Anadol über lange Lieder und heiklere Angelegenheiten

19.06.2023
Foto:© Pingipung
Was bekannt ist: Anadol hat in den vergangen Jahren ziemlich gute Musik veröffentlicht. Viel mehr weiß man nicht, die Musikerin scheut die Öffentlichkeit. Wir durften via Zoom ein paar Dinge mit ihr klären.

Vor etwa vier Jahren kannten nur eingeweihte Geister die Klangwelten der Istanbulerin Gözen Atila aka Anadol, die damals noch in Berlin wohnte. Eine Kassette schwirrte bei Instagram als Kachel herum. Mehr nicht. Kurze Zeit später erschien »Uzun Havalar« als Vinyl – was gleichzeitig den Durchbruch für Anadol darstellte. Auf einen Schlag rissen sich die hiesigen Musik-Fans um die etwas weirden Songs voller Presets, Orgel-Sounds und der nötigen Prise Nonsens. Die Platte, die auf dem Hamburger Label Pingipung ein Zuhause fand, landete bei jedem zweiten Bar-DJ-Set hierzulande auf dem Teller. Manchmal gleich mehrfach an einem Abend.

Zu dem Zeitpunkt war Anadolu Rock als Genre schon seit einiger Zeit besprochen, diskutiert und gespielt worden. Manchmal aus der Türkei importiert, weitaus häufiger aber in Deutschland und England wiederveröffentlicht, waren Neşe Karaböcek und Erkin Koray heiße Tipps – zumal von Granden wie Baris K als Edit noch gezielter auf den Dancefloor gerichtet. Ein Revival etliche Jahrzehnte nach ihrem Wirken. Bei Songs von Derdiyoklar hörten sowohl Menschen mit familiärer Migrationsgeschichte aus der Türkei (und Kurdistan) hin, als auch Menschen ohne. Manch einer soll darüber erst seine Awareness über die fortbestehende Diskriminierung und Marginalisierung entdeckt haben. Aber es ging auch lustvoll vonstatten: Schwül-dunstige, post-migrantische, inter-kulturelle Partynächte wurden gefeiert, »Hal, Hal«-Rufe durchdrangen die Nachbarschaften. Doch irgendwann kam der Kater: Türk*innen zeigten sich bisweilen genervt, dass jeder Alman nun die ›exotische‹ Sexyness des Anadolu Rock am Freitagabend feierte, sie am Morgen danach, bei einer Wohnungsbesichtigung, dennoch eine Absage bekamen, weil sie den falschen Nachnamen hatten.

Türk_innen zeigten sich bisweilen genervt, dass jeder Alman nun die ›exotische‹ Sexyness des Anadolu Rock am Freitagabend feierte, sie am Morgen danach, bei einer Wohnungsbesichtigung, dennoch eine Absage bekamen, weil sie den falschen Nachnamen hatten.

Und jene, die nur auf Distinktionsgewinn oder Discogs-Erlöse aus waren, verfolgten schon bald andere Trends: Westafrika, der Iran, Südafrika und Kolumbien – da konnte man mindestens genauso gut neue, alte Platten ›ernten‹. Anadol stieß mitten in die Katerstimmung und löste sie auf: Statt in der (bisweilen schmerzhaften) Vergangenheit zu schwelgen, nutzte sie zwar alte Maschinen, aber neue Gedanken. Sie bastelte einen ankerlosen Sound, der durch die Musikgeschichte und über Ländergrenzen hinweg segelte. Da gab es französischen Chanson und italienische Soundtracks; die Rhythmen Spaniens und Lateinamerikas; Synth- und Orgel-Sounds; ein flexibler, elastischer Jazz und dazwischen versteckt eben doch die ein oder andere ›nahöstliche‹ Melodie, oder was man als solche erkennen wollte. Statt einem Album fand man ein Hörspiel, das sich jedes Mal aufs Neue entfächerte, seine Quellen offenbarte, aber in seiner Eigenartigkeit schlicht und ergreifend neu blieb. Da wurde Musikmachen sehr ernst genommen, aber keine Sekunde zu ernst.

