Vor drei Jahren war der Blätterwald von einem Rauschen erfüllt. »Retromania« lautete das Wort der Stunde, geprägt hatte es Simon Reynolds, der in seinem gleichnamigen Buch einen ernüchternden Rundumschlag vornahm. Archivierung, Musealisierung, Digitalisierung würden in der Wiederholung des Dagewesenen resultieren. Pop will eat itself und käut sich wieder. Simon Reynolds hat seine Rechnung ohne die Generation gemacht, die mit dem Internet aufwuchs. Für die nämlich ist Grenzüberschreitung eine bloße Selbstverständlichkeit. Yør ist einer dieser digital natives, die nostalgiefrei zu zitieren verstehen.
In den Releases des Mittzwanzigers klingen House, Techno und Electro auf der einen Seite, avantgardistische elektronische Musik auf der anderen Seite an. »Das breite stilistische Spektrum und die ästhetischen Zitate ergeben sich aus den Strukturen der Informationsorganisation unserer Zeit, die radikal anders als noch vor 20 Jahren ist. Eine wichtige Rolle spielt auch meine eigene Entwicklung: Als ich meine erste EP produzierte, kannte ich einen großen Teil der Musik, die ich heute sehr schätze, noch nicht. Das ist ein Prozess, der hoffentlich niemals abschließt«, berichtet er im Interview. Das Endprodukt ist ein emotional ambivalentes Klangkippspiel, tanzbar und dicht zugleich.
Neue soziale Rollen
Neben einer jüngst veröffentlichten Single auf dem Uncanny Valley-Sublabel shtum erschienen drei seiner EPs auf dem in Amsterdam ansässigen Label Purple Maze, eine weitere wird auf Crème Organization erscheinen, das wie kaum ein anderes für den The Hague-Sound einsteht. Internationale Kontakte, die durch das Versenden von Demos zustande kamen. Seine Beiträge auf dem kanadischen Label Obsession Records kamen zustande, als Labelbetreiber Matt Didemus auf Yørs Tracks stieß. Er ist Teil des Netzwerks geworden, aus dem er sich selbst speist.
Seine Jugend verbrachte Yør im subkulturellen Niemandsland zwischen Kassel und Göttingen. »In der Stadt, in der ich aufwuchs, gab es einen Club, der frei von jedweder Programmatik war. In seinen besseren Zeiten konnte man aber zumindest unter Einwirkung der Nebelmaschine The Prodigy hören, was schon eine Erfahrung war.« Ihm blieb kaum mehr als die eigenständige Recherche im Netz und eine Ahnung von dem, was Musik ermöglichen kann. »Viel entscheidender als die rein musikalische war die Gesamterfahrung. Zu sehen, dass Menschen in neuen Situationen und Settings neue soziale Rollen für sich entwickeln mussten, fand ich als notorischer Außenseiter unheimlich vielversprechend.«»In der Stadt, in der ich aufwuchs, gab es einen Club, der frei von jedweder Programmatik war. In seinen besseren Zeiten konnte man aber zumindest unter Einwirkung der Nebelmaschine The Prodigy hören, was schon eine Erfahrung war.«
Yør
Party? Mehr als nur Party!
Es blieb nicht allein bei Musik: »Ich habe Philosophie, Ethnologie, Literaturwissenschaften und Bildende Kunst studiert, ohne einen Abschluss zu machen«, erzählt Yør und schiebt trocken hinterher: »Staatliche Strukturen sind mir einfach zuwider.« Tatsächlich zieht es Yør, der ab 2010 in Göttingen gemeinsam mit einem Freund Veranstaltungen organisierte, in die selbstverwaltete Clublandschaft Hamburgs. Erst arbeitet er für das Übel & Gefährlich, dann wird er Mitglied des Kollektivs, das im Golem den Schulterschluss von Party und Politik versucht.
»Eine künstlerische Handlung sollte der vorherrschenden Kultur immer widerstreben, eine Party mehr als nur eine Party sein«, erklärt er per E-Mail. »Als marktwirtschaftlicher Akteur ist man aber immer den Bedingungen ausgeliefert, die das jeweils herrschende Gesellschaftssystem erzeugt. Beiden Orten gelingt es auf recht unterschiedliche Weise, mit dieser Thematik umzugehen«, erklärt er seine Identifikation mit Golem und dem Golden Pudel, in denen er während seines Hamburg-Aufenthalts regelmäßig auflegte.
Die Möglichkeit des Dissoziativen
Wenn Rave schon mehr bietet als nur Rausch, dann die Musik dazu erst recht: »Reizvoll ist die Möglichkeit des Dissoziativen. Während ich zu klassischen Musikinstrumenten konkrete Assoziationen habe, hat synthetische Musik noch immer das Vermögen des möglich-Anderen.« Was er darunter aber versteht? »Eine Erfahrung, die sich bestehenden Kategorien entzieht. In der Cluberfahrung liegt die Möglichkeit einer alternativen sozialen Erfahrung, die Impulse liefert, die sich auch in andere Lebensbereiche übersetzen lassen.« Es gibt keine Party ohne Politik, die Theorie tanzt mit. So progressiv denkt jemand, der eigentlich zur Retromanie verdammt sein sollte. Wie schön es doch ist, wenn Musik dem Kulturpessimismus ein Schnippchen schlägt.