Jahresrückblick 2020 – Top 50 Albums

01.12.2020
Sprechen wir es aus: Musik ist in Gefahr, weil sie nicht gemeinsam erlebt werden kann und weil ihre Macher*innen sich seit Monaten in einer existenziellen Krise befinden. Auf Schallplatte gab es dennoch einiges zu hören, wie diese 50 Alben.
Seit fünf, sechs Jahren scheinen sie zum Jahresabschluss unvermeidlich: die wütenden Brandreden gegen die Gesamtscheiße. 2020 umso mehr, klar. Aber während zuvor noch jeder wütende Dezembersermon sich zum Ende hin damit herausreden konnte, dass ja immerhin die Musik Trost und Hoffnung gespendet habe und es schon weiterginge, weil es muss und weil der Beat schließlich auch kein Ende findet, wollen wir uns und euch das hier und jetzt nicht einreden. Sprechen wir es aus: Musik ist in Gefahr, weil sie nicht gemeinsam erlebt werden kann und weil ihre Macher*innen sich seit Monaten in einer existenziellen Krise befinden. Und wir alle sind müde. Die Zahlen, die Push-Notifications, das Doomscrolling – all das hat uns ermattet. Schlafen legen werden wir uns aber nicht, weil dann die Albträume kommen und nach ihnen das noch bösere Erwachen. Sprechen wir auch das aus: 2021 wird vermutlich trotz einiger Hoffnungsschimmer am Horizont erstmal nichts wesentlich besser. Womit wir dann doch bei der Musik ankommen, bei den Alben, die uns in diesem Jahr des rasenden Stillstands begleitet haben. Die uns am Morgen den Kaffee eingeschenkt und am Abend die Bettdecke bis zur Nasenspitze gezogen haben. 50 Schallplatten, die eine beschissene Welt nicht besser machen. Die uns aber vom Einschlafen abgehalten haben und das weiterhin tun. Denn wach und wachsam zu bleiben, das wird unsere Aufgabe in den kommenden zwölf Monaten und darüber hinaus sein. Kristoffer Cornils


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Ak'Chamel, The Giver Of Illness
The Totemist
Akuphone • 2020 • ab 22.99€
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Noch eine absolute Sensation und die beste Principe-Platte, in einem Jahr, in dem gefühlt zehn essentielle Principe-Platten veröffentlicht wurden: »Máquina de Vénus« von Blacksea Não Maya, die hier wie erwartet Batida, Tarraxho und Kuduro einmal auf links drehen, vor allem aber mit einem recht amerikanischen Verständnis von Reggaeton, Dancehall und Trap kreuzen und das alles immer wieder mit sehr europäischen Sub-100BPM-Techno-Sperenzien redefinieren. Florian Aigner

Cindy
I'm Cindy
World Of Paint • 2020 • ab 23.99€
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Hätte man Madonna in den Achtzigern mit Phuture in ein Kassettendeck gesperrt, das Tape 35 Jahre vergessen und durch Zufall in einem Kreuzberger Second Hand-Boutique für Retrosachen und Hipsterscheiß wiedergefunden, wäre die Sache für Cindy ganz schön eng geworden. Der Simulacren-Verschnitt mit Roland 303-Anleihen huscht mit dem »verschwundenen« und von Palmbomen II wiedererfundenen »I’m Cindy« zwischen »X-Files«, »Twin Peaks« und der verklärten Vergangenheits-Vorstellung durch jede Erinnerungslücke, ohne je existiert zu haben. Klare Sache, ein Fall für Scully und Mulder. Christoph Benkeser


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Cindy Lee
What's Tonight To Eternity
W.25th • 2020 • ab 32.99€
Cindy Lee hatten mit »The Act Of Tenderness« schonmal ein Album gemacht, dass in Jahresendlisten gehörte. Fünf unangenehme Jahre später ist Cindy Lee nur noch einer und hat nach zwei wenig beachteten Zwischenalben des Trios richtig nachgelegt. »What’s Tonight To Eternity« konzentrierter als »Act« und zieht genauso schön runter. So könnten auch MGMT 2020 klingen: Einfach ernsthaft abgeschissen und ausgebrannt, es gibt auch kein Heroin Chic mehr, einfach nur noch Abgemagertheit von der endgültigen Unfettheit des Lebens. Pippo Kuhzart

