Andy Stotts Musik kann sich anhören, als sei sie in Steine gemeißelt. Dabei ist sie nicht erst seit seinem neuen Album »Too Many Voices« geprägt von konstanter Metamorphose. Vor zehn Jahren begann der Mann aus dem rauen Norden Manchesters seine Karriere mit markerschütterndem Dub Techno, doch spätestens mit dem 2012 erschienenen »Luxury Problems« zeigte er, dass er nicht nur knochenhart kann; dass er nicht nur den Presslufthammer sondern auch Häkelnadeln beherrscht. Stott mischte auf dem Album die opernhafte Stimme von Alison Skidmore unter seine berüchtigten apokalyptischen Technoklänge.
Wo es früher stumpf und emotionslos hämmerte, bricht nun hier und dort die Melancholie durch. Dass Andy Stott auch mal fragil klingt, rührt nicht etwa von veränderten Lebensumständen. Und vielleicht ist das dann wieder, was man als »typsich« Andy Stott bezeichnen würde: Technik ist Grund für die neuen, die sanften, die zerbrechlichen Klänge. »Wenn ich einen bestimmten Klang in einem Lied höre, der meine Aufmerksamkeit erregt, dann möchte ich wissen woher dieser kommt, welches Equipment dafür verwendet wurde und wie dieser bearbeitet worden ist. Dies inspiriert mich dann auch zur Verwendung bestimmter Geräte in meinem Studio«, erklärt Stott.
Modern Love – Wenn die Technik bestimmt
Der größte musikalische Einfluss kommt dabei von seinem Freund Shlom Sviri. Dieser betreibt das Label Modern Love, auf dem Andy sämtliche seiner Platten veröffentlicht hat. »Er spielt mir ständig neue Tracks vor, die ich anderweitig nie entdeckt hätte und darin höre ich viele dieser spannenden Klänge. Shlom bringt mich auf neue Ideen und zeigt mir neue Wege, auch in unseren gemeinsamen Gesprächen.« Während der Produktion von »Too Many Voices« lernte er auf diese Weise die scharfkantigen und rauen Synth Klänge der Grime-Szene kennen. Vor allem die alten DJ Slimzee- und Dizzee Rascal-Mixe bewegten ihn schließlich zum Kauf eines Korg Triton Synthesizers bei Ebay. Doch bei seinen Klangexperimenten fand er damit eine ganze Reihe eigenständiger Sounds fernab der prägnanten Square Waves des Grime, welche die Struktur des Albums maßgeblich prägten. Die hektischen, wilden Wechsel im Opener »Waiting For You«, oder die konfrontativen Klangelemente auf »Selfish« bilden einen direkten Kontrast zum zurückhaltenden und nahezu zärtlichen Arrangement von »New Romantic«. Die markante Ästhetik von Andys Musik nimmt erst während seiner Arbeit Formen an. Er folgt damit einer geradezu impulsiven Produktionsweise. Denn welches Stück er gerade schreibt kann auch ganz einfach davon abhängen, welches Gerät er an diesem Tag in seinem Studio als erstes anschaltet und verwendet.
Und Andy Stott verzieht sich gerne hinter seine Gerätschaften. Ein Freund großer Worte ist er nicht, dem Mittelpunkt bleibt er fern, alles ganz nordenglisches Understatement. Ganz seine Heimatstadt Manchester. Trotz eines allgemein eher schroffen Umgangstons sind deren Bewohner durchaus dafür bekannt, sich selbst nicht unnötig wichtig oder ernst zu nehmen. Obwohl Manchester den Mittelpunkt seines Lebens und Schaffens darstellt, möchte Andy die Einflüsse auf seine Musik allerdings nicht konkret verorten: »Ich glaube das, was ich mir anhöre und interessant finde, hat die größten Auswirkungen auf mein Schaffen. In meinen frühen Tracks aus den Anfängen hört man beispielsweise einige Spuren von der elektronischen Musik Detroits oder Chicagos. Denn das war es, was ich damals kennengelernt habe. Ich kann dabei aber nicht genau sagen, inwiefern mich nun diese oder jene Stadt beeinflusst hat.«
Die Stadt schlechthin sieht man im Video zu »Butterflies«. Andy Stotts erstes Musikvideo überhaupt. Michael England drehte es in New York. Im Video schwebt ein Tänzer in einer Choreographie geradezu durch die U-Bahn Stationen und Straßen der Metropole, der Himmel ist dunkel, hell erleuchtet sind die ausdrucksstarken Gesichter der Menschen, die durch die Nacht schweifen. Dabei war es weniger diese Stadt an sich, sondern genau diese Aufnahmen, welche die grobe Schönheit des Tracks eingefangen haben. Eine ähnlich starke visuelle Bindung zur Musik entsteht auch durch die faszinierenden Cover-Artworks seiner Platten. Vom deprimierenden Sozialrealismus auf der EP »Passed Me By« zu der künstlerischen Leiblichkeit auf »Luxury Problems« spiegeln diese Bilder seine konstante musikalische Entfaltung. Die Eleganz einer Reihe von Balletttänzerinnen auf »Too Many Voices« zeigt erstmals mehr als eine einzelne Person. Dies symbolisiert das fragile Gleichgewicht, das inzwischen in Andy Stotts Musik herrscht, wie auch das starke Fundament, auf dem sie steht. Im Bereich der elektronischen Musik zählt er damit neben zahlreichen großen Egos und Eintagsfliegen zu einem der absoluten Ausnahmetalente.