GuMo, fellow alternde Menschen: Da denkt man Tage lang an nichts anderes als den Kendrick Drop, nimmt sich ernsthaft Zeit - also wirklich bewusst ZEIT - um »Mr Morale & The Big Steppers« zu hören wie den Roman, der jedes Kendrick Lamar-Album ist, liest sich eine Woche lang durch 30.000 Takes und Interpretationen, um dann bei der Zusammenstellung dieser Kolumne nachträglich noch diesen Absatz hinzuscheißen, weil man vergessen hat, dass es ein neues Kendrick Lamar-Album gab. Wäre ich zwanzig Jahre jünger, könnte ich jetzt schon 80% dieser absoluten Monstrosität von einem Album mitrappen und hätte mich wahrscheinlich schon neun Mal dabei selbst zensiert bei dem Versuch beide Parts auf »We Cry Together« zu übernehmen. Immerhin bringt das die Erkenntnis, dass einfach jede Lebensphase würdelos ist.
Florian AignerNachdem Boldy James mit Sterling Toles schon »Electric Circus« für Nicht-Häkelmützen gemacht hat, ist seine Zusammenarbeit mit »Real Bad Man« ein wesentlich klassischeres Rap-Album, spirituell irgendwo zwischen drei Generationen New Yorker Straßentales anzusiedeln, ohne sich aber von Griselda'schem Hardlinertum vereinnahmen zu lassen. Hierbei sind seine Raps weder so bedeutungsschwanger die von Ka, noch so satirisch überpointiert wie die von Roc Marciano, aber dennoch ist das die Gewichtsklasse, in der Boldy James sich nachhaltig etabliert hat.
Florian AignerNicht nur für mich mag Billy Woods das Zugpferd bei Armand Hammer sein, aber wie essentiell die Dynamik zwischen Billy Woods und ELUCID insbesondere auf dem letztjährigen Geniestreich Haram war, zeigt sich nun auch nochmal auf Elucids Soloalbum »I Told Bessie«. Wissend um die Alchemie, die Raekwon und Ghostface von 1995 - 1997 verband, versucht Elucid gar nicht erst, sich von seinem Partner zu emanzipieren, sondern benutzt Woods als perfekt dosierten Sidekick, der Elucids manchmal arg vereinnahmenden, hyperlyrischen Stil mit keifender Bluntness erdet.
Florian AignerMoor Mother führt im Quartalsturnus derweil weiterhin Past, Present und Future schwarzer Musiktradition aus der Metaperspektive zusammen, denkt dabei unbequemer und freier als alle anderen und redet dann, so wurde mir berichtet, trotzdem mit einer geerdeten Selbstverständllichkeit über das Jaylen Brunson-Signing als wäre sie like actually auch auf diesem Planeten beheimatet. »Jazz Codes« ist ein Album, auf dem mehr Ideen zusammenkommen als in manchen Free Jazz-Diskografien und genau deswegen werden viel zu viele Menschen wieder viel zu schnell vor diesem Album kapitulieren.
Florian Aigner Zur ReviewMOBBS’ »Untitled« umweht die Aura der einstelligen Katalognummer, noch ist jede Veröffentlichung auf Chrome ein Ereignis. MOBBS schreddert hier auf sehr englische Art und Weise Trill, Trap und Avantgarde zu einem gescrewten Klumpen, der de facto ein Beattape ist, sich aber nie so anfühlt. Ganz so next level wie aus der Manc-Blase kolportiert, ist das ehrlicherweise dann doch nicht, aber eine solide Siebeneinhalb.
Florian AignerApropops Manc-Blase: der nächste Doppel LP-Pack von Michael J. Blood ist wieder richtig gut, so spröde elegant klingt House außerhalb von FXHE sonst einfach nicht, aber auch hier muss man fairerweise sagen: das neue Omar-S-Album, mal wieder gönnerhaft auf vier LPs verteilt, bleibt - »Can’t Change« - trotzdem eine Klasse für sich - wenn man denn gewillt ist, den Misogynie-Tab, der sich auf Track 2 einmal mehr öffnet, hektisch wieder zu schließen.
Florian AignerLevon Vincent war vor zehn Jahren ein recht erfolgreicher Diet-Omar-S, über die letzten Jahre hat sich Vincent dann aber tiefer in Soundscaping vergraben und liefert mit »Silent Cities« nun sein trotz diverser Tempi und Klangfarben erstaunlich kohärentes Lockdown-Tagebuch nach. Vielleicht die erste Levon Vincent-Platte seit Six Figures, die man wirklich braucht.
Florian AignerJosh Thompson hat unterdessen als FFT immer noch keine Scheißplatte gemacht. Das Albumdebüt für Numbers erdet die wildesten Momente der vorausgegangenen Singles in einem erstaunlich greifbaren IDM-Design, teilweise richtig klassizistisch Warpy in der Synth-Programmierung, dann wieder eher mit PAN’scher Blondierung, aber nie in dieser cartoonhaften Dekonstruktion, die, jetzt kann man das retrospektiv mal postulieren, schon auch eine Menge Vibes gekillt hat im vorangegangenen Jahrzehnt.
Florian AignerVom 2022er IDM-Update zur Zukunft von Jungle. Exael häckselt sich für das neu gegründete Parent Label von Experiences LTD. durch hektische Breaks und lässt diese immer wieder in unwirkliche Ambientschluchten crashen. Als hätte Sophia Loizou eine Platte für The News Cycle gemacht. Apropos 3XL, Motion Ward und West Mineral: die neue Pontiac Streator ist ebenfalls eine Sensation, aber schon wieder komplett vergriffen.
