-Georg Brunner-Schwers aus Saba hervorgegangenem Label Musik Produktion Schwarzwald (MPS) veröffentlicht. Mit einem Auftritt bei den Berliner Jazztagen beginnt eine erfolgreiche Karriere in Europa. Nach einem Jahrzehnt ausgedehnter Tourneetätigkeit zieht sich Baden Powell Mitte der 1980er-Jahre für einige Jahre in Baden-Baden zurück.

Fino da Bossa

Am unmittelbarsten lebt das Bossa-Erbe indes naturgemäß in der Entwicklung der brasilianischen Musik selbst fort. Mitte der Sechziger entsteht unter dem Rubrum Música Popular Brasileira (MPB) eine Fortschreibung der Idee einer originär brasilianischen Popmusik. Eine wichtige Multiplikatorin der MPB ist Elis Regina mit der von ihr präsentierten TV-Show »Fino da Bossa«. Ihre Aufnahme von »Arrastão«, geschrieben von de Moraes und Edu Lobo, einem weiteren Gitarristen der ersten Bossa-Generation, gilt allgemein als Geburtsstunde der MPB.

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Gegen 1967 kommt eine neue Bewegung auf, die Bossa Nova und Rockmusik zusammendenkt: Mit dem Begriff Tropicalismo sind in erster Linie die Namen Caetano Veloso und Gilberto Gil verbunden, die 1968 mit der Psychedelic-Rock-Band Os Mutantes, der Sängerin Gal Costa und dem Multi-Instrumentalisten Tom Zé die stilbildende, programmatische Anthologie »Tropicália ou Panis et Circensis« herausbrachten.

Caetano Veloso, bis heute einer der kreativsten Musiker Brasiliens, und Gilberto Gil, der nachmalige Kulturminister des Landes, werden daraufhin inhaftiert und gehen ins Exil nach London. Velosos Schwester Maria Bethânia hat sich nie auf einen Stil reduzieren lassen und hat Bossa-, MPB- und Tropicalismo-Titel aufgenommen. Ebenfalls bis zum heutigen Tag aktiv ist Marcos Valle.

Música das Nuvens e do Chão

Eine Ausnahmeerscheinung ist der Albino Hermeto Pascoal, der sich auch mit Heitor Villa-Lobos, dem bekanntesten brasilianischen Komponisten klassischer Musik, auseinandergesetzt hat. Der Multiinstrumentalist verschränkt Bossa mit Free Jazz zu einer kosmischen Mixtur, die Karl Lippegaus treffend als »Brasiliens Antwort auf Sun Ra« beschrieben hat.

Unter den Blechbläsern waren es in erster Linie der Posaunist Raul de Souza und der Trompeter Claudio Roditi, die auch international bekannt wurden. Die Vielzahl der brasilianischen Ausnahme-Perkussionisten verdient im Grunde genommen einen eigenen Beitrag. Die polyrhythmischen Netze von Airto Moreira, mit Hermeto Pascoal im Trio Sambrasa und Quarteto Novo verbunden, sind unter anderem auf Miles Davis’ ikonischem Album »Bitches Brew« sowie vielen Longplayern seiner Frau Flora Purim zu hören.

Weather Report und Chick Coreas Return to Forever waren weitere Stationen seiner Laufbahn. Dom Um Romão, der als Perkussionist bei Sérgio Mendes begann, wurde bei Weather Report dann Moreiras Nachfolger. Ein faszinierter Freigeist und Klangmagier von enormer kammermusikalischer Sensibilität ist Egberto Gismonti, dessen mit dem Perkussionisten Naná Vasconcelos eingespielte Album »Dança das cabeças« eine über Jahrzehnte anhaltende Zusammenarbeit mit Manfred Eichers ECM-Label einläutete.

Da Maior Importância

Zwangsläufig muss unser kursorischer Überblick an dieser Stelle unvollständig bleiben. Roberto Menescal, Milton Nascimento, Azymuth, Daniela Mercury, Secos e Molhados, Tim Maia, Antonio Adolfo, Spectrum, Sound Factory, Persona, Tribo Massahí sind nur einige wenige der vielen Akteure, deren Werk intensive Beschäftigung lohnt. Bebel Gilberto, die Tochter von João Gilberto und Nichte von Chico Buarque, hat mit David Byrne, Arto Lindsay und DJ Towa Tei zusammengearbeitet und mit eigenen Alben in den Nullerjahren die Weltmusikcharts erobert.

In jüngerer Zeit hat Ed Motta, der Neffe von Tim Maia, mit seiner brasilianischen AOR-Definition für einiges Aufhorchen gesorgt. Reissue-Labels wie Far Out Recordings, Mr Bongo, Elemental Music oder Whatmusic graben sorgfältig bislang (zumindest hierzulande) unentdeckte Raritäten aus. Vieles wird dadurch erst verfügbar: Für Originalpressungen von Arthur Verocais Debütalbum (1972), »Paêbirú« (1975) von Lula Côrtes e Zé Ramalho, José Prates’ »Tam… Tam… Tam…!« (1958) oder Pedro Santos»Krishnanda« (1968) müssen Sammler vierstellige Summen hinlegen.

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