Auf dem letztjährigen Nachfolger »Felicita« wurde alles noch romantischer, introvertierter, keineswegs zurückhaltender. Au contraire: Hier zeigte sich eine ungeahnte Tiefe, die auch nach dem fünften Durchlauf neue Facetten offenbarte. Doch Anadol erzählt dazu normalerweise nichts – Interviews gibt sie eigentlich keine.


Es gibt einen guten Grund, warum wir uns heute beim Zoom treffen: Deine zweite LP »Hatıralar« aus dem Jahr 2017 wird wiederveröffentlicht. Möchtest Du erstmal die Geschichte dieses Albums erzählen… und warum das Album auf USB-Stick rausgekommen ist?
Anadol: Niemand wollte »Hatıralar« damals rausbringen. Es gab allein diesen Freund von mir, Işık Sarıhan, der mit seinem Inverted Spectrum Records Interesse bekundete, das Material zu veröffentlichen. Das haben wir dann auch gemacht. Ich hatte vorher schon daran gedacht, die Veröffentlichung selbst in die Hand zu nehmen. Du musst wissen: Zu dem Zeitpunkt war das Material schon fünf Jahre alt. Ich sprach also schon mit Vinyl-Presswerken, aber für eine Künstlerin ist es sehr schwer und anstrengend, Platten selbst zu releasen.

Und wie kam es zum USB-Stick?
Ich wollte nicht nur einen Online-Digital-Release rausbringen. Ein physical release musste sein: Wir haben dann den USB-Stick in kleine Täschchen gepackt, dazu noch zwei Bonus-Tracks von meinem ersten Album und dem Video zu »Tahta Sucuk« als hochauflösende Datei. Außerdem hatten wir gedruckte Postkarten als Cover, mit handgeschriebenen Grüßen an alle Käufer bei Bandcamp. Dieses Album landete bei einem Berliner Labelmacher, der dann auch mein Album »Uzun Havalar« auf seinem Label Kinship als Kassette veröffentlichen sollte. Diese Kassette wiederum fand ihren Weg zu Andrea Wienck von Pingipung.

Dort erscheint auch das Repress von »Hatıralar«.
Ich habe Andrea gesagt, dass man das Album wiederveröffentlichen könne. Mir lag aber am Herzen, dass man die LP neu abmische. Der Original-Mix war sehr amateurhaft.

Du hast schon erzählt: »Hatıralar« entstand eigentlich zwischen 2011 und 2012, genauso wie dein erstes, aber leider recht unbekanntes erstes Album »Çürüyen Yıllar«. Damals hast du »Musik-Technologie« in Istanbul studiert. Ich habe mich gefragt: Gab es einen bestimmten Grund, warum du angefangen hast eine Musik zu spielen, die nicht nach ›Technologie‹ im engeren Sinne klingt?
Tatsächlich bin ich zur Universität gegangen, um eine ›seriöse‹ Komponistin im elektronischen Feld zu werden. Ich habe mit Aufnahme- und Processing-Techniken experimentiert. Doch das lief nicht sonderlich gut, wenn ich ehrlich bin. Jedenfalls nicht bis zum letzten Jahr meines Studiums. Ich habe mit Mini-Orgeln gespielt, Songs geschrieben, ich habe Musik-Videos nächtens produziert und dann online gestellt. In dieser Zeit entstand dann auch Anadol.

Aber du hast auch Hörspiele produziert, oder?
Ich habe mein Diplom sogar mit einer Thesis über Radio-Kunst abgeschlossen – und mit einer eigenen Radio-Arbeit namens »Amateurs and Sailors«. Nach den ersten Jahren war eine Karriere als Hörspiel-Produzentin dann tatsächlich meine angestrebte Wahl. Der österreichische Sender Ö1 hat mehrere Werke von mir ausgestrahlt und auch welche in Auftrag gegeben. Erst später erkannte ich, dass das Feld sehr eng ist und von der Industrie unterschätzt wird.