CS + Kreme
Snoopy
The Trilogy Tapes • 2020 • ab 31.99€
»Snoopy« von CS + Kreme ist das Album, dass mich 2020 am nachhaltigsten beeindruckt hat. Warum eigentlich? Nichts daran ist wirklich neu im Sinne von innovativ, dafür ist alles inkongruent, mitunter willkürlich, atonal. Gleichzeitig ist alles miteinander verbunden und zwar durch eine unsichtbare Eleganz, welche die Fäden zu einem undurchdringbaren aber einnehmenden Geflecht verwebt und aus deren Tiefe sich Grooves und Melodien lösen. Musik für neugierige Menschen. (Sebastian Hinz)

Daniel Blumberg
On & On
Mute • 2020 • ab 19.99€
In einem Jahr, in welchem die Menschheit endgültig ihre allumfassende Brüchigkeit bewies, war die lauteste Platte eine sehr leise. Daniel Blumberg machte auf »On&On« den Arthur Russell für Folk-Nerds. Verstörend-aufbauende Songabstraktionen wurden mit nasal gesungenen Lyrics aus dem Alltagsliebenleben konterkariert und irgendwann wiederholte sich nur noch alles. Ein Album, das in seiner Fragilität ein Wucht ohnegleichen transportiert. Wer bei »Pillow« noch nicht ins selbige weint, hat nix kapiert. Kristoffer Cornils

David Behrman, Paul Demarinis, Fern Friedman, Terri Hanlon & Anne Klingensmith
She's More Wild...
Black Truffle • 2020 • ab 24.99€
High Noon im Irrenhaus, die Hühnchen sind ausgebrochen. »She’s More Wild..« ist komplett GAGA, Avantgarde-Musik auf romantisierten Vorstellungen von Saloons, keine Ahnung was es ist. Spoken Word. Bipolares Räkeln auf dem Flügel. Jenny Hval im Nachthemd. So ungefähr kommt man diesem besten aller Wahnsinns näher, den David Behrmann, Paul Demarinis, Fern Friedman, Terri Hanlon & Anne Klingensmith hier produziert haben. Pippo Kuhzart

DJ Python
Mas Amable
Incienso • 2020 • ab 19.99€
Auf den Namen »Mas Amable«, zu deutsch in etwa: »sanfter«, hörten die 49 locker aus dem Ärmel geschüttelte Minuten von DJ Python, konzipiert wie ein DJ-Set mit fließenden Übergängen, Spannungsbögen, Finten, durchgehendem Tempo. Einmal aufgelegt, hängst du hier also am Haken. Zudem: Krosser klangen die Schläge des »deep reggaeton« des New Yorkers selten und das Glücksgefühl, wenn sich auf dem zweiten Track »Pia« die Beats in die Musik zittern, hatte ich zuletzt 2002 bei The Remote Viewer. Sebastian Hinz

Ellen Fullman & Theresa Wong
Harbors
Room 40 • 2020 • ab 27.99€
Lawrence English ist ein Menschen-Remixer und hat auch dieses Jahr wieder geliefert: Über Room40 kamen geschätzte fünfhundert geile Releases heraus, die nominell noch Musik sind und gefühlt als Krümmungen in der Raumluft sichtbar werden. Für »Harbors« hat Ellen Fullman ihr bizarres Long String Instrument singen lassen und Theresa Wong mit dem Cello geantwortet. Mal in langen Drones, mal mit verhuschten Phrasen. Klingt das flüchtig oder doch eher plastisch? Die einfache Antwort: beides. Kristoffer Cornils

