Ein neues Beyoncé-Album ermüdet mich diskursiv mehr als jede Steuererklärung, weil man ein Beyoncé-Album nicht einfach bespricht, sondern eine makrosoziologische Exegese zu den Themen Identität, Marketing und Pop in petto haben muss, die aber bitte allen bisher aufgestellten Thesen mindestens noch drei eigene Einsprüche entgegen bringt. Big ass Hausarbeitsshit einfach. Deswegen an dieser Stelle gar nicht erst der Versuch einer Dissertation, sondern die einfältige Beobachtung, dass der Hauptgrund, warum ich »Renaissance« trotz teilweise wirklich absurd guter Produktion wieder nicht oft hören werde, schlicht in dieser extremen stimmlichen Dominanz Beyoncés liegt, die sich eben nicht in den Dienst der Musik stellt, sondern stets das Epizentrum jedes Songs bleibt.
Florian Aigner Zur ReviewIn vielerlei Hinsicht ist Rosalía verglichen mit Beyoncé heute der aufregendere Popstar, der Diskurs um das Phänomen ist nur nicht halb so masturbatorisch. »Moto Mami«, inzwischen auch physisch erschienen, bleibt aber auch jenseits kompetitivem Journo-Bubbling ein instant 100% körperliches Album mit einem Peak-Neptunes-Brett von einer Leadsingle, der Type of Shit über den N.O.R.E. wie Timberlake 2002 gleichermaßen unantastbar geklungen hätten.
Florian AignerHudson Mohawke wirkte in seinen Yeezy-Crossover-Jahren wie ein Avatar seiner selbst, kulminierend in der kreativen TNGHT-Sackgasse. Es wundert also kaum, dass er mit »Cry Sugar« erst nach einer ausgedehnten Auszeit wieder ansatzweise an seine überbordend kreative Sturm und Drang Zeit vor fast fünfzehn Jahren anknüpfen konnte. »Cry Sugar« ist dabei vor allem deswegen ein bemerkenswertes Album, weil Hud Mo Pop 2022 rafft und trotzdem andere Schlüsse daraus zieht als beispielsweise das durchaus klangpalettenmäßig vergleichbare PC Music-Camp. Saccharin ist das, überdreht, grell, als hätte ein grummeliger Zyniker das Potential von TikTok-Pop erkannt, aber einmal durch den Warp-Klugscheißer-Filter gezogen.
Florian Aigner Zur ReviewDenzel Curry hingegen enttäuscht mit »Melt My Eyez See Your Future« im Vergleich zu »Zuu«, jener Miami Rap-Enzyklopädie, auf der Curry 2019 die perfekte Balance zwischen seiner oft manischen Delivery und extrem tiefer gelegten Basslines fand. 2022 klingt Denzel Curry nun, wie angekündigt, vulnerabler und introspektiver, erschöpft sich dabei aber in teilweise arg plakativen Vergleichen und Plattitüden, die durch die wesentlich zurückhaltendere Produktion besonders unangenehm auffallen.
Florian Aigner Zur ReviewDass »Cheat Codes« vollkommen aus der Zeit gefallen wirkt, könnte daran liegen, dass Danger Mouse seit mehr als 15 Jahren Rap nicht mehr als Broterwerb verfolgen muss und Black Thought fast genau so lange schon komfortabel bei Jimmy Kimmel stempeln geht. Ein Problem ist das aber nicht, vielmehr eine Ode an den Zeitgeist der Message Board-Ära, in der man als Rapper ohne Vierfachreime und Produzent mit Samples ohne Staubschicht schlicht nicht ernst genommen wurde. Das war damals Quatsch, ist es heute ohnehin, aber irgendwie auch ganz nett auf diese Weise an die eigene Zeit als Cringe-Lord erinnert zu werden.
Florian AignerAls nächstes als Kontrastprogramm »Minor Major Grand Schemes«. DJ Swagger nähert sich hier modernen Rap-Konventionen in erster Linie als Fan, die Expertise und Basis dieses Albums ist elektronische Musik in all ihren gebrochenen Varianten. Vollkommen selbstverständlich reihen sich hier autogetunete Balladen an Footwork- und D&B-Bollereien, Bmore- und Juke-Abfahrten und wundervoll verpitchte Hinge Finger 2010'ismen. Nicht unbedingt neu, aber bewundernswert frei im Kopf.
