Unter Berücksichtigung von Dean Blunts anhaltendem Fokus auf low key Gitarren-Songwriting ist Fever Ray vielleicht die wichtigste verbliebene Säule der 10er, die nicht nur jeden elektronischen Mikrotrend aufsaugt, sondern pointiert in Avant-Pop-Kontexte übersetzt. »Radical Romantics« ist nicht mehr so explizit horny wie der Vorgänger, aber schwitzt sich nach sehr Knife-igem Auftakt durch jede menschliche Emotion, inklusive einer Parent-Revenge-Fantasie, die es in ihrer Deutlichkeit wirklich in sich hat. Visionär, wie immer.
Florian Aigner Zur ReviewYves Tumor sollten vor einer halben Dekade eigentlich die Rolle des aufgekratzeren kleinen Bruders spielen, aus Dean Blunts Schatten emanzipierten sie sich aber spätestens mit der ersten Platte für Warp. Mit Nachdruck. Auch »Praise A Lord Who Chews But Which Does Not Consume« ist vollkommen ungeniert in seiner Umarmung unsexier Alt-Rock-Tropen, interpretiert werden, diese aber mit einem fast schon an Prince erinnernden Selbstbewusstsein, einem Rockstarverständnis, das Stadien fühlen will. Meiner eigenen Blockade für all things Operette geschuldet, gehen Yves Tumor diesen Weg zwar seit 2017 ohne mich. Aber: maximale Anerkennung für eine singuläre musikalische Identität.
Florian AignerÜber AD93 erschien wieder eine dieser bescheidenen Skizzen-Sammlungen von Joanne Robertson. »Blue Car« ist wenig mehr als Stimme und Gitarre und entwaffnend transparent. Wer zwischen Grouper, Maxine Funke und Jonnine noch Platz im Regal hat, weiß was zu tun ist.
Florian AignerOb Dean Blunt Teil von Honour ist oder nicht, ist immer noch nicht final geklärt, es wäre aber der finale Ritterschlag. Nach dem hier ebenfalls schon hysterisch besprochenen ersten Teil, ist mittlerweile auch der zweite Teil von »Hbk« auf Vinyl erschienen, eine Ambient-Trap-Sonate mit halluzinatorischen Vocal-Beiträgen, aufgekratzten Triplets und Just Blaze-Bläsern. Album des Jahres, möglicherweise.
Florian AignerRapmäßig ist auf physischen Tonträgern wieder wenig passiert, was mich tangiert hätte, aber »Yallah Beibe« böllert nicht nur auf Grund der manischen Produktionsarbeit von Debmaster, Scotch Rolex und ChrisMan, sondern lebt gleichermaßen von der atemlos-durchexerzierten Flow-Konjugation von MC Yallah selbst. Als hätten »Boy In Da Corner« und »Fantastic Damage« sich damals ein Hotelzimmer genommen.
Florian Aigner Zur ReviewScotch Rolex arbeitet auf »Death By Tickling« außerdem auf Albumlänge mit Shackleton zusammen, die Grime- und Trap-Einflüsse sind hier eher in Form konziser Edit-Arbeit zu spüren. Scotch Rolex wirkt hier zumindest von außen betrachtet wie ein Executive Producer für Shackletons typischerweise ausufernde Produktionen und so sehr ich diese liebe: Shacki im 5-Minuten-Format gab es die letzten zehn Jahre einfach zu selten.
Florian AignerAl Wooton und Valentina Magaletti arbeiten als Holy Tongue im Akkordtempo weiter und schieben nach drei fantastischen EPs direkt noch ein inspiriertes Album hinter. »Deliverance And Spiritual Warfare« klingt nicht nur im Titel wie ein kämpferischer Stepper, Dub zieht sich in allen Formen der letzten fünf Jahrzehnte als roter Faden durch ein trotzdem sehr kontemporär klingendes Album. Bemerkenswert ist hier vor allem auch wie stringent das alles ist, ESG-Fun steht gleichberechtigt neben Basic Channel-Seriosität und traditioneller Echo Chamber-Madness.
Florian AignerFroid Dub nähern sich - ääääääh - Dub mit Tunnelblick und MPC-Ästhetik. »Deep Blue Bass« verlegt Trunkrattling von Miami nach London. Das klingt dann wie ein 4k-Remaster einer dieser halb vergessenen Blakamix-Platten aus den Mitneunzigern, auch weil sich hier in die klassische Kingston-Verbundenheit auch Synthpop-Melodien mischen.
Florian AignerAuch Shelters »Eight Colliding Dancers« schuldet Lee Perrys Mixing Desk einiges, entscheidet sich im Pressetext aber für Hassell, Craig Leon, Singh und Chaurasia als Referenz. Fair, aber angesichts der viertweltlichen Marktsättigung der letzten Jahre vielleicht auch eine reduktive Liste für ein ziemlich selbstsicheres Album.