Emily A. Sprague
Hill, Flower, Fog
Rvng Intl. • 2020 • ab 27.99€
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Wann ist endlich Ruhe? Nicht, solange man lebt. Bis dahin gibt es allenfalls Pausen, in denen sich innehalten lässt. Um Helge Schneider zu paraphrasieren: Ruhe ist nichts, was man hat, die muss man sich nehmen. Mit Emily A. Spragues elektronischen Naturmeditationen auf **»Hill, Flower, Fog« gibt es dieses Jahr eines der schönsten Angebote in dieser Richtung. Melodien, fein ineinander gesponnen, sind ihre Hauptzutat. Die Welt klingt bei ihr sehr in Ordnung. Das ist nicht eskapistisch, sondern eine echte Leistung. Tim Caspar Boehme

Fiona Apple
Fetch The Bolt Cutters
Epic • 2020 • ab 34.99€
Von der Eigenbrötlerin zur Queen of Social Distancing in Corona-Zeiten: Fiona Apple nahm ihr fünftes Album »Fetch The Bolt Cutters« zurückgezogen bei sich zu Hause auf. Es ist herrlich unperfekt geworden, überraschend, heimelig-erdig, mit rumpeliger Percussion (Fußstampfen und – kein Witz – Hundegebeine) und langen, poetischen bis wütenden Texten über Schmerz, Trauma, persönliches Wachstum und toxische Männlichkeit. Mit ihrem Outsider-Pop hat Apple sich spätestens jetzt eine ganz eigen Nische geschaffen – ähnlich der von Tom Waits, dem sie nun auch musikalisch immer ähnlicher wird. Martin Silbermann

Freddie Gibbs & The Alchemist
Alfredo Black Vinyl Edition
ESGN • 2020 • ab 16.99€
Freddie Gibbs ist immer dann besonders gut, wenn er sich eine bessere Hälfte sucht. In diesem Fall findet er The Alchemist mit seinen butterweichen Loops. Die Atmosphäre schwankt zwischen Leinenhosen auf der Yacht und bittersüßer Melancholie. Lyrisch größtenteils im Bragging & Boasting unterwegs, verzichtet Freddie auf eingängige Hooks und komplexe Drumpatterns, nebenbei liefert Tyler, the Creator einen der schönsten Parts seiner Laufbahn ab. Sonnenschein nach Wolkenbruch, wie Katharsis. Till Wilhelm

Future
High Off Life
Epic • 2020 • ab 35.99€
Dass man von Future außerhalb seiner Mask-On-Kampagne auch dieses mal wieder relativ wenige gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge erklärt bekommt, verwundert niemanden. Wäre auch seltsam, besteht doch Futures Kernkompetenz nach wie vor in gnadenlosem Egozentrismus. »High Off Life« erhält also ebenfalls den selben unreliablen, emotional instabilen Ich-Erzähler, den Future vor fast einem Jahrzehnt erschaffen hat, nur dass er 2020 noch ein wenig verlorener, noch abgestumpfter, noch leerer wirkt und damit natürlich der perfekte Avatar für dieses toxische Klima bleibt. Florian Aigner


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haiyti
SUI SUI
Haiyti • 2020 • ab 17.99€
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Mit »Montenegro Zero« von 2018 fand Haiyti über die Smartphones der Cloud-Rap-Fans hinaus Gehör. Selbst Thees Uhlmann coverte einen ihrer Songs. Der von ihr vielbesungene Luxus war plötzlich real. Auf ihrem vierten Album **»Sui Sui« trägt die Hamburgerin statt Abendkleid wieder Trikots französischer Fußballmannschaften. Die Produktionen klingen roher als zuletzt. Räuberpistolen und Straßenrap mischt die 27-Jährige mit Pop, Avantgarde und Dadaismus. So zielsicher klang Haiyti nie. Stefan Mertlik

Jackboys
Jackboys
Epic • 2020 • ab 27.99€
Bah ey, Rap-Label-Compilations. Historisch meistens whack. Aber Travi$ Scott gelingt aktuell einfach alles außer sein Halloween-Kostüm. Der verpillte Trap-Western-Trademark-Sound, den Scott mit »Highest In The Room« in die Charts brachte, ist der musikalische Rahmen für »Jackboys«. Darauf wird dann u.a. der einzige Mensch losgelassen, der unbedingt für immer das berühmte Tropical-Thunder-Zitat ignorieren darf. Randnotiz: Bitte, es muss jetzt aufhören mit diesen ganzen Gunna-Epigonen. Pippo Kuhzart

