A Journey Into Turkish Music – Gastarbeiter*innen Musik

07.10.2020
Parallel zur Genese des Anadolu Pop entwickelt sich in der BRD eine virile Infrastruktur. Diese »Gastarbeitermusik« hat das öffentliche Bewusstsein stets nur gestreift. Der wirtschaftliche Austausch hätte ein kultureller sein können.

Kaum zwei Seiten umfasste das Dokument mit dem Aktenzeichen 505–83SZV–92.42, welches am 30.Oktober des Jahres 1961 von der türkischen Botschaft ans Auswärtige Amt geschickt wurde und doch sollte es der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands für immer eine neue Richtung geben. Mit dem sogenannten Anwerbeabkommen, das an diesem Tag beidseitig beschlossen wurde, wurde die Einreise von Arbeitskräften geregelt, die am deutschen Wirtschaftswunder mitwirken sollten. »Gastarbeiter« wurden diese Menschen genannt und der Begriff entlarvte bereits, dass ein Aufenthalt von Dauer nie vorgesehen war: Nach zwei Jahren sollte es wieder zurück in die Türkei gehen und sie von anderen ersetzt werden. Das Anwerbeabkommen zwischen der alten Bundesrepublik und der Türkei war nicht das erste und auch nicht das letzte dieser Art. Zuvor bestanden ähnliche Vereinbarungen mit Italien, Griechenland und Spanien, danach wurden Verträge mit Marokko, Südkorea, Portugal und Tunesien unterschrieben. Und doch zog kein anderes dermaßen weitreichende Konsequenzen nach sich.

»Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen«, schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch im Vorwort zu dem im Jahr 1965 erschienenen Buch »Siamo italiani – Die Italiener. Gespräche mit italienischen Arbeitern in der Schweiz«. Ähnliches zeigte sich alsbald, als die ersten türkischen Arbeiter*innen in der Bundesrepublik ankamen, sich erst demütigenden Untersuchungen unterziehen mussten und schließlich in Fabrikhallen landeten, in denen sie sich mit niemandem verständigen konnten. Einer von ihnen heißt Metin Türköz. Als er im Januar 1962 in München ankommt, hat er seine Saz dabei. Denn, zwar soll der Aufenthalt nur von kurzer Dauer sein, ein Stück der heimatlichen Kultur dabeizuhaben aber schadet nicht.

Nur wenig später findet er sich in Köln, wo er sich in den Ford-Werken als Schlosser verdingt, inmitten einer Festgesellschaft wieder, die ihn zum Spielen überreden will. Die Stimmung ist fröhlich, doch Türköz ist es nicht. Als er zu spielen beginnt, sprudeln die Worte aus ihm heraus, Worte über die Versprechungen und Enttäuschungen dieses Lebens in der Fremde, in »Almanya, Almanya«, wie der Song später heißen soll. Es ist ein Moment, der mittlerweile als die Geburtsstunde dessen gilt, was gerne unter dem Begriff »Gastarbeitermusik« subsumiert wird und auf eine sechzigjährige Geschichte zurückblicken kann, die sich von Türköz über die anarchische Disco-Folk-Gruppe Derdiyoklar İkilisi bis hin zu Kool Savas oder Mero erstreckt. Es waren Menschen gekommen, um zu bleiben. Sie brachten Musik mit.

Parallel zur Genese des Anadolu Pop mit all seinen diversen Ausläufern entwickelt sich in der Bundesrepublik eine virile kulturelle Infrastruktur, die im Schatten der deutschen Mehrheitsgesellschaft und ihrer Musikindustrie aufblüht. Yılmaz Asöcal ist der erste, der das Potenzial der sogenannten Gurbetci-Musik, der Musik der Fremden, versteht und auch den Bedürfnissen der Neuankömmlingen entgegenkommen möchte. Asöcal war im Jahr 1955 als Student nach Deutschland gekommen und gründete neun Jahre später das Unternehmen Türkisch-Deutsch-Export, mit welchem er den wirtschaftlichen wie auch kulturellen Austausch zwischen beiden Ländern ankurbelt. »Er ist einer der Miterfinder*innen des migrantischen Bedarfsladens in Bahnhofsnähe. Da passte Musik gut rein, weil die Musik hier auch gefehlt hat«, sagt Sebastian Reier, der mit »Altın Kaniş Klübü« selbst eine Compilation zum Thema betreut hat.