Florian AignerAlben auf Youth höre ich nach wie vor doppelt so konzentriert, weil Lyster einfach weiß, was er tut. Dijits »The Room« ist eines der weniger immediaten (wie übersetzt man das eigentlich?) Alben des Labels, eine begleitende Archivsammlung zu Dijits strenger sequenziertem 2020er Album »Hyperattention«. Während beim ersten Durchgang vor allem der ultimative Mo’Wax-Schluffi Hasheesh - again: ääääh - hängenbleibt, rutscht »The Room« nach und nach tiefer in die Sofaritze, nur um mit Saga feixend den Hangout mit Rave-Aktionismus zu beenden.
Florian AignerJonquera bedient sich derweil auf seinem dritten, wieder sehr trippigen Soloalbum weniger bei den 90ern als Dijit. »La Croix Des Crocs« verfolgt den Spannungsbogen ambitionierter Spätsiebziger-Soundtracks, barock und humid, staubig und dehydriert, irgendwie gleichzeitig »Sorcerer« und »The Proposition«. Dazwischen stolpernde Halftime-Beats und Genuschel. Vibes, plenty.
Florian Aigner»Castillo« hingegen ist keine streng narrative Platte, DJ Trystero reiht hier für Incienso zwanglos pumpenden House, dunklen Bassdrum-Techno, 808-Befindlichkeiten und beatlose Floater aneinander. Gemeinsamer Nenner: eine Sorgfalt, die man japanisch nennen könnte, wäre das nicht ein arg überstrapaziertes Klischee.
Florian AignerSocketheads Album für Youth bleibt auch zweieinhalb Jahre später unfassbar. Das nun erschienene »Yas« hingegen ist komplett haptisch. Ein hyperreduziertes Techno-Album, unprätentiös, mit klaren Anknüpfungspunkten an die funktionaleren Momente von Actress, beeindruckend produziert und sicher eine größere Sache, wäre da nicht der Schatten dieses Über-Debüts.
Florian Aigner»Heart Stopper« funktioniert auf zwei Referenzebenen. Zunächst natürlich als Verneigung vor der House und Techno-Geschichte der Twin Cities, die immer Mission Statement für L.I.E.S. geblieben ist, selbst bei den wüstesten Veröffentlichungen. Vor allem aber ist Heart Stopper als zweihundertste Katalognummer in seinem kategorischen Bekenntnis zum Sound der ersten zwanzig auch ein augenzwinkerndes Geschenk, das sich Ron Morelli hier selbst macht. Und spätestens, wenn er sich mit »Time Stands Still« auch noch einen Piano-House-Stomper gönnt, merkt man, dass hier jemand immer noch Spaß an seinem Job hat.
Florian Aigner Zur ReviewÜberhaupt House: vergesse ich immer wieder 4-5 Jahre lang (oder, best case, von Omar-S zu Omar-S-V.Ö.), was das einfach für ein Riesenspaß ist. Der Reminder kommt dieses Jahr von Finn aus Manchester, der mit »Everything Is Alright« ein perfekt unprätentiös euphorisches Peakset anbietet, UK-Breaks, Diva-Vocals und New Jersey Gospel inklusive. Big, big Fun.
Florian AignerIlian Tape lassen, nach einigen gut durchgeräucherten und entschleunigten Releases, Andrea auf »Due In Color« tempomäßig komplett freie Hand, D&B und Breaks bleiben die Klammer für ein Album, das in seiner Zeitlosigkeit der Labelphilosophie nicht besser entsprechen könnte.
Florian AignerNeues von Tia Maria Produções treibt meinen Puls immer schon ungehört in den dreistelligen Bereich, »Ansiedade« ist mit seinem - wie immer auf Príncipe - unvergleichbaren Drumprogramming und diesen melancholischen Synths dann direkt wieder ein kammerflimmerndes Album, das trotz seiner nervösen Energie eine fast jazzige Emotionalität als Leitmotiv wählt.
Florian AignerMan kann Alva Notos Soundtrack zum Theaterstück »Komplizen« nicht besprechen, ohne Ryuichi Sakamotos Tod zu streifen. Sakamoto arbeitete an diesen Ambient-Miniaturen zwar nicht mit, es ist aber schwer, Notos elegante Arrangements und sein Sinn für das Pathos im Minimalismus hier nicht gleichzeitig auch als Requiem für seinen langjährigen Kollaborateur fehlzudeuten. Wer es trotzdem ohne Gänsehaut oder Träne(n) durch »Kinder der Sonne« schafft: einmal in der Kardiologie anrufen, bitte.
Florian Aigner