Aigners Inventur – August 2018

08.08.2018
Als wäre der Sommer nicht schon heiß genug, kommt auch noch Aigners Inventur. Unser Kolumnist wird direkt aus dem Urlaub abgeholt und im Opiumzelt in Manila abgesetzt. Ihr lest hier, was er VOR dem Fieber schrieb: fast nur Empfehlungen!
Sami Baha
Free For All
Planet Mu • 2018 • ab 19.99€
Eine WM, acht Wochen Nackenschweiß und 50 Alben später, könnte ich an dieser Stelle zuerst ein viel zu langes Drake Album, drei weitere Kanyes, vor allem aber prima Mixtapes von Denzel Curry, Future und Popcaan verhandeln. Weil all das bislang nur digital verfügbar ist, kommen wir direkt zu Sami Baha. »Free For All« ist ein tatsächlich futuristisches Rap-Album zwischen gescrewtem Weightless-Kram, Soundcloud-Beats in der Doktorandenversion und Post-Trap-Grime mit Digi-Schunkelei. Ziemlich gut, ziemlich UK, ziemlich Planet Mu

Und nochmal next level UK-Scheiß (via Israel). The Bug liefert Miss Red perfekte Steilvorlagen für ihre wütend souveräne Abrechnung mit Diplo-Dancehall, ein einziger rudegirliger Mittelfinger an die Festivalisierung des Bashments. Dass »K.O.« aber auch ein halbes Dutzend Hits abwirft, die perfekt zwischen Equiknoxx und Bokeh Tunes passen, ist dabei vor allem auch der enormen Vokalpräsenz von Miss Red geschuldet.

Serpentwithfeet
Soil
Secretly Canadian • 2018 • ab 24.99€
Wie wichtig Vocals sein können, zeigt auch »Soil«. Serpentwithfeets Debütalbum hätte das diesjährige »Serpent Music« werden können, ja müssen. Bei all der emotionalen Komplexität, die hier insbesondere in den Prä-Coming-Out-Momenten grandios inszeniert wird, bleibt aber das Stilmittel der hypertheatralischen Delivery eines, das es zumindest mir unmöglich macht, dieses Album mehr als nur theoretisch gut zu finden.

Nadine Byrne
Dreaming Remembering
Ideal • 2018 • ab 17.09€
Ähnlich wie in der letzten Inventur Cecilia, ist Nadine Byrnes »Dreaming Remembering« ein ungreifbares Statement, das schmallippige Music Concrète Drones in sedierte Spoken Word Passagen überführt, Coil und Nurse With Wound kennt, aber nicht imitiert und nichts mehr misstraut als Hooks und anderen Oberflächlichkeiten. Vielleicht, nur vielleicht, wäre aber Vertrauen die Lösung um aus zwei guten Alben wirkliche Geniestreiche zu machen.

V.A.
Arabstazy presents Under Frustration Volume 1
Shouka • 2018 • ab 22.99€
So, jetzt bitte wieder Drums, und zwar massig. Compilation 1 diesen Monat hört auf den Namen »Under Frustration«, ist die erste Zusammenstellung des tunesischen Kollektivs Arabstazy und macht Schluss mit der kartoffeligen Annahme, dass elektronische Musik aus dem Nahen Osten immer ähnlich klingt. Die Art und Weise wie hier arabische Elemente aufgegriffen, dekonstruiert und rekontextualisiert werden, entzieht sich jeder anmaßenden westlichen Orient-Fetischisierung und »böööö, wenn Bryn Jones noch leben würden, klänge er heute so« ist vielleicht ein solider Schubladisierungsversuch, greift aber auch zu kurz. Eine 100% eigenständige Compilation – dass es sowas noch gibt.

V.A.
Patina Echoes
Timedance • 2018 • ab 22.99€
Gibt es, seltsamerweise sogar zweimal in einer Kolumne. Timedance hat sich in den letzten Jahren fest etabliert als Klebstoff für UK-Bass-Mutationen und Willikens-Techno und »Patina Echoes« ist rhythmisch wieder so divers und interessant, dass sich daran so schnell nichts ändern wird, egal ob im Originaltempo oder auf -25.