Krasser noch als jedes Underground-Netzwerk der Punk-Ära ist der Vertrieb der Tapes und LPs von Türküola, Uzelli und Minareci: In Gemüseläden, in Elektronikfachgeschäften und im Gemischtwarenhandel entsteht eine parallele Musikindustrie, deren Verästelungen heute trotz aller Bemühungen noch nicht ganz erforscht sind.

Auf das Exportgeschäft folgt das Label Türkofon, das Asöcal später in Türküola umbenennen soll. Türküola wird zur Plattform für die Musik der Eingewanderten, darunter etwa Yüksel Özkasap, Asöcals spätere Frau, die sich mit ihren sentimentalen Liedern bald den Spitznamen »Nachtigall von Köln« verdient. Zugleich erscheinen dort aber auch Alben und Singles aus der Türkei, von Cem Karaca, Selda, Moğollar und Barış Manço & Kurtalan Ekspres. Als das Label im Jahr 1973 eine weitere Niederlassung in İstanbul öffnet, erreicht dort gerade der Anadolu Pop seinen kreativen und kommerziellen Höhepunkt, während die Bundesrepublik offiziell den sogenannten Anwerbestopp erklärt: Zwölf Jahre, nachdem die ersten Arbeiter*innen aus der Türkei gekommen waren und zu großen Teilen weit über die ursprünglich befristete Zeit von zwei Jahren bleiben konnten, schiebt das Land dem wirtschaftlichen Austausch, der auch ein kultureller hätte sein können, rabiat den Riegel vor.

Dennoch werden weiterhin massenweise Kassetten und Schallplatten mit mehr oder weniger professionell aufgenommener Musik der Menschen aufgenommen, die als Gastarbeiterinnen gekommen waren und denen der Anschluss an die deutsche Leitkultur von dieser weitgehend verwehrt blieb. Mit dem 1971 gegründeten und ab 1974 als Label aktiven Unternehmen Uzelli in Frankfurt sowie dem Münchner Imprint Minareci, auf dem ab demselben Jahr bis Ende der 1990er Jahre reihenweise Alben erscheinen, verfestigen sich die Strukturen und Vertriebswege. »Türküola, Minareci und Uzelli, die Big Three, sind immer auf der Suche gewesen und haben nicht nur Musik aus der Türkei veröffentlicht, sondern auch ein Auge darauf geworfen, was in der nächsten Nähe passiert ist«, sagt Ercan Demirel, der bereits im Jahr 2004 mit der Online-Plattform Diskotek ein nach Crowdsourcing-Prinzip funktionierendes Archiv türkischer und türkeideutscher Releases ins Leben rief, die mittlerweile 4.000 Bands und Sängerinnen listet.

Demirel ist Mitbetreiber des Labels Ironhand, auf dem zuletzt unter anderem ein gefeierte Sammlung von Aufnahmen der Grup Doğuş erschien, die Mitte der 1970er Jahre in München ausufernde Neuinterpretationen von Anadolu-Pop-Standards aufnahmen und dann in Vergessenheit gerieten. Ihre Entdeckung hat Demirel dem Produzenten Grup Ses zu verdanken, der ihre einzige Tape-Veröffentlichung in İstanbul auftreibt. »Es ist ein Unding, dass diese Band so unbekannt geblieben ist. Sie haben sich aus Angst vor xenophoben Attacken in den achtziger Jahren aufgelöst«, kommentiert Reier dies. Die Geschichte der Grup Doğuş steht sinnbildlich für viele andere: Hunderte Alben werden hüben wie drüben hunderttausendfach verkauft – ohne, dass sich das in irgendeiner Weise in den deutschen Charts oder auch nur den Plattenläden bemerkbar gemacht hätte. Krasser noch als jedes Underground-Netzwerk der Punk-Ära ist der Vertrieb der Tapes und LPs von Türküola, Uzelli und Minareci: In Gemüseläden, in Elektronikfachgeschäften und im Gemischtwarenhandel entsteht eine parallele Musikindustrie, deren Verästelungen heute trotz aller Bemühungen noch nicht ganz erforscht sind.