Diese Arbeit mit dem Medium Radio kann man bei »Uzun Havalar« deutlich erkennen. Die ganze Platte wirkt mit seinen Montagen und diesen Collagen wie ein Hörspiel.
Ich begann irgendwann damit, die Aufnahmen aus den Hörspielen mit jenen des Anadol-Projekts zu verbinden. Der Song »Ay Cürüdü« ist das erste Lied, das so entstand. So kam es zu »Uzun Havalar«: Dieses Lied passte sonst nirgends rein.

Du benutzt vor allen Dingen alte Instrumente und Technik aus den Siebzigern. Besonders deine Rhythmus-Sektionen sind einfach die Presets, die mit den Maschinen kommen. Wie zum Beispiel Rumba oder Cha-Cha …
Ja, ich benutze die alle. Außer dem Tango-Preset. Ich hasse es.

»Es ist kompliziert: Traditionelle Lieder sind eine heikle Angelegenheit. Ich hoffe, dass ich nicht mehr über nahöstliche oder türkische Musiktraditionen reden muss.«

Anadol

Mit den Maschinen kommt Restriktion. Du hast diese Melodien dann mit Live-Musiker:innen overdubbet – was war die Idee dahinter?
Technisch gesprochen habe ich nicht mit Overdubs gearbeitet, sondern Aufnahmen, die ich mit befreundeten Musikerinnen aufgenommen habe bei mir zu Hause mit den ursprünglichen Songs zusammen geschnitten. Die Musikerinnen haben nicht über die Songs gespielt, stattdessen hatte ich ihnen gesagt: Könnt ihr mal in E-Dur improvisieren?

Das ist jetzt eine Journalisten-Frage, ich weiß, aber es wirkt tatsächlich auf mich, als wärst du eine Künstlerin, die nicht nach den Regeln spielen möchte. Statt Live-Konzerte zu geben, ist deine Performance-Praxis das DJ-Set. Und statt Interviews zu geben, bist du sehr um deine Privatsphäre bemüht. Warum?
Dieses Jahr trete ich nichtmal als DJ auf. Es gibt so viele Künstler:innen, die auftreten, die ihre Songs eine Milliarde mal spielen. Dazu kommt Reisen etc. Ich mag diesen Aspekt des Musiker:innen-Daseins nicht. Ich habe keine Bühnen-Energie und leide unter Lampenfieber.

Es gibt folgendes Zitat von dir: »Egal, ob traditionell oder kontemporär, wir müssen authentisch sein.« Ist Authentizität wirklich wichtig für dich?
Ich bin kein großer Fan des Zitats, wenn ich ehrlich bin. Zum Release von »Felicita« hat mich Andi (Otto, Mitbetreiber von Pingipung; Anm. d Aut.) interviewt für den Pressetext. Wir sprachen über mein Verhältnis zur traditionellen Musik, glaub ich. Als ich die Vorgängerplatte »Uzun Havalar« nach einer türkischen Musik-Tradition benannt habe, war das als Wortspiel gedacht. Uzun Havalar bedeutet ›Lange Lieder‹ und ich habe halt lange Lieder gespielt. Aber viele Menschen schrieben danach, dass ich traditionelle Lieder improvisiert hätte. Keine Ahnung, woher das kam. Es ist kompliziert: Traditionelle Lieder sind eine heikle Angelegenheit. Ich hoffe, dass ich nicht mehr über nahöstliche oder türkische Musiktraditionen reden muss. Das ergibt für mich keinen Sinn. Sicher: Ich selbst bediene mich manchmal Melodien aus dem Nahen Osten, aber das macht ja jeder.

