Wer schon mal ein richtig gutes, fränkisches Brot aus Roggensauerteig gegessen hat, weiß, dass man um eines nicht herumkommt: Kümmel. Und an dem scheiden sich bekanntlich die Geister. Die einen lieben ihn, die anderen rümpfen die Nase.
Brannten Schnüre kommen aus Unterfranken. Sie erinnern ein bisschen an Kümmel. Die einen feiern das Duo bestehend aus Christian Schoppik und Katie Rich spätestens seit »Sommer im Pfirsichhain« (2017 auf Aguirre Records) oder »Erinnerung an Gesichter« (2019) als den sehnsüchtig-romantischen-post-industrial-Ambient-Folk-Sound, um den wir nicht mehr herumkommen werden – und wiederum andere fragen sich, was der Quatsch soll. Ist das Kunst oder Deutschtümelei?
2022 ist die letzte LP auf dem eigenen Label Quirlschlängle erschienen, nun steht die Veröffentlichung einer Compilation auf Bureau B an, die den mystischen Namen »Gespensterland« trägt. Und darauf sind nicht nur Brannten Schnüre zu hören, sondern auch weitere Bands aus deren engstem Umfeld. Eine Szene, die vielleicht gar keine ist, aber sich gekonnt und ironisch als eine solche inszeniert – als eine, die sich ebenso wenig labeln lässt wie die Musik von Brannten Schnüre. Die Bands tragen märchenhafte Namen: Sie heißen Baldruin, mit dem Schoppik schon 2011 die erste EP herausgebracht hat, Freundliche Kreisel, Kirschstein und Balint Brösel.
Alle Songs auf der Compilation sind bisher unveröffentlicht, wenn auch nicht brandneu. Einige haben ihre Schöpfer sogar überlebt: Kirschstein und die post-krautigen Balint Brösel, zwei Bands aus dem Ruhrgebiet, haben sich mittlerweile aufgelöst.
Johannes Schebler alias Baldruin hat erst im Juni dieses Jahres sein jüngstes Album »Relikte aus der Zukunft« auf dem peruanischen Label Buh! veröffentlicht. Mit seinem experimentellen, mal verspielten, mal nostalgisch-halluzinatorischen Ambient fügen sich seine Songs auf der Compilation dezent, aber harmonisch ins Gemenge. Und für das Elektro-Akustik-Trio Freundliche Kreisel, deren gleichnamiges Album im vergangenen Jahr auf Stroom erschienen ist, haben sich Schoppik und Rich mit Johannes Schebler zusammengetan.
Offiziell wird mit der Presse nicht geredet – es gehe um die Musik, nicht um die Personen dahinter. Aber immerhin ein ganz eigenes Relikt aus der Zukunft lässt Schoppik beim Getränk in einer karibischen Cocktailbar durchsickern: 2024 wird das nächste, aber auch letzte Album von Brannten Schnüre erscheinen. »Landschaft aus Tränen« wird es heißen und auch dafür hat Schoppik wieder tief in seinem Soundarchiv gewühlt und unter anderem Samples aus süßlich-romantischen Filmen und Telenovelas montiert. Ein bisschen Kitsch, ein bisschen Sehnsucht, alles nicht ganz ernst gemeint – oder vielleicht doch? Mystisch bleibt es, aber ein Spoiler darf verraten werden: Auch Fans des Trash-TV-Klassikers »Das perfekte Dinner« werden auf ihre Kosten kommen. Klingt absurd – und genau das soll es auch.
Poltergeister aus dem deutschen Mittelstand
Mystisch, absurd, geheimnisvoll: So klingt auch »Gespensterland«. Die Compilation scheint wie ein gemeinsamer Nenner im Schaffen aller beteiligten Artists. Da geht es um Themen wie Dissoziation und Entwirklichung in vielen Facetten. Um übernatürliche Erscheinungen – mal laut, mal ganz leise. Da sind Poltergeister ganz in ihrem Element und werfen mit Töpfen und Pfannen um sich. Aber da sind auch die Geister der Vergangenheit, die eine tiefe Nostalgie mit sich bringen, wie etwa im Song »Disco Disco«. Angelehnt an den gleichnamigen Track von Sugalo besingt Katie Rich in gewohnt kindlich-fragiler Manier die Fragen und Schmerzen von Heranwachsenden. Coming of Age in der Hülle eines schon fast Indie-Pop-Songs. Auch wenn der Titel trügt, soll die Musik all dieser Künstler:innen eines nicht sein: gruselig. Sondern heilsam.
»In jedem Stück spult sich die Fantasie einer verunglückten Zukunft ab«.
Alle Lieder haben mit Gespenstern zu tun – ohne, dass ernsthaft daran geglaubt wird, so viel wird von Schoppik klargestellt. »Gespensterland« wirkt eher wie ein Festhalten, ein Archivieren solcher Phänomene. Wie ein Kuriositätenkabinett für die Ohren.
Auch die Lieder von Kirschstein haben allesamt etwas Entrücktes, Halluzinatorisches, ja irgendwie Komisches. Und sie gehen Hand in Hand mit der Bildsprache von Brannten Schnüre: Da geht’s um Supermärkte, um Baustellen im Neubaugebiet, ein absichtlich inszenierter urbaner Anti-Natur-Folk, der alles andere als deutschtümelnd sein will. Und dieser urbane Folk, der in seiner romantischen Rückkehr zum Kunstlied manchmal so irritierend deutsch klingt, das Ganze aber auf die Schippe nimmt, ist der gemeinsame Nenner aller Gespensterland-Künstler.
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Man könne »Gespensterland« auch als Beitrag zu einer deutschen Antwort auf Mark Fishers hauntologische Theorien lesen, heißt es noch im Pressetext. »In jedem Stück spult sich die Fantasie einer verunglückten Zukunft ab, einem Erzählstrang, der lange Zeit unterbrochen war, ein Traumgesicht, das für immer uneingelöst blieb und nun deswegen an den mattgrauen Korridoren der post-historischen Gegenwart entlang spukt.«
Aber vielleicht ist das alles auch viel zu weit hergeholt?
Die Künstler:innen auf »Gespensterland« können Vieles sein. Spielwiese für Mark-Fisher-Fans, die Hauntology endlich auf ein praktisches Beispiel projizieren können. Oder einfach eine Verarbeitung des nächsten Umgebung, in der die Künstlerinnen und Künstler aufgewachsen sind – irgendwie zwischen Ruhrgebiet und Frankenland: German Mittelstand-Kids, deren Wünsche, ihre Gedanken und vor allem auch Sehnsüchte. Brannten Schnüre verarbeiten in ihren Liedern all das – aber nichts Exotisches. Vielleicht ist es das, was auf viele so deutsch wirkt. Und in den Worten von Brannten Schnüre: »Lieder vom Leben, Lieder vom Tod, die fangen an und hören auf, im Supermarkt, beim Schlussverkauf.«