Violent Quand On Aime
Violent Quand On Aime
Knekelhuis • 2018 • ab 15.99€
Nächstes Klebstofflabel: Knekelhuis veröffentlicht zwischen einer Italo-Reissue und einer Downtempo-Art-Trance Platte einfach mal Violent Quand On Aime, ein Album auf dem Memphis Rap gleichberechtigt neben Goblin, Carpenter und Snowy Red steht. Natürlich hat sich vor all dem Legowelt auch schon verbeugt, aber so konzise auf 35 Minuten reduziert, ist das schon eine kleine Sensation.

Zmatsutsi
Hooked Up
Macadam Mambo • 2018 • ab 14.99€
Ebenfalls weiterhin ridikulös gut kuratiert bleibt Macadam Mambo. Zmatsutsi eröffnen »Hooked Up« mit »Slip Slide«, das klingt als hätte Tolouse Low Trax »Clint Eastwood« geremixt und arbeiten sich dann über Faux-Italo und echten Italo zu »Keep An Eye« vor, dem ich eine 97% Chance gebe zur diesjährigen Camp Cosmic Hymne zu werden.

Maxxxbass
Gone Fishing
L.I.E.S. • 2018 • ab 19.99€
Also ganz überraschend kommt das nicht: Maxxxbass hatte gemeinsam mit Samo DJ vor knapp zwei Jahren bereits eine wenig beachtete, großartige Listening-Platte für Snaker gemacht, aber wie der Schwede nun auf »Gone Fishing« maxgeschneiderten Nosedrip-Ambient mit schüchterner 4th-World-Percussion auf rüden 95BPM-Flötenindustrial treffen lässt, ist oh so Zeitgeist, aber auch oh so meistgeil. Hässliches Cover, Killerplatte.

DJ Richard
Dies Irae Xerox
Dial • 2018 • ab 20.69€
Zur Review
Kollege und Dauerschätzelein Cornils wurde mit Dj Richards neuer Platte, nie so richtig warm, ich hätte für »Dies Irae Xerox« sogar dann 23 Euro ausgegeben, wenn das viel zu kurze »Gate Of Roses« nur 30 Sekunden lang gewesen wäre. Dazu noch Spitzen-Psy-Trance auf keinen 110 BPM, die üblichen misanthropischen Ambientsequenzen und rostiger EBM – ey ihr kennt mich doch.

Varg
Crush
Posh Isolation • 2018 • ab 29.99€
Ebenso meine Baustelle: die neue Varg, auf der der irre Norweger die wahnwitzige Traurigkeit der Digital Natives in melodiöse Spoken Word IDM umprogrammiert. Oh und »Spit Sugarfree Red Bull Into My Mouth« ist nebenbei auch noch die ekligste Aufforderung des Jahres.

Leon Vynehall
Nothing Is Still
Ninja Tune • 2018 • ab 20.99€
Während sich Varg bei diesem Autoren-Techno-Ding immer noch die Option offen hält auf deiner Finnisage in die Ecke zu kacken, ist Leon Vynehall endgültig in der obligatorischen Chinstroker-Krise angekommen. »Nothing Is Still« nimmt sich sehr ernst, so richtig mit Instrumenten, frisch deodoriert, bloß raus aus dem Club. Raus kommt passabler Dial-Ambient-House, aber wer braucht denn bitte eine Platte, auf der Lawrence den Fehler gemacht hat zu häufig mit Jon Hopkins abzuhängen?

Martyn
Voids
Ostgut Ton • 2018 • ab 19.99€
Richtig gut dafür »Voids«, Martyns erste LP für Ostgut Ton und gleichzeitig sein erstes Album, das sich wie ein Sequel zu »Great Lengths« anfühlt. Breaks, Moll-Akkorde, aber auch diese Aufgekratztheit, die zwischen 2007 und 2011 Techno und Dubstep so endorphinschwanger miteinander verheiratete.

