Arooj Aftab singt Liebeslieder in Armeesprache – und wie

11.11.2024
Foto:© Sherya Dev Dube
Arooj Aftab hat Urdu im Alleingang zu einer Sprache der weltweiten Musikszene erhoben. Wie und warum der 1985 in Lahore geborenen Aftab das gelungen ist, darüber sind sich Feuilletons und Musikmagazine uneins.

Knapp 250 Millionen Menschen sprechen Urdu. Damit ist die zehntmeist verbreitete Sprache der Welt. Und trotzdem ist sie hierzulande nahezu unbekannt. Überhaupt spielte Urdu in der Weltöffentlichkeit stets eine untergeordnete Rolle, der kulturell hegemoniale Westen ignorierte die Viertelmilliarde Menschen in Pakistan und Nordindien. Wie also konnte Arooj Aftab das – wenn auch nur in einem kleinen Rahmen – beinahe im Alleingang ändern?

Da gibt es die Fraktion, die auf Aftabs einzigartige Stimme verweist. Rauchig und sanft zugleich, warm und doch entrückt, meditativ und nachdrücklich – selten hat es eine Stimme geschafft, solche Gegensätze in sich zu vereinen. Nicht nacheinander, also keine Stimme, die das eine und das andere beherrscht, sondern jeder Ton von Aftab zeigt zahlreiche Facetten. Das ist in dieser Form tatsächlich unbekannt gewesen. Zu hören war diese faszinierende Stimme ohne Heimat erstmals im Internet, wo Aftab mit einer Interpretation von Leonard Cohens »Hallelujah« zunächst in Pakistan einen Hype auslöste und sich dann für ein Studium in den USA qualifizierte. Am renommierten Berklee College in Boston konzentrierte sie sich dann mit knapp 20 Jahren nicht auf eine Instrumentalausbildung (oder Gesang), sondern studierte Musikproduktion und Jazzkomposition.

Textlich geht sie keine Kompromisse ein: Sie singt in ihrer Muttersprache Urdu, als wäre es eine der großen Popsprachen unserer Zeit.

Das zahlte sich Jahre später aus, als sie mit ihren Debütalben »Bird Under Water« (2014) und »Siren Islands« 2018 ihren Durchbruch feierte. Die Presse lobt ausdrücklich die außergewöhnliche Qualität der Produktion, schließlich hebt die Mikrofonierung die Besonderheiten der Stimme hervor; ein Hauptaugenmerk der mittlerweile in Brooklyn lebenden Arooj Aftab.

Textlich geht sie keine Kompromisse ein: Sie singt in ihrer Muttersprache Urdu, als wäre es eine der großen Popsprachen unserer Zeit, zitiert und inspiriert sich an der Ghasel-Lyrik, die im 12. Jahrhundert in Arabien entstand und in den folgenden Jahrhunderten über Persien auf den indischen Subkontinent gelangte und dort ihre Blütezeit erlebte. Sie ist eng mit dem Sufismus verbunden, der mystischen, aber liberalen Form des Islam, und wurde für romantische, erotische und religiöse Inhalte verwendet. Aftab interpretiert das in Urdu, einer Sprache, die übersetzt »Armeesprache« bedeutet.

Eine erste wirkliche Weltmusik

Womit wir beim zweiten Erfolgsgeheimnis wären: Auf einem sehr gesättigten Markt von Pop- und auch Jazzstimmen sticht Aftab mit ihrer Gesangstechnik heraus. Statt in den zwölf dezent voneinander getrennten westlichen Halbtönen, dem musikalischen System, in dem wir uns zumeist bewegen, singt die Pakistanerin in den mikrotonalen Stimmungen ihrer Heimat, mit hoher tonaler Komplexität, starken Texturen und ungewöhnlichen Phrasierungen.

In Perfektion präsentiert auf ihrem dritten Album »Vulture Prince«, das ihren weltweiten Durchbruch bedeutete. Ihre Single »Mohabbat« fasziniert mit subtilem Vibrato, schwebenden Tönen, Kadenzen, die westlichen Ohren jahrhundertelang unbekannt waren. Unterstrichen wird das durch eine Instrumentalisierung, die nach Jazzband klingt, aber auch nach amerikanischer Appalachian Folk Band oder europäischer Postpunk Combo. In Aftabs Songs wird auf ganz eigene Weise ein Ort geschaffen, der sich gerade durch seine Nicht-Zuordenbarkeit auszeichnet. Vor allem auf dem diesjährigen Vierteiler »Night Reign« bedeuten Lahore, Brooklyn, Berlin oder Rio de Janeiro nichts mehr, Urdu und Englisch werden zu einer Sprache.

Arooj Aftab, so könnte man sagen, schafft die erste wirkliche Weltmusik, eine, die den ganzen Globus umspannt und doch überall zu Hause ist. Eine, in der über die Liebe gesungen wird, weniger mit Worten als mit Klang und Gefühl. Und das ist wirklich die große Leistung dieser außergewöhnlichen Sängerin.