Aigners Inventur – Juli 2017

07.08.2017
Die Inventur im Juli, es geht um’s: Älterwerden. Unser Kolumnist aka angryoldmanyellingatclouds.jpg beobachtet den Reifeprozess von Jigga, Tyler, Floating Points, und duckt sich zwischendurch unter Instagram-Stories weg.
Jay-Z
4:44
Roc-Nation • 2017 • ab 20.99€
Jay-Z ist nie der Rapper geworden, dessen Großartigkeit kontextabhängig war. Auf Biggies vakantem Thron hatte sich S. Dot Carter deswegen so nonchalant breitgemacht, weil sein Anspruch ein universeller war und Rap eine Best-Of-7-Serie, die es zu gewinnen galt. »4:44« ist deswegen so seltsam, weil die Rezeption des Albums vollkommen kontextabhängig ist. Möchte man es als Psychogramm eines fehltrittigen Ehemannes lesen, der nebenbei auch noch seine exponierte Stellung nutzt, um die Homosexualität der eigenen Mutter zu thematisieren, ist »4:44« ein Persona-Overhaul, den man dem kühlen Teflon-Turbokapitalisten Jay-Z nicht zugetraut hätte. Betrachtet man »4:44« als Versuch die eigene Relevanz im Spiel wiederherzustellen, ist »4:44« ein recht biederes Spätwerk, das in diesem schnelllebigen Zirkus in vier Wochen vergessen sein könnte.

Vince Staples
Big Fish Theory Picture Disc Edition
Def Jam • 2017 • ab 38.99€
Unter anderem auch weil es Rapper gibt wie Vince Staples. Der verhebt sich zwar musikalisch auf »The Big Fish Theory« – insbesondere in der zweiten Hälfte – immer wieder gewaltig beim Versuch Rap und (ernstzunehmenden) House in Einklang zu bringen, ist aber eine derart brillante und zynische Persönlichkeit, dass einfach nicht mehr viel Platz für Jay-Zs altersmilde Punchlines und mentales Rasenmähertum bleibt.

2 Chainz
Pretty Girls Like Trap Music
Def Jam • 2017 • ab 34.99€
Bisheriger Erkenntnisgewinn: Rap ist ein Spiel für junge Männer. Es sei denn, dein Name ist Tittenjunge Doppelkette und du streichst dein Trap House auch mit Anfang vierzig noch purpurn. 2 Chainz trotzt dem Jugendwahn mit seinem bisher besten und amüsantesten Album. Und auch wenn man bei dem Titel »Pretty Girls Like Trap Music« an das schlimmste denken mag: wer so souverän durch moderne Banger der ersten Garde marschiert wie Whoopie Goldbergs verlorener Sohn, beweist, dass man sich nicht immer neu erfinden muss, um relevant zu bleiben.

Ja, Tyler The Creator hatten wir nach seiner nervigen N.E.R.D.-Toolbox »Cherrybomb« zurecht vergessen, aber »Flower Boy« ist tatsächlich das Album geworden, auf das Tyler wahrscheinlich schon fast ein Jahrzehnt hinarbeitet, aber jetzt erst musikalisch umsetzen konnte. Clever gebrochene Sexualitätsdoppeldeutigkeiten, eine mittlerweile genuin eigene Beatästhetik, konzises Sequencing: ach, sie werden so schnell erwachsen.

Schwiergier dagegen »Raskit«, Dizzee Rascals im Vorfeld als ach so grimey und ach so return to the corner angekündigt, aber im Endeffekt wie eigentlich alles seit dem unantastbaren Debüt zu sehr geprägt von Dizzees Unschlüssigkeit Coachella-Headliner werden zu wollen oder auf Afterhours im Lewishamer McDonalds vergöttert zu werden. Hmmmpf. Schade. Aber schwindlig rappen kann er immer noch jederzeit alles und alle.

DJ Khaled
Grateful
Epic • 2017 • ab 20.99€
Deeeeeeejay Kh…elicopter Dad hat mal wieder ein Album gemacht oder machen lassen. Wenn kümmerts auch, Khaled ist und bleibt der Bob Geldof für die Hood, hier treffen sich Nas und Travi$ Scott, Jada und Pusha, Jeremih und Calvin Harris (lel) und es werden kräftig die Hits der letzten sechs Monate emuliert. Das macht »Grateful« mal wieder zu einer kalauerigen Runde Inspirationsraten, manchmal mit grausigen Ergebnissen, aber wie immer auch mit einer handvoll feister Hits.