Doch warum fand die Produktion und Distribution auf ganz anderen Wegen statt, woran scheiterte der Austausch? »Es gab Interesse für italienische Disco-Musik, für spanische Musik, Julio Iglesias und so weiter. Aber es gab auch das Vorurteil, dass das alles Gejaule aus Anatolien sei«, sagt Demirel. Auch die Gründung des Labels Teledisc, wo englischsprachige Aufnahmen von Cem Karaca Seite an Seite mit deutschsprachigen Schlager-Nummern standen, konnte daran nichts ändern. Auch Teilerfolge wie Veröffentlichungen der Band Kadri Six Ende der 1960er Jahre auf dem deutschen Label Intercord blieben weitgehend folgenlos. »Es gab wohl kein Interesse daran aus deutscher Sicht, selbst wenn türkische Firmen es versucht haben«, konstatiert Demirel. Eine verpasste Chance, wie Reier meint: »Das Potenzial wurde völlig unterschätzt und verpennt.« Zugleich jedoch sind die Labels und Musiker*innen gar nicht darauf angewiesen, bei WOM und Co. vertreten zu sein – ihre Releases verkaufen sich auch so bestens, ob nun in Hamburg oder Ankara.


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Während der 1970er Jahre verschlechtert sich in der Türkei die Lage extrem. Politische Instabilität, ökonomische Krisen und die ständigen Scharmützel zwischen rechten und linken Gruppierungen kulminieren schließlich im Jahr 1980 in einem Putsch, auf den eine Militärdiktatur folgt – keine guten Zeiten für Kultur, erst recht nicht für gegenkulturelle Figuren wie Cem Karaca, Erkin Koray oder Selda. Karaca siedelt bereits Ende der 1970er Jahre nach Westdeutschland über, nachdem er Jahre zuvor bereits mit dem Ferdy Klein Orchester zusammengearbeitet und mit Alex Wiska sogar einen deutschen Gitarristen für seine Band Kardaşlar rekrutiert hatte. Unzählige andere Künstler*innen und Intellektuelle tun es ihm gleich, darunter auch die Sängerin Bülent Ersoy, eine Transfrau, der in der Türkei Bühnenverbot erteilt worden war.

Karaca indes ist der prominenteste von ihnen, der einen kulturellen Brückenschlag anstrebt. Sein Album »Die Kanaken« erscheint im Jahr 1984 und damit einer Zeit, die von einem Klima der Xenophobie – von »Ausländerhass« ist die Rede, obwohl die verhassten Menschen zu diesem Zeit schon zwanzig Jahre oder länger in Deutschland leben – geprägt ist. Auch dieses Album jedoch wird weitgehend von der Mehrheitsgesellschaft weitgehend ignoriert. »Der Einzige, der es begriffen hat, war Alfred Biolek, der sich immerhin die Mühe gemacht hat, Barış Manço, Cem Karaca und Ozan Ata Canani in seine Sendung einzuladen«, sagt Reier. Canani singt dort den Song »Deutsche Freunde«, den er mit 15 Jahren geschrieben hatte und in welchem er das prägende Max-Frisch-Zitat neu interpretiert: »Es wurden Gastarbeiter gerufen / doch es kamen Menschen an«. Eine Neuaufnahme des Stücks wurde für die von Imran Ayata und Bülent Kullukcu im Jahr 2014 erstellte Trikont-Compilation »Songs of Gastarbeiter Vol.1« neu eingespielt.

Türköz, Karaca und Canani sind bei weitem nicht die einzigen, welche in der Tradition der Aşıks, umherreisender anatolischer Volksliedsänger, gesellschaftskritische Töne anschlagen. Selbst das Duo Derdiyoklar, sonst eher für ironische Verballhornungen und ihre anarchischen Live-Auftritte bekannt, packt im Jahr 1981 den mehrheitsgesellschaftlichen und politischen Zeitgeist in scharfe Zeilen: »Helmut Kohl und auch Strauß (le le liebe Gabi) / Wollen Ausländer raus (le le liebe Gabi)«, heißt es im Song »Liebe Gabi«. Das rotzig-funkige Stück soll sich leider als prophetisch erweisen: Zwei Jahre später erlässt die Regierung unter Kohl das »Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern«, das einem Politiker wie dem bayerischen Ministerpräsidenten wie Franz Josef Strauß in die Hände spielte, der die Anzahl der nach Deutschland migrierten Personen um die Hälfte reduzieren wollte. Die Gäste wurden endgültig gebeten, doch bitte wieder zu gehen, war ihre Arbeit doch angeblich getan. Angesichts solcher politischen Anstrengungen und der begleitenden leitkulturellen Ignoranz stoßen die Versuche eines Karacas ebenso auf taube Ohren wie Cananis und Derdiyoklars schallende Kritik. Und doch wird die BRD zur temporären Heimat vieler freiwillig exilierter Künstler*innen, die, wie Reier sagt, »politisch schwerer vermittelbaren Dinge« von Deutschland aus veröffentlichen, während sich die türkische Bevölkerung unter der Militärdiktatur krassen Repressionen ausgesetzt sieht.