Und andersrum stimmt es ja auch. Du bedienst dich beim französischen Chanson genauso wie bei der spanischen Folklore …
Genau. Ich nehme alles, was mit gefällt. Ich mag generell Musik, bei der man sich nicht entscheiden kann, was man vor sich liegen hat. Das steht im Zentrum von Anadol. Das war der Grund, warum ich >authentisch< in dem Zitat benutzt habe.

Ich werde nicht [in Istanbul] bleiben, egal was passiert. Andererseits: Auch Deutschland mag ich nicht besonders gerne.

Anadol

Apropos: Spielt dein Nom de plume Anadol auch eine Rolle dabei, dass Menschen deine Musik als Kommentar auf traditionelle Musik falsch verstehen? Mit der Welle an türkischen Reissues, die vor zehn Jahren durch Europa schwappte, wurden vergleichsweise viele Digger und Nerds mit dem Begriff ›Anadolu‹ vertraut.
Das ist eine ganz andere Story. Mit einem Freund von mir habe ich vor einigen Jahren in Istanbuler Bars aufgelegt. Und ja, das war zu der Zeit als Anadolu Rock gerade sein Revival feierte: Mit Selda Bağcan– und Barış Manço-Re-Releases und Finders Keepers-Platten. Der Freund hat diese Platten benutzt, editiert und Beats hinzugefügt. Ich sagte: »Warum nennst du dich nicht einfach ›Anadol‹? Es ist ein richtig guter Name.« Er nahm den Namen nicht, dafür habe ich ihn dann genommen. Die Sache ist: Es gibt diese ganze mythische Verklärung des Namens, weil Anadol war der Name einer türkischen Automarke – dem ersten Auto, das in der Türkei produziert wurde. Es war wieder mehr ein Witz als Ernst, aber ich bin immer noch happy mit dem Künstlernamen.

Bei dem Hype um türkische Musik frage ich mich gerade: Ein smarter Booker für eine Location packt verschiedene, disparate türkische Künstler:innen zusammen, um einen türkischen Abend zu machen – bist du mit solchen Bookings und Anfragen konfrontiert worden?
Ja, ich habe auf diesen Events aufgelegt. Dann habe ich aber aufgehört so etwas anzunehmen, weil es wirklich keinen Sinn ergeben hat für mich. Diese Events waren immer so… (schüttelt sich) Ich hatte irgendwann dieses Gefühl, dass es nur diesen einen Grund gab, warum man für diese Shows gebucht wurde: Die Veranstalter haben geschaut, welche Musiker:innen türkisch sind.

Ich weiß nicht, ob du auch über Politik reden möchtest. Du bist gerade wieder zurück nach Istanbuld gezogen und gerade gab es die Präsidentschaftswahl – es fühlt sich von hier aus kontraintuitiv an, im Moment in Istanbul zu sein.
Ich bewege mich permanent zwischen Berlin und Istanbul. Und es gibt kein >aktuell< – das alles passiert hier seit 20 Jahren. Damit aber nicht der falsche Eindruck entsteht: Auch ich weiß nicht, wo ich im Herbst leben werde. Ich werde nicht hierbleiben, egal was passiert. Andererseits: Auch Deutschland mag ich nicht besonders gerne. Also werde ich schauen müssen …

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Habe ich etwas vergessen zu fragen? Ich glaube wir haben ausgiebig über das Release und deine Karriere geredet.
Es wird noch einen anderen Release geben. Letzten Sommer habe ich auf einem Festival in England die Französin Marie Klock kennen gelernt. Ich war backstage während ihres Auftritts und habe sehr gut gefunden, was ich da hören durfte. Wir haben dann eine Zeit lang Nachrichten ausgetauscht und sie kam später nach Istanbul, wo wir eine bizarre Pop-Platte aufgenommen haben. Sie singt und trägt Texte vor und spielt dazu noch sehr, sehr schön Keyboard. Die Platte soll bald bei Pingipung erscheinen.