Adrianne Lenker und die große emotionale Kraft einer einfachen Tomate

05.08.2024
Foto:© Mikey Buishas (4AD)
Adrianne Lenker hat mit »Bright Future« eines der meistbeachtesten Alben dieses Jahres vorgelegt. Was es so besonders macht? Das Unbesondere.

»There is so much mystery«, stellt Adrianne Lenker in einem Interview 2019 – damals noch mit kesser Zahnlücke und braver Ponyfrisur – fest, und spricht ganz bedächtig vom Rätsel menschlicher Existenz. Das Thema Tod beschäftige sie sehr, gleichzeitig sei es ihr künstlerischer Antrieb, sich der eigenen Lebendigkeit immer wieder bewusst zu werden.

Das war ein Jahr bevor die Welt für eine Zeit stillstand und nichts ferner schien als das Sammeln exzesshafter Erfahrungen, die später mal vom puren Genuss des Lebens zeugen werden. Als Lenker für dreieinhalb Jahre ihre WG in Brooklyn gegen ein Leben on the road tauschte, auf der Suche nach Erdung – nur eben in sich selbst. Einer, der sie laut eigener Aussage stets daran erinnert, das reine Dasein zu genießen, ist Philip Weinrobe, Produzent von Lenkers aktuellem Album »Bright Future« und einer ihrer engsten Freunde. Annie, wie er sie nennt, sei eine der größten Songwriterinnen aller Zeiten, und »Bright Future« eines ihrer besten Werke. Den »mysteriösen Code« seines persönlichen Favoriten auf der Platte »Ruined« hätten aber beide bis heute nicht geknackt, sagt er.

Genau darin liegt auch der Zauber, der die Sängerin aus Indianapolis umgibt. Alles ist immer ein wenig geheimnisvoll, die Texte subtil, das Auftreten verhalten. Als Lenker am 6. Mai 2024 die Bühne des Berliner Admiralspalastes betritt, grinst und winkt sie scheu dem Publikum zu, das sich vor Freude kaum auf den Sitzen halten kann, klatscht und trampelt wie bei einem Megastar. »Danke«, giggelt sie auf Deutsch, und deutet auf die phonetische Ähnlichkeit zum englischen »Thank you« hin. Das eher verhaltene Schmunzeln im Saal und den etwas unbeholfenen Start eines sehr intimen Konzertabends kichert die 33-Jährige sympathisch weg. Für den Song »No Machine« der neuen Platte instruiert sie das Publikum und lässt den Zeigefinger auf und ab über die leicht geöffneten Lippen springen. Wenig später klingt der ganze Saal wie eine Gruppe verzogener Kleinkinder – der Sängerin gefällt es: »I’d like to have a recording with that«.

Die Großmutter beim Blumengießen

Während ihr erstes Solo-Album »Stages of the Sun« von 2006 eher einer überproduzierten Pop-Version ihrer selbst gleicht, oder mit den Worten eines Kommentators auf YouTube: »This ain’t Adrianne Lenker, that’s Slaydrianne Slenker«, ist der Sound heute maximal von Akustik, Folk und Impro geprägt. Die neue Platte wurde rein analog in einem Studio mitten im Wald produziert, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Und es wirkt: die Melodien sind so eindringlich, der Gesang so klar, dass man viel genauer hinhört.

Zu dieser Ästhetik des Alltäglichen passen Lenkers Posts auf Instagram: Sonnengereifte Tomaten. Ihre Großmutter beim Blumengießen.

Es sind die Konterparts zu den interpretationsbedürftigen Songs wie »Ruined« oder »Evol«, die dem Album seine Kraft geben: »Real House« handelt von einem Krankenhausaufenthalt als Teenager und dem verstorbenen Familienhund. »Sadness as a Gift« ist ein klassisches Lied über das Loslassen einer vergangenen Beziehung. Alles auf diesem Album ist ganz und gar unprätentiös, erst recht das zwischen Amateur-Ästhetik und Rumgealbere unter Freund:innen changierende Video zu »Fool«, bei dem Lenkers Bruder Noah und ihre kleinere Schwester Zoë assistiert haben und das neueste vierbeinige Familienmitglied Oso die Hauptrolle spielt.

Zu dieser Ästhetik des Alltäglichen passen Lenkers Posts auf Instagram: Sonnengereifte Tomaten. Ihre Großmutter beim Blumengießen. Die Freude über den neuen Titanzahn, der dort glänzt, wo einst die Lücke war. Oder eine Wespe auf einem Apfel mit der Beschreibung »friend«. Dass sie die Nähe zu und den aufrichtigen Austausch mit der Community sucht, nimmt man ihr ab – regelmäßig teilt sie Covers ihrer Songs von Fans und gibt online Songwriting-Workshops. In dem Interview von damals aber weicht sie der Frage aus, wie sie mit Kritik umgehe.

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Des Öfteren zu reflektieren, was ihre Musik bei anderen auslöst, das helfe ihr als Künstlerin zu wachsen. Immer wieder muss sie sich aber auch abseits der künstlerischen Arbeit öffentlichen Urteilen stellen, wie kürzlich in Bezug auf ihre als verspätet abgestrafte Positionierung zum Nahostkonflikt und zuvor abgesagte Auftritte in Israel, der Heimat von Big Thief-Bassist Max Oleartchik, dessen Ausstieg aus der Band erst kürzlich bekannt wurde. Trotzdem bleibt sie weiterhin laut, wenn es um die Gleichberechtigung und Rechte von marginalisierten Communitys geht. Auch wenn sie sich damit angreifbar macht. Am Ende ist es nämlich genau diese Verwundbarkeit, mit der Adrianne sich immer ein bisschen mehr in die gebrochenen Herzen ihrer Fans schleicht.