»Es gab Interesse für italienische Disco-Musik, für spanische Musik, Julio Iglesias und so weiter. Aber es gab auch das Vorurteil, dass das alles Gejaule aus Anatolien sei«

Ercan Demiral

Immerhin einige wenige Annäherungsversuche lassen sich in den 1980er Jahren ausmachen, darunter etwa das von DJ Ralph »von« Richthoven initiierte Projekt Sâada Bonaire für das der Bremer mit den Sängerinnen Stefanie Lange und Claudia Hossfeld sowie einer Reihe kurdischer Künstlerinnen zusammenarbeitete. Mit Elektro-Dschungel gelang es dem Sozialpädagogen Winfried Nacke in Wiesbaden, ein umfassendes Kollektiv von Musikerinnen um sich zu scharen und im Jahr 1987 eines der kuriosesten Alben der deutschen Musikgeschichte zu veröffentlichen. Auf »Kebab- und andere Träume« treffen ein D.A.F.-Cover auf Stücke mit Ali Aydoğan vom Derdiyoklar İkilisi, Dub auf Electro-Funk und Proto-Rap-Songs. Genialer Dilletantismus. Auch dieses – zwischenzeitlich immer wieder reaktivierte – Projekt schafft es trotz Support-Slots bei Udo Lindenberg und Auftritten im Frühstücksfernsehen kaum ins öffentliche Bewusstsein. »Ich versuche auch zu ergründen, warum es nie dazu kam«, sagt Reier. »Es fand immer in einem JUZ- oder Kulturwerkstatt-Ghetto statt und türkische Musik wurde im Großen und Ganzen nie zur Kunst erhoben.«

Ab Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wird Rap zunehmend zum primären Ausdrucksmedium der Kinder und Kindeskinder der ersten Gastarbeiter*innengenerationen. Es erhalten sich allerdings auch bis heute einige der Traditionen rund um die Musik, wie sie einst Metin Tüköz und andere nach Deutschland brachten. Doch hat sich deren Sound und Auftreten geändert. Wer auf YouTube nach alten Live-Auftritten von Derdiyoklar sucht, findet dort wacklige Mitschnitte der energetischen Auftritte zweier haariger Männer, die mit explosiver Energie ihre Instrumente malträtieren, schwitzig in ihre Mikros schreien, die Saz auf den Nacken gelegt. So sahen also in den 1980er Jahren türkische Hochzeiten aus. »Jetzt ist es nicht mehr so wild! Was Derdiyoklar gemacht haben, war einzigartig«, kommentiert Demirel den Status Quo. Aber wenn der in Köln lebende Musiker Elektro Hafiz zum Halay aufruft, sagt er, ergäben sich ähnliche Effekte. »Das funktioniert in der Türkei, aber auch in Deutschland.« Die Musik ist eine andere, die Freude ist geblieben.

Die Geschichte der Musik von Gastarbeiter*innen ist zwar allein deswegen zu ihrem Ende gekommen, weil die so bezeichneten Menschen sich dauerhaft in Deutschland niederließen und aus Gästen Einheimische wurden. Sich mit ihr zu befassen, bietet aber nicht nur tiefe Einblicke in die jahrzehntelangen Versäumnisse deutscher Politik und die mangelnde Dialogbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft, deren lebensbedrohliche Konsequenzen nicht erst seit den rechtsradikalen Attacken Anfang der 1990er Jahre, dem NSU-Terror, Hanau und allen anderen angeblichen Einzelfällen auf sozialer Ebene mehr als deutlich hervorgetreten sind.

Die Befassung mit Gastarbeiterinnenmusik ermöglicht auch, sich in der Gegenwart nach neuen Zukunftsmodellen umzuschauen. »Der Blick in die Vergangenheit ist toll, aber noch nicht empowernd«, bekräftigt auch Reier, der mittlerweile an den Münchner Kammerspielen Projekte mit dem ehemaligen Grup-Doğuş-Organisten Tufan Aydoğan initiiert, während Demirel mit seiner Arbeit bei Ironhand neben Reissues auch eine neue Generation von Musikerinnen hervorhebt, die auf Grundlage anatolischer Musik neue Wechselwirkungen mit nordamerikanischen und europäischen Musiktraditionen anstoßen. Darunter finden sich Elektro Hafiz oder Derya Yıldırım aber auch andere wie die Produzentin Anadol eröffnen mit ihrer Musik neue Perspektiven.


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