Anushka Chkheidze: Georgiens große neue Avantgarde-Musikerin

29.07.2024
Foto:© Robbrecht de Smet
Reise-Influencer:innen haben das Land zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer in den letzten Jahren zum latest shit erklärt. Seltsamerweise kam dabei eine Sache kaum bei uns an: zeitgenössische georgische Musik. Bis jetzt?

Gründe, wegen denen Georgien in den letzten Wochen in deutschen Tageszeitungen aufgetaucht ist: Orange Wine, Kvaradona, Agentengesetz und endlich eine in Freude aufgehende Pride Week. Jedes Thema, auf seine eigene Weise von großer Bedeutung für das Land und für Europa – immerhin ist Georgien ein EU-Beitrittskandidat.

Worüber man hierzulande derweil viel zu selten etwas erfährt, ist eine Musikszene, die sich in den letzten Jahren freigeschwommen hat und bei Insidern bereits Fernweh erzeugt. Denn das Land, das zwischen der Türkei und Russland eingeklemmt im Kaukasus liegt, hat viel zu bieten.
Eine unter diesen super-talentierten georgischen Künstler*innen ist die 1997 geborene Anushka Chkheidze, die 2019 erstmals einem breiteren Publikum vorgestellt wurde: Auf der hochgepriesenen Compilation »Sleepers, Poets, Scientists« war sie gleich mit drei Tracks vertreten.


Diese Sammlung wurde von Natalie Beridze, Musik-Professorin in Tiflis zusammengestellt und wirft Licht auf eine neue Generation an avantgardistisch, experimentell oder generell elektronisch interessierten Musikerinnen aus dem von ihr geleiteten Bachelor-Studiengang. »Old Man and The Sea« ragt unter den wirklich ausgezeichneten Tracks hervor: Kühle Synthlines klingen nach einer grandiosen Ämulation von Grauzone oder anderen Postpunk-Bands der frühen Achtziger.

Ein Mini-Break später befinden wir uns in einer gänzlich anderen Welt, die von einer wonky Hook, einem breakigen Drum-Set und zwischenzeitlich ordentlich Hall bestimmt wird. Das ist so elegant wie es experimentierfreudig ist, so treibend, wie es doch eher dem »braindance« verpflichtet bleibt. »Ich bin mit elektronischer Musik das erste Mal am Rande eines Festivals in West-Georgien gekommen, als mich meine Eltern dorthin mitnahmen«, erzählt sie während eines Aufenthalts in Monheim am Rhein, wo sie Künstlerin der aktuellen Triennale ist und am Festival »The Prequel« teilgenommen hat.

Eine Idee von Sound

Das war damals, bei ihrem ersten Festivalerlebnis mit ihren Eltern noch Traumdenken: »Die Musik haute mich komplett aus den Socken. Sowas wollte ich auch machen.« Nach ihrem Schulabschluss begann sie ein Bachelorstudium am Creative Education Studio in Tiflis, landete unter anderem bei Natalie Beridze.

Macht alles Sinn? Nur so halb, denn Chkheidze kommt nicht aus einem kulturellen Zentrum wie der Millionenstadt Tiflis oder dem Regionalzentrum Batumi, sondern aus einem 2000-Seelen-Dorf in der landwirtschaftlich geprägten Region Kharagauli. Statt Synthesizer gibt es hier Felder mit Roggen, es gibt Weinreben, es herrscht die Natur. »Es ist eine sehr kleine Stadt, aus der ich komme, wo alles zu Fuß erreichbar ist.«

»Ich liebte das Piano, aber ich hasste Notenlernen. Das war der Moment, als ich mich in die Idee von Sound per se verliebte.«

Anushka Chkheidze

Ein geradezu friedvolles Leben, in dem lautes Singen auf der Straße eine Normalität darstellt. Die folkloristischen Gesänge seien dementsprechend die Musik ihres noch jungen Lebens, die alten Lieder, die bei Festen oder in der Kirche angestimmt werden, ihr Soundtrack. Sie wollte selbst ein Instrument lernen, die Eltern ermöglichten Klavierstunden: »Ich liebte das Piano, aber ich hasste Notenlernen. Das war der Moment, als ich mich in die Idee von Sound per se verliebte.«

Wissbegierig suchte sie nach immer neuen Musikformen, nach innovativen Harmonien; die Avantgarde faszinierte sie. Gleichsam merkt sie schnell, dass sie ihre folkloristischen Wurzeln nicht ablegen muss, sondern diese integraler Bestandteil der eigenen musikalischen Identität bleiben dürfen, sogar müssen: »Ich weiß, dass man das nicht unbedingt zwischen den elektronischen Sounds heraushört, aber georgische Lieder und Chöre sind immer noch der bestimmende Einfluss in meinen Tracks.«

Angekommen, um weiterzugehen


Nach dem Studium in Tiflis zog sie nach Utrecht. Obwohl Tiflis viel größer ist, zeigte Utrecht eine viel breitere kulturelle Palette. Viele kleine Szenen, neue Clubs und ein Masterstudium – tatsächlich fiel die Entscheidung für die professionelle Musikerinnenkarriere erst in den Niederlanden.

Bis jetzt besteht Chkheidzes Diskografie aus drei ganz speziellen Alben. Geplant war keines davon. »Ich denke gar nicht in der Albenstruktur. Ich produziere einzelne Tracks und konzentriere mich darauf. Aber dann gab es jedes Mal einen Moment, in dem sich einen inneren Zusammenhang zwischen verschiedenen Stücken ergab. Daraus wurden dann doch LPs.«

Man merkt dem Album »Clean Clear White« nicht an, dass es sich eigentlich um eine lose Sammlung an Stücken handelt, ganz im Gegenteil: Die acht Stücke entwickeln eine fulminante Sogwirkung, sind experimentell, aber intuitiv, offenbaren einen Blick in das bereits reife Wirken von Anushka Chkheidze. »Die LP zeigt, was ich alles ausprobieren möchte in meiner musikalischen Karriere.« Wir sind sehr gespannt.