Pariah
Here From Where We Are
Houndstooth • 2018 • ab 19.99€
Interessant auch wie Pariah den de facto Tod von Dubstep verarbeitet hat. Auf seine knochentrockenen Techno-EPs mit Blawan als Karenn folgt nun ein etwas kraftloses Warp-Bewerbungsschreiben, das offensichtlich Call Super – öh – super findet, aber mit dessen kompositionaler Radikalität nicht mithalten kann. So erschöpft sich »Here From Where We Are« viel zu oft in einem Best-Of der schönsten Boards Of Canada Melodien, anstatt wirklich etwas eigenständiges anzubieten.

Blawan
Wet Will Always Dry
Ternesc • 2018 • ab 20.99€
»Wet Will Always Dry« ist dagegen auf den ersten Blick hässlich wie die Nacht, spuckt und verteilt Ellenbogen, aber wenn mehr Leute so verdammt subtil atzig sein könnten wie Blawan, würde ich vielleicht doch mal wieder zu einer Dystopian-Nacht gehen. Zuhause im übrigen der perfekte Soundtrack um Rohrreiniger in den Abfluss zu gießen.

Forests
Idol Collapse
Left Hand Path • 2018 • ab 9.89€
Forests 森林 kannte ich vor »Idol Collapse« gar nicht, aber wer klingt wie eine japanische Suicide-Coverband, deren Sänger seine Vocals im Real Player aufgenommen hat und deren Rhythmussektion jegliches Interesse daran verloren hat, diesen betrunkenen Loser mit mehr als ein paar faulen Post-Punk-Akkorden, viel Feedback und metalischem Rauschen zu begleiten, der könnte 2018 tatsächlich eine der wichtigsten Neuentdeckungen für mich sein.

Ground
Sunizm
ESP Institute • 2018 • ab 22.99€
Zur Review
Oder aber Ground, der in Osaka zuhause ist, aber genug Hassell gehört hat, um »Sunizm« unroutbar zu machen. »Sunizm« stolpert, flirrt und klingt dabei immer wieder so als hätten Visible Cloaks ihren Designfetisch abgelegt und würden ihre Eames-Chairs endlich mit Lehm und Olivenöl einsauen.

Jon Hassell
Listening To Pictures
Ndeya • 2018 • ab 31.99€
Apropos Jon Hassell, der Meister ist mittlerweile 81 Jahre alt und hat gerade mit »Listening To Pictures« (get it?) ein lächerlich gutes Album gemacht, das wieder einmal klingt wie tonales Malaria. Nochmal: Jon Hassell ist 81 Jahre alt.

Ben Bertrand
NGC 1999
Les Albums Claus • 2018 • ab 18.99€
Wie einflussreich Hassell nach wie vor ist, lässt sich auch an Ben Bertrands »ngc 1999« ablesen, eine verhuschte Bassklarinetten-Suite, die klassischen Minimalismus aus der Philharmonie abholt und in einem Opiumzelt in Manila absetzt. Muss man alleine schon für A2 kaufen.

Nequiquam Deus Abscidit Prudens Oceano Dissociabili Terras, Si Tamen Impiae Non Tangenda Rates Transiliunt Vada
Turhaan Erotti Kaukonäköinen Jumala / Maat Toisistaan Merien Avulla / Jos Epäphyhät Alukset Halkovat / Tahrimattomiksi Tarkoitettuja
Ratio Aurea / Kultainen Leikkaus • 2018 • ab 17.99€
Die letzte wichtige Platte diesen Monat haben Finnen gemacht, eine Menge Finnen: Turhaan Erotti Kaukonäköinen Jumala / Maat Toisistaan Merien Avulla / Jos Epäphyhät Alukset Halkovat / Tahrimattomiksi Tarkoitettuja. Im Schnitt 15 Minuten Zeit lässt sich das Kollektiv pro Seite, um sich langsam entwickelnde Drones in Spiritual Jazz Versprechungen mutieren zu lassen, inklusive klassischer Roland-Unterstützung. Google übersetzt den lateinischen Albumtitel übrigens mit »Es war vergeblich umsichtige Gott seceding Ozean, wenn gottlos Schiffe über dash«. Besser hätte ich die Atmosphäre hier auch nicht beschreiben können.