Jeff Parker
Suite For Max Brown
International Anthem • 2020 • ab 24.99€
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Das Chicagoer Label International Anthem hat in diesem Jahr seinen Plan überfüllt. In diese Liste hätte genauso gut Alabaster DePlume mit »To Cy & Lee: Instrumentals Vol.1« oder Rob Mazurek’s Exploding Star Orchestra mit »Dimensional Stardust«. Auch Irreversible Entanglements, Makaya McCraven, Carlos Niño & Miguel Atwood-Ferguson und wen auch immer ich jetzt vergessen habe, sie alle waren mit guten Releases vertreten und das die Wahl an dieser Stelle stellevertretend an Jeff Parker und »Suite for Max Brown« geht, liegt schlicht daran, dass auf diesem Album jede Facette der anderen genannten Alben auch zu hören ist, von freifließendem Jazz, zu den Hip-Hop erweichenden Breaks, Philly-Streichern, den Schulterschluss mit elektronischer Musik, alles drin. Kannst du blind einpacken und zu Weihnachten verschenken. Sebastian Hinz

Kamaal Williams aka Henry Wu
Wu Hen Black Vinyl Edition
Black Focus • 2020 • ab 24.99€
Ob zur Afterhour oder beim Weihnachtsdinner mit den Schwiegereltern – »Wu Hen« deckt alle Bedürfnisse ab, die man zwischen zwölf und 92 Gläschen Birnenschnaps unterm Weihnachtsbaum entwickelt, ohne zu wissen, dass man sie entwickelt hat. Kamaal Williams lässt das Saxophon ganz säkular über Funk husten, spielt die Soul-Klaviatur auf den schwarzen Tasten und greift in der Elektronik-Abteilung zu den Relais-Schaltungen. Kurzschlussalarm! _Christoph Benkeser

Laurine Frost
Lena
Lyka • 2020 • ab 28.99€
Jazz? Electronica? Dub-Meditation über Dostojevskis Kurzgeschichte »The Dream Of A Ridiculous Man« und den Tod des eigenen Vaters? Laurine Frost schafft auf »LENA« ein komplexes Portrait aus grummeligen Subbässen, verträumten Synthspuren und synkopaken Rhythmusexkursen, die stets luftig bleiben und vorwärts grooven. Ein skurriles, reduziertes und zugleich verzauberndes Werk in 13 Szenen, das sich Trends und Zuordnungen konsequent entzieht und trotzdem verdammt zeitgemäß klingt. Jens Pacholsky

Low Budget Aliens
Junk DNA
XPQ? • 2020 • ab 8.54€
Mit xpq? haben D. Tiffany and Special Guest DJ der Welt ein Label geschenkt, von dem niemand wusste, dass es gebraucht wird und das mit nur vier Releases mehr als essentiell geworden ist. Low Budget Aliens (lol) schiebt mit seinem Debütalbum »Junk DNA« noch so ziemlich jedes Subsubgenre des Hardcore Continuums durch den Mixer und heraus kommt als das, was SND über all die Rumintellektualisiererei nie gelungen ist: Hirnstimulanz mit Wadenkrampf. Nimm das, Breakbeat-Revival! Kristoffer Cornils

Manonmars
In Colour
Young Echo • 2020 • ab 19.99€
Kaum ein anderes Land wurde im Jahr 2020 dermaßen doll gefickt wie Großbritannien, aber Bristol macht Hoffnung. Als ManonMars hat Jack Richardson schon 2018 auf Young Echo reüssiert, »In Colour« inszeniert seinen Deadpan-Rap auf kargen Beats, die nicht selten in Vaporwave-Geschwindigkeit vor sich hinsuppen. Zwischen Rhymes und Rhythmus entsteht so die Spannung, die in diesem Jahr alle gefühlt haben und die doch nirgendwo besser in Worte gefasst wurde als in Bristol, auf Young Echo, durch ManonMars. Kristoffer Cornils

