Ben Zimmerman – Musik aus dem Discounter

11.06.2015
Es gibt in der Musik nichts Neues mehr? Man muss bloß ein bisschen suchen. Dann findet man so jemanden wie Ben Zimmerman. Der hat zehn Jahre lang Klänge erzeugt – auf einem schlichten Rechner der Elektromarkt-Kette RadioShack.

Die Klage, dass es keine wirklich neue Musik mehr gebe, alles schon mal da gewesen sei oder sich nur noch in Variationen bekannter Themen und Genres erschöpfen würde, ist zum Glück ein Vorurteil. Große Revolutionen mögen schon ein bisschen her sein, doch kommt immer wieder Neues nach, das weit mehr ist als eine bloße Fußnote zur Musikgeschichte. Man muss nur danach suchen. Und manchmal entdeckt jemand womöglich Musiker, die einen individuellen Zugang zur Musik gefunden haben, für den sie eher unübliche Mittel gewählt haben.

Der Zwecke heiligt die MIttel
Ben Zimmerman aus Brooklyn, New York City hat sich Zeit gelassen, um mit seiner Musik an die Öffentlichkeit zu treten. Von dem 2002 entstandenen Sounddesign für die Filminstallation »Trigger« des Künstlers Jordan Crandall abgesehen, trat er als Musiker bisher nicht groß in Erscheinung. Dabei hat Zimmerman schon als College-Student angefangen, mit einem primitiven Rechner der Elektromarkt-Kette RadioShack und dessen Betriebssystem DeskMate Musik zu machen. Die Aufnahmen aus der Zeit von 1992 bis 2002 fanden schließlich ihren Weg zu Daniel Lopatin auf dessen Label Software jetzt eine Auswahl unter dem Titel »The Baltika Years« erschienen ist. Und das, obwohl die DeskMate-Stücke, die Ben Zimmerman in seiner Freizeit aufnahm, gar nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, sondern erste Schritte in die Computermusik.

»DeskMate hatte ein Musikprogramm und ein Soundprogramm«, sagt Ben Zimmerman. »Mit dem Soundprogramm konnte man Samples aufnehmen und dann im Musikprogramm als Noten aufschreiben. Man benutzte also richtige Noten. Du hast damit die Tonhöhe der Samples verändert. Wenn man eine Oktave tiefer gingst, wurde auch das Sample eine Oktave tiefer gespielt. Du hast zwar mit Samples gearbeitet, aber in konventioneller Notation gearbeitet. Das ist ziemlich schräg. Heute macht so etwas niemand mehr.« Ben Zimmerman benutzt inzwischen längst Ableton. Von seinen alten Gewohnheiten hat er sich allerdings nicht getrennt: »Ich übertrage die DeskMate-Methoden sozusagen im Geiste, wenn ich mit Ableton arbeite.«

Die Entdeckung der Samplefunktion
Anfangs verwendete Ben Zimmerman lediglich die vier schlichten Preset-Klänge des Musikprogramms wie Klarinette, Klavier und Cello. In der Suite »Phyllis« auf der ersten Schallplattenseite von »The Baltika Years« kann man einige der überwiegend kruden Ergebnisse hören. Nach einem Jahr erst entdeckte er die Sampling-Funktion. Zur selben Zeit begann er, Platten zu sammeln. »In den DeskMate-Stücken erfährst du einiges über meine Plattensammlung damals.«

»Ich habe damals Musik gemacht, um damit entweder das zu imitieren, was ich selbst gehört habe oder um dem etwas anderes entgegenzusetzen.«

Ben Zimmerman
Gesammelt hat er sowohl Komponisten des 20. Jahrhunderts wie John Cage, Arvo Pärt, Karlheinz Stockhausen oder Philip Glass als auch House Music, insbesondere des Labels Strictly Rhythm. Der frühe IDM auf Mille Plateaux oder A-Musik habe ihn ebenfalls beeinflusst. Von seiner House-Sammlung ist auf »The Baltika Years« wenig zu hören, auch seine frühe musikalische Prägung durch Pop und Rock kann man allenfalls erahnen. Zimmermans Musik klingt stattdessen auf fremdartig spröde Weise expressiv. Mitunter hat man den Eindruck, der Computer habe selbst versucht, menschliche Ausdrucksformen im Medium Musik zu generieren. »John Peel hat, glaube ich, gesagt, dass er immer Sachen hören wollte, die er noch nie zuvor gehört hatte. Und ich habe damals Musik gemacht, um damit entweder das zu imitieren, was ich selbst gehört habe oder um dem etwas anderes entgegenzusetzen.«

The Baltika Years: Ein akustisches Tagebuch
Dass Zimmerman sich auch für Drum’n’Bass begeisterte, lässt sich auf der vierten Plattenseite von »The Baltika Years« nachvollziehen . »Pausebreak«, in sechs Teile gegliedert, nähert sich dem britischen Club-Hardcore auf eigensinnig abgehackte Weise, ist aber im Unterschied zum stärker an Klängen und Melodien orientierten Rest des Albums deutlich Rhythmus-basiert, wenngleich vielleicht nicht vollständig zum Tanzen geeignet.

Ben Zimmerman sieht sein DeskMate-Archiv vor allem als Versuch, sein Interesse an akademischer Musik mit seiner Liebe House und Rave zu vereinbaren. »Die beiden Sachen kann man eigentlich nicht zusammenbringen. Genau das habe ich mit dem ›Baltika Years‹-Projekt versucht.« Wobei die Musik für ihn eine Art akustisches Tagebuch war. »Ich habe die Sachen als Skizzen betrachtet, die ich später ausarbeiten würde. Einige davon habe ich sogar ausgedruckt und in Notenform zu bringen versucht. Ich wollte tatsächlich, dass Musiker das aufführen.«

Oneohtrix Point Never hat aus 500 Stücken ausgewählt
Als Daniel Lopatin von Zimmermans Musik erfuhr, zeigte er sich höchst interessiert an dessen akustischen Notizen. »The Baltika Years«, von dem als Oneohtrix Point Never bekannten Lopatin »kuratiert«, zeigt allerdings nur einen Ausschnitt aus dem DeskMate-Tagebuch Zimmermans. Über 500 Stücke habe er mit diesem Verfahren geschrieben. Drei Tage benötigte Zimmerman allein für die Umwandlung der Dateien von seinen alten Floppy Disks in MIDI-Dateien. Den Großteil davon hatte er selbst seit Jahren nicht mehr gehört.

Auf die Frage, ob er sein DeskMate vermissen würde, antwortet Zimmerman, ohne zu zögern: »Kein bisschen! Das einzige, was ich an DeskMate vermisse, ist, dass es ich jetzt gern hätte, um einige der alten Dateien umzuwandeln, bei denen ich bisher keinen Erfolg hatte.« Zugleich räumt er ein, dass DeskMate sein Interesse an Hardware und am Programmieren insgesamt geweckt habe. »Ich wollte wissen, wie man so etwas selbst schreibt.« Mittlerweile benutzt er Chuck, um für seine Zwecke eigene Effekte zu programmieren. »Das war ein großer Fortschritt. Die Inspiration dazu kam aber ganz klar durch DeskMate.«