Florian AignerKollege Hinz schreibt zu »Järnätter«, der neuen Civilistjävel!-Platte: »Jeder der sich mit dicken Fausthandschuhen versucht hat, die Schnürsenkel zuzubinden, sollte die Finesse hinter dieser Ansammlung von Tracks ahnen.« Eine Finesse, die es auf den teilweise recht groben durchnummerierten EPs für Low Compamy, auch schon gab, die hier aber in einem wirklich durchkonjugierten Album mündet, das die skandinavischen Dub-Techno-Granden alle flüssig zitieren kann, aber gleichzeitig angenehm eigensinnig bleibt.
Florian Aigner Zur ReviewFelicia Atkinson-Platten sind an diesem Punkt ihr eigenes Genre, nach einem recht impressionistischen Album für Boomkat und ihrer fast schüchternen Zusammenarbeit mit Jefre Cantu-Ledesma, folgt nun dieses Jahr wieder ein opulenteres Statement: »Image Language« mollt sich durch Felicia Atkinsons realen Umziehprozess und der Pressetext legt uns die Bohren-Gang als Referenz ans Herz, angesichts der überwältigenden Eleganz des sehr präsenten Pianos durchaus ein hilfreicher Hinweis. Dazwischen viel Geflüster, viel Poesie und diese melancholische Schwere, die sich bei jeder guten Atkinson-Platte unweigerlich über einen legt.
Florian AignerWenn Nick Cave noch zwölf Spoken Word-Platten anschließt, wird er auch eine auf dem Niveau von Félicia Atkinsons »Image Language« machen. Bis es soweit ist, bleibt »Seven Palms« aber doch eine Randnotiz in Caves Diskografie. Dafür fehlt es diesen pastoral vorgetragenen Gedichten an Arrangement und Konzept, erst der instrumentale Megamix am Ende der Platte lässt erahnen, was hier mit etwas mehr kompositorischer Ambition möglich gewesen wäre. Und ich fange ja normalerweise schon direkt zu heulen an, wenn Nick Cave nur Father und Loss sagt…
Florian AignerDie Vorherige von Berrocal, Fenech, Epplay hat Stand heute gute Chancen von mir als die definitive Platte der frühen Zwanziger verklärt zu werden, wenn ich säuselig im Schaukelstuhl einem Enkel erklären möchte wie das damals war mit Lockdown und Kalle Lauterbach, aber auch »Transcodex« ist wieder eine Sensation, belegte Alan Vega Ramblings treffen auf mein Lieblingsinstrument der Welt, die Berrocal-Tröte, dazu elektronischer Minimalismus, der aber selbst gerade auf die 2 und 4 programmiert stets zu torkeln scheint, Beatpoetry vollkommen ent-trittinisiert und ohne Rezeptionsgeilheit: man kann das einfach nicht besser machen als die Drei.
Florian Aigner Zur ReviewAuch wieder eine gute Platte auf Knekelhuis, dieses Mal von Geier Aus Stahl, der sich nach einigen wenigen Comp-Beiträgen richtig Zeit gelassen hat, die vogelwildeste Ära des Ratinger Hofs ins Hier und Jetzt zu übersetzen. Vielleicht die bisher am offensten mit den Einflüssen spielende Veröffentlichung, die Leonard Prochazka, nachtragenden Rollen bei Taurus und Jean-Luc, bisher freigegeben hat, die es aber wirklich versteht, nicht in Mimikry zu verenden.
Florian AignerAndy Butlers neues Album war für kurze Zeit keine neue Hercules & Love Affair-Platte, zu zerrissen und belastet sei dafür der Inhalt von »In Amber« gewesen. Butler schlägt sich hier auf entwaffnende Art und Weise mit der Tortur des amerikanischen Christentums herum und wird von dessen bedrückendem Einfluss häufiger übermannt als ein Scorsese Protagonist. Dazwischen immer wieder Anohnis unerreichte Vocalpräsenz und irgendwie ist das dann doch eine Hercules & Love Affair-Platte für eine Ära, in der leichtfüßiger Disco-Eskapismus zwei Jahre lang ohnehin global nicht möglich war.
Florian Aigner»Delusive Tongue Shifts« hatte ich vor einem Jahr an dieser Stelle noch geringschätzig als bisher egalste Platte auf Sferic abgekanzelt, »Hypertranslucent« hittet jetzt aber schon diesen hypothetischen Spot, in dem Yasuake Shimizu mit Vladislav Delay eine Ambient-Platte gemacht hat. Pretty good.
Florian AignerSchnurstracks auf die frühe Midlifecrisis zusteuernd, habe ich offenbar mein Herz für gniedelige Gitarren doch noch geöffnet. Julia Reidys World In World ist eine vollkommen auf ihr Gitarrenspiel zugeschnittene Meditation in Sepiatönen, verhuschte Vocals und Delay inklusive. Um nochmal Nick Cave aufzugreifen: »World In World« drängt sich als alternativer Soundtrack für »The Proposition« auf.
Florian AignerWilliam Basinskis zerfallenden Loops ästhetisch nicht unähnlich, aber technisch ganz anders arrangiert, wirft uns Keith Fullerton Whitman in seiner nicht zu überblickenden Diskografie zum Schluss noch einen Monolith in Kleinstauflage vor die Füße. Der Bauch ist Dub, das Hirn Jazz, das Herz gebrochen, die Beine endlos schwer und »GRM (Redactions)« für immer der Teasertext für diese Kolumne.
Florian Aigner