21 Savages »Savage Mode« war anerkanntermaßen das »Hell On Earth« der Mumble Rap Ära, »Issa Album« wird im besten Falle »Murda Muzik«, im schlechtesten »Infamy«. Will heißen: was das Mixtape noch so stark gemacht hatte, der von Metro Boomin inszenierte misanthropische Stroll durch sehr reale Abgründe, ist zu einer reizüberfluteten Ehrenrunde geworden. In seinen bösesten Momenten bleibt Savage unantastbar, als BBQ-Playlistensupplier ist die Konkurrenz jedoch übermächtig.

187 Strassenbande
Sampler 4
AUF!KEINEN!FALL! • 2017 • ab 26.99€
Ich lege mich fest: der Refrain von »Millionär« ist der AUF! JEDEN! FALL! erhabenste Festival-Powermove des Jahres. Die 187 Straßenbande stellt ihren neuen Sampler vor, alles normal, alles geil, keiner hat so viel authentischen Spaß mit der eigenen Stumpfheit wie die Hamburger Hasis, aber verdammt: dieser Refrain ist größer als alle hiesigen Rap-Karrieren zusammen.

Shabazz Palaces
Quazarz Vs The Jealous Machines
Sub Pop • 2017 • ab 16.79€
Unterdessen: nach vier vergeblichen Versuchen etwas ähnlich prägnantes zum neuen Doppelstreich von Shabazz Palaces zu schreiben, gebe ich auf und verweise auf Kollege Kunzes unantasbare Arschflöten-Analogie im Ausklang.
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Floating Points
Reflections
Pluto • 2017 • ab 26.99€
War mental auch schon hier: Floatie, oh mein Floatie, es tut mir so weh, dich rapide altern zu sehen, wie du im Schaukelstuhl Pfeife rauchst und über Drumcomputer lästerst. Ja ok, stimmt eigentlich nicht: Die neue Floating Points ist bombastischer Wüsten-Prog, immer nur einen halben Schritt von Schaukelstuhl-Jazz und Bizeps-Kraut entfernt und eigentlich ok. Ich kann mir aber nicht helfen, wer so unfickmitbar darin war eleganteste elektronische Grooves zu produzieren wie der Sam, könnte, sollte, müsste…ach keine Ahnung, vielleicht ist das auch einfach künstlerische Emanzipation und ich das angryoldmanyellingatclouds.jpg

Martin Rev
Demolition 9
Atlas Realisations • 2017 • ab 23.99€
Wenn ich groß bin, werde ich Martin Rev. Vor fast 40 Jahren mit Suicide die Welt verändert und heute immer noch besessen davon elektronische Musik zu machen, wie es sonst keiner tut. »Demolition 9« klingt immer noch singulär, wird aber selbstverständlich nur eine Fußnote in der Vita einer der größten Innovatoren überhaupt bleiben.

Drew McDowall
Unnatural Channel
Dais • 2017 • ab 24.99€
Von Suicide zu Coil: Drew McDowall hat diesen bösen Industrial-Scheiß einfach im Blut. »Unnatural Channel« ist 6x der Soundtrack für Kriegsverbrecherdokus und einmal, in Form von »Part 2« state of the artigster untertouriger Hades-Techno, mit dem dich Vladmir Ivkovic diabolisch grinsend aus dem Club in eine kalte Welt entlassen könnte.

Pact Infernal
Infernality Marbled Vinyl Edition
Horo • 2017 • ab 21.99€
Oder aber er legt noch mit »Infernality« nach, einem ritualistischen Tribal-Techno Doppelpack auf dem Pact Infernal all die richtigen Schlüsse aus Shackletons Katalog auf 33 1/3 gezogen haben und dem Sommer vor die Füße kotzen.

400PPM
Fit For Purpose
Avian • 2017 • ab 20.99€
400PPM zementiert derweil Avians Ruf als Blindkauflabel mit rüdem Alles-Geht-Techno, irgendwo zwischen dem späten Regis und dem frühen Luke Slater. Zweitgrößte Labelattraktion nach den Morsezeichen-Schweden.