Florian Aigner Zur ReviewKuedos beinahe gotische Interpretation von Footwork, Dubstep und Rap hat zu zwei immer noch ziemlich unglaublichen Alben geführt, seither betätigte sich der Brite konsequenterweise vor allem als Filmproduzent. »Infinite Window« ist nun unerwartet grell, beinahe Winding-Refn’esk in seiner synthetischen Plakativität. »Infinite Window« macht so auch Schluss mit den ewigen vintage Vangelis-Verweisen (LG, Deutsch-LK) und betont mehr die immer noch aus »Blade Runner« zu ziehenden Schlüsse.
Sebastian Hinz Zur ReviewWieder Köln, wieder maximale Befangenheit. Fizzy Veins ist wahlweise ehemaliger Arbeitskollege oder ehemaliger Mitbewohner sehr guter Freunde, ein Teil von Montel Palmer und einfach ein Typ, gegen den niemand was haben kann. Mit »Dances With The Cosmic Twin« hat er nun ein Soloalbum gemacht, das die in der Kölner Micro-Bubble gehegte Verehrung für James Pants nicht versteckt, aber auch nicht daran scheitern möchte. Stattdessen wirklich die eine oder andere überraschend nudisco-y Fläche in diesen expertenhaft angedubbten, ja doch, SONGS. Persönliches Highlight: »Moonlight Tascam«.
Florian AignerTooliger ist der Umgang mit Dub auf »Acid Dub Studies II«, eine wieder auf beeindruckendem Produktionsniveau tänzelnde Zusammenstellung aller klassischeren Dub-Interpretationen von Om Unit, der es sich offensichtlich nach einer vollen Durchdeklination aller Ü-150BPM-Genres, nun zum Ziel gemacht hat Tapes als konstantesten Echo-Sachbearbeiter abzulösen. Wunderbar, fehlerfrei, gerne noch Teil drei.
Florian AignerAuch ultra konstant und produktiver denn je unter seinem The Idealist-Moniker: Joachim Nordwall. »A Lion Is A Lion And Not A Lamb« ist die nächste ziemlich sensationell stoische Platte unter Nordwalls aktuellem Lieblingsalias, dieses Mal für Meakusma und atmosphärisch wieder genau so dicht wie die von Beatpoetry und Esoterik durchzogene letztjährige LP auf Höga Nord.
Florian AignerWährend Joachim Nordwall sich zum wiederholten Male glaubwürdig neu erfindet, stampft Mall Grab auch auf Albumlänge wie ein unausgeschlafener Zweijähriger in jede Matschepfütze und wundert sich hinterher, dass alles aussieht wie Sau. Drittklassige Analogien mal bei Seite lassend: »What I Breathe« ist eine ziemliche Frechheit, weil der Australier hier seine bisher unter bürgerlichem Namen veröffentlichten Pop-Song-Versuche neben opportunistischen Mainstage-Bollereien krepieren lässt und dazwischen die eigene Reputation mit klassisch geschmäcklerischen Jungle-Breaks im Schnellverfahren wieder kitten will. Ein einziger Cop-Out, dieses Album.
Florian AignerInteressanter dann schon Oliver Sims Versuch die eigene Rolle im The xx-Kontext gar nicht erst krampfig zu hinterfragen, sondern einfach auch weiterhin bandinternen Support für »Hideous Bastard« anzunehmen. Die vorausgegangenen Artikel, in denen Oliver Sim über seine Traumata spricht, sind sicher pietätsvoller als ein Zweizeiler an dieser Stelle, aber zumindest sei mir noch erlaubt anzumerken, dass das musikalisch stellenweise schon auch arg dröge ist.
Sebastian Hinz Florian AignerDer Vergleich liegt nahe, weil beide auf dem letzten Tirzah-Album kollaboriert haben, aber macht irgendjemand gerade konstant besseren Pop als die beiden? »Conduit« heißt das erste Coby Sey-Album, es ist durchgehend fantastisch und niemand hat so sehr gerafft, welche Möglichkeiten der klassische Bristol-Sound Menschen mit Ideen auch heute noch bietet, wenn das Ziel nicht eklatant Trip Hop-Nostalgie ist.
