Lucrecia Dalt ist zwei Jahre lang in 25 Meter tiefe Löcher gekrochen, um den Dingen auf den Grund zu gehen. Gelegentlich zumindest. Für ihren Job bei einem Geotechnik-Unternehmen überprüfte sie, ob sich das Erdreich als Fundament eignen würde.
»Das war spaßig, abwechslungsreich, herausfordernd, merkwürdig, anspornend, ziemlich masochistisch«, meint Lucrecia Dalt dazu. Sie hielt sich aber nicht lange damit auf. »Mit ungefähr 25 Jahren fand ich immer mehr Gefallen an meinem Hobby und als der Zeitpunkt gekommen war, an dem ich mich hätte entscheiden müssen, ob ich einen Master in Geotechnik anfange, habe ich mir stattdessen eine Pause genommen, um es mit der Musik zu versuchen.«
Es ist dabei geblieben und die Kolumbianerin lotet die Welt mittlerweile mit breiten Bassfrequenzen aus, anstatt sich durch enge Schächte zu quetschen.
Raus aus dem Loch
Auch von der Oberfläche der Welt hat Lucrecia Dalt bereits viel gesehen. Nachdem sie Mitte des letzten Jahrzehnts ihre ersten Platten in Kolumbien veröffentlichte, kam sie in Kontakt mit der Clique um Jason Grier, Betreiber des Plattenlabels Human Ear Music, der nicht nur eng mit Ariel Pink befreundet ist, sondern in Anfangszeiten mit Julia Holter eine mittlerweile nicht mehr ganz unbekannte Praktikantin bei sich einstellte. Lucrecia Dalt zog erst nach Barcelona und ist mittlerweile in Berlin angekommen.
CITI: Wie würde ein fiktives Objekt das Album wahrnehmen?:### Nach zwei Alben auf Human Ear Music und einem Abstecher auf Nicolas Jaars Label Other People hat Lucrecia Dalt nunmehr auf Care Of Editions ihr fünftes Album veröffentlicht. „»ou«, so dessen Titel, stellt deutlich weniger, als sein zum Teil noch sehr Pop-affiner Vorgänger »Szyzygy«, Lucrecia Dalts Stimme in all ihren Variationen und Mutationen ins Zentrum. Ins Zentrum rückt vielmehr der Klang an sich und die Maschinen, mit denen dieser produziert wird.
Zurück in die Tiefe
Und hier schließt sich der Kreis: Das Fundament für ihre Musik nämlich, suchte sie im Inneren. Der Maschine in diesem Fall. Lucrecia Dalt sagt, sie habe sich zuerst vor allem für die internen Prozesse der Maschinen interessiert. Tatsächlich denkt Lucrecia Dalt selbst konzeptuell und ästhetisch noch in technischen Begriffen.
»Zeitgenössische Musik spielt viel mit Räumlichkeit, der Verwendung von Reverb. Alles aber ist ausbalanciert, komprimiert und Überraschungen finden nur in einem Klangpool statt, in dem du dich danach auf die Suche begeben musst«, sagt sie zum Beispiel und fügt hinzu: »Für mich fühlt es sich so an, als würden wir mit den unteren Frequenzen die radikaleren Entscheidungen treffen.« Soll heißen: Bass, Bass, Bass. Lucrecia Dalts Sprache bleibt der Klang.
Wie klingt das Album, wenn Du es nicht selbst hörst?
Auf »ou« sind deshalb nicht mehr als insgesamt 16 Wörter zu hören. »Ich habe mit dieser Platte versucht, von subjektiven Themen Abstand zu nehmen.« Das klingt zuerst abstrakt. Es wird noch ein wenig komplizierter: »Ich wollte über die Idee eines Objekts fantasieren, das sich im Medium des Klangs bewegt. Dieses Medium sind in dem Fall die Stücke auf der Platte, die dann stattfinden, wenn das Objekt vorbeizieht.«
Ihr Publikum soll Lucrecia Dalts Album also nicht einfach nur hören. Nein, es soll sich vorstellen, was dieses fiktive Objekt wahrnimmt, während es »ou« durchquert.
In seinen Grundzügen sind das ähnliche Überlegungen, wie sie die philosophische Strömung des sogenannten spekulativen Realismus anstellt und die sich auf ein altes Zen-Rätsel reduzieren ließen: Wie klingt ein im Wald umfallender Baum, wenn niemand dabei ist, um das zu hören? Soll heißen: Wie sähe die Welt aus, wenn wir sie nicht durch den Bauchnabel unserer subjektiven Wahrnehmung betrachten würden?
Tatsächlich klingt »ou« schwierig zu erfassen. Es ist, als würden sich die Synthesizer-Loops mit vorgehaltener gegenseitig Geheimnisse zuflüstern, in die sie dich nicht einweihen möchten. Ebenso in den vielen anderen Momenten, den Drones und Basslines, die die vier Stücke bevölkern und ihren eigenen Gesetzen zu folgen scheinen. Die Zeit vergeht auf diesem Album merkwürdig, mal wirkt sie gestaucht und mal dehnt sie sich aus. Selbst wenn Lucrecia Dalts eigene Stimme durch den Raum geistert, scheint sie sich dort nicht aufzuhalten wollen. Vielleicht ja, weil sie sich selbst wie ein Eindringling im eigenen Schaffen vorkommt.
Als der Schriftsteller Joseph von Eichendorff 1835 in seinem Gedicht »Wünschelrute« schrieb, dass in allen Dingen ein Lied schlafe, dachte er wohl kaum daran, dass jemals irgendjemand eines an die Dinge richten würden. Genau genommen aber ist »ou« eben das: ein Lied an die Dinge. Denn Lucrecia Dalt gehört nun mal zu der Sorte Menschen, die den Dingen gerne auf den Grund gehen.