Broken English Club
The English Beach
L.I.E.S. • 2017 • ab 24.99€
Zur Review
Oliver Hos Broken English Club ist vor allem deswegen so geil, weil dort endlich geklärt wird, was passiert wäre, wenn H.P. Baxxter mehr Cabaret Voltaire und Skinny Puppy gehört hätte. »The English Beach« brüllt seinen EBM-Klassizismus so unsubtil in die Welt hinaus, dass man sich nur freuen kann und die klassischeren Techno- und Acid-Stücke werden so gekonnt von seltsamen Interludes durchwandert, dass das auch als Album am Stück eine Menge Sinn ergibt. L.I.E.S. back, Ho!

Patricia
Several Shades Of The Same Color Part 1
Spectral Sound • 2017 • ab 16.99€
Schade hingegen, dass sich Patricia mit dem programmatisch betitelten Dreischlag »Several Shades Of The Same Color« etwas verhoben hat. Schattierungen in allen Ehren, aber ein arg monochromes Triple-Album hätte auch ein sehr gutes Album oder ein gutes Doppel-Album werden können.

Lutto Lento
Dark Secret World
Where To Now? • 2017 • ab 15.99€
Oder direkt den Cheatcode ziehen und das im Techno- und House-Kontext immer noch etwas zu selten wertgeschätzte EP-Format wählen. Lutto Lento bringt seinen ADHS-House auf »Dark Secret World« erstmals in narrative Form und produziert direkt ein Minialbum, das man 2012 noch als »Outsider House« schubladisiert hätte, welches aber fünf Jahre später einfach als 8.0/10 abgespeichert werden darf.

DJ Sports
Modern Species
Firecracker • 2017 • ab 23.99€
Während Lento eher on dat Frostschutzmittel sippt, drückt dir DJ Sports einen heißen Kamillentee in die Hand um das firecrackigste Firecracker Album seit Lnrdcroy zu hören. Houuuuuhuuuuuse klingt seltenst so mühelos wie hier.

V.A.
Five Years Of Loving Notes
Antinote • 2017 • ab 21.99€
Schönes Label-Manifest für Antinote auch, wobei die können ja alles. Logisch also, dass auf der Compilation zum fünfjährigen Jubiläum von Tolouse Low Trax‘ Trademarks und Inou Shirabes New Age Techno, über Leonardo Martinellis schroffen LDN-Trip, Geenas Frotee-Boogie bis hin zur Dreampop-Zugabe auf der D-Seite so ziemlich alles richtig gemacht wird, was man auf diesem undankbarsten aller Formate richtig machen kann.

Laurel Halo
Dust
Hyperdub • 2017 • ab 17.99€
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Die letzten Töne, die ich von Laurel Halo gehört hatte, waren ein Noise-lastiges und Clap-allergisches Inferno von einem Set im Rahmen des eigentlich sehr gemäßigten Le Guess Who Festivals, so dass mich das nun erschiene Future Pop Album auf Hyperdub wunderbar auf dem falschen Fuß erwischt hat. Noch ist »Dust« in der Theorie besser als im Alltag, aber im Idealfall hört das Kanye und bumst beim nächsten Mal doch wieder das Biz.

Haim
Something To Tell You
Vertigo • 2017 • ab 28.99€
Im worst case aber hört er die neue Haim und Pop verliert sich weiter im Bermudadreieck H&M/Applestore/Starbucks. Dabei konnte man das Debüt der drei Grazien wirklich noch mögen, aber jede Sekunde »Something To Tell You« fühlt sich an wie das Warten auf eine freie Umkleidekabine, während man durch geschicktes Wegducken in der Schlange den Instagram-Stories angetalgter Teenies ausweicht.

Cigarettes After Sex
Cigarettes After Sex Black Vinyl Edition
Partisan • 2017 • ab 27.99€
Dann doch lieber Millenial-Pop mit der grenzdebilen Postgrunge-Empfindlichkeit der späten 90er. Hallo, Cigarettes After Sex! Die haben nicht nur einen Sänger mit ungegenderter Stimmfarbe, sondern auch Emo-Hits für grummelige Mitdreißiger, die Emo immer kacke fanden, sich aber heimlich ab September doch das ein oder andere Schaumbad einlassen.

Die Schallplatten von Aigners Inventur findest du bei hhv.de.