Florian AignerVom Scope her natürlich bescheidener als Coby Sey's »Conduit« und in seiner Inspiration mindestens noch 15 Jahre weiter zurück geht Yuta Matsumura auf »Red Ribbon«, eine dieser Platten, die nur auf Low Company erscheinen kann, obwohl es mittlerweile locker zwanzig ernstzunehmende andere Anlaufstellen für diesen ungeduschten Outsiderpop gibt. Der Champions League-Scheiß kommt immer noch über Low Company und ihr könnt euch locker zwölf Tapes pro Monat schenken.
Florian AignerDass Jjulius jetzt über DFA stattfindet ist irgendwie kurios, aber auch süß, dass dort offenbar zwei engagierte Praktis James Murphys Auftrag, nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden, Ernst genommen haben und natürlich in Göteborg fündig geworden sind. »Vol.2« ist irgendwie die gewollt uncoolste Jjulius-Platte seit langem, die säuselige Verhuschtheit frühere Alben ist stellenweise kokettem Indiemuckertum gewichen und damit auf dreitausend Ebenen gleichzeitig meta af.
Sebastian HinzVladislav Delay macht, stilistisch natürlich kaum vergleichbar, ebenfalls sein dreistestes Album für Planet Mu. »Isoviha« klingt in Ansätzen wie classic Vlad, clippt und häckselt aber jeden Anflug von wohliger Dubbiness in ein hochgradig stressiges Notizbuch, in dem Musik keinerlei ordnende Funktion mehr beigemessen wird. Music to Pay Nachzahlung To.
Sebastian Hinz»Living Torch« ist großartig. Aber darüber zu schreiben, warum das so ist, fühlt sich sofort an, als würde man sich auf parfumo.de an Kopfnoten-Analysen beteiligen. Die Platte besteht bei gründlicher Recherche aus zahllosen Komponenten, aber Kali Malones Ambient ist deswegen so gut, weil er mit Ambient nichts zu tun hat und einfach anders schwitzt und atmet.
Florian AignerCool ist Kali Malone auch deswegen, weil sie für Pressetexte nicht extra betonen muss wie unkonventionell ihr Zugang eigentlich ist. Etwas was man Jake Muir und Evan Caminiti im arg naserümpfenden Vorlauf zu »Talisman« doch etwas übel nehmen kann. Dabei ist »Talisman« eine völlig normale, total gute Ambient-Platte, die halt ihre Einflüsse auch aus Doom und Jazz speist, aber das radikale Statement, das sich von jeder dudeligen Gefälligkeit löst, ist das freilich auch nicht. Spitzen Opener und Closer allerdings, das sollte schon festgehalten werden.
Florian AignerJon Collins Zusammenarbeit mit Demdike Stare war 2020 eine der meistgehörten Platten des Jahres für mich, gerade auch weil dort Field Recordings, Gitarrengezupfe und verrauschter Äther so organisch in diese beklommene Prä-Vakzin-Stimmung stolperten und die Struktur der beiden LP-Seiten keinerlei Halt gab. Auch dieses Jahr ist Jon Collin mit seinen vollkommen unesoterischen Vignetten ein großer persönlicher Gewinn und »Bridge Variations« low key der Soundtrack meines Über-Ichs im Spätsommer geworden.
Florian AignerDer Soundtrack für das Ich kommt dann noch von Emeka Ogboh, der nach seinem über A-Ton veröffentlichten, Shackleton auf 33 / -8 zumindest andenkenden Erstling nun einen noch mehr von der Hektik in Laos geprägten Nachfolger »6°30’33.372”N 3°22’0.66”E« vorstellt, auf dem sich Straßenlärm über gedämpfte Beats legt, die von Downtempo bis Dub Techno reichen und alles in einer dissonanten Wuseligkeit auflösen, die es einen ertragen lässt, dass man eigentlich die ganzen Sommermonate die Fenster im Wohnzimmer nicht öffnen kann, ohne vierhundert Töne gleichzeitig verarbeiten zu müssen.
Florian Aigner