Moor Mother
Circuit City
Don Giovanni • 2020 • ab 24.99€
Natürlich ist »Circuit City« ein opus magnum, in dieser Liste aber auch simples pars pro totum für all das, was Camae Ayewa in diesem Jahr geleistet hat. Hier ein Live-Album, dort eine Kollabo-EP mit Yatta, eine Uneasy-Listening-Platte für Schreibwütige sowieso und zwischendurch noch eine Single für Sub Pop – von ihren Aktivitäten mit Irreversible Entanglements und anderen mal abgesehen. 2020 war also das mindestens fünfte Moor-Mother-Jahr in Folge und das ist selbst ein überwältigendes Future-Jazz-Hörspiel über strukturelle Ungerechtigkeiten eben nur die Spitze des Eisbergs. Kristoffer Cornils

Museum Of No Art
Museum Of No Art
Seance Centre • 2020 • ab 30.99€
Wenn die Sängerin von Me Succeeds macht jetzt schon New-Age-Mucke macht, können wir den Hype für beendet erklären. Oder? Von wegen. Als Museum Of No Art widmet sich Mona Steinwidder auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum für Séance Centre – sprich, der absoluten richtigen Adresse – jedem noch so spinnerten Klischee von synthetischer Räucherstäbchenmusik und tut das dermaßen unprätentiös und unbekifft, dass dabei wirklich etwas Großes bei herumkommt. Die Reissue-Platte 2020, die gar keine ist. Bitte hypen Sie hart. Kristoffer Cornils

Nazar
Guerilla
Hyperdub • 2020 • ab 26.99€
Wo gehobelt wird, fallen Spähne, right? Gerade wenn es um systemrelevante Assets aus Afrika geht, können also nicht dauernd Menschenrechte eine Rolle spielen – oder willst du etwa vierstellige Beträge für das nächste iPhone hinblättern? Als ob. Nazar hat als Kind in Angola erlebt, was den Westen eher antreibt: Hegemoniale Ansprüche. Und milliardenschwere Waffendeals. »Guerrilla« schießt dir das großformatige Panorama eines failed state dank robotisierter Kuduro-Beats, greller Synthstabs und krachendem Endzeitduktus so viszeral ins Hirn, dass es nach einer Dreiviertelstunde alles an vermeintlicher Banalität verloren hat. Nils Schlechtriemen


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Nick Klein
No Shortage Of Rope
Alter • 2020 • ab 24.99€
Für Freunde von Container, Shit And Shine, Powell, also dreckigen, noisy »Outsider-House« gab es in diesem Jahr auf Luke Younger’s Alter Records »No Shortage Of Rope« von Nick Klein. Der »kleine Nick« legte dann Ende des Jahres sogar noch ein weiteres Album auf Joachim Nordwall’S iDEAL Recordings nach, was ihn und seine Musik sozusagen adelt. Das ist verspielte und verspulte Tanzmusik für Hüftkranke und Gelenkrheumatiker. Also genau die Musik, die ich mir schon mal fürs Altenteil zurücklege, um mich jung zu fühlen. Sebastian Hinz

Nidia
Nao Fales Nela Que A Mentes
Principe • 2020 • ab 23.99€
Nídia macht kurzen Prozess und zwar mit allem. Ihr zweites Album »Não Fales Nela Que A Mentes« schraubt den Kuduro-Sound ihres Labels Príncipe Discos auf Tarraxo-Geschwindigkeit herunter und fährt mit jeder der zehn Nummern den Pokal in unter dreieinhalb Minuten nach Hause. Dass ein paar Stücke das Wort »Rap« im Namen tragen, soll bitte auch als Aufforderung verstanden werden. Denn so überwältigend Nídias Musik auch ist, ließe sie allemal Raum genug für ein paar 16er. Kristoffer Cornils

HHV X PMC
100 box
• 2008 • ab 100.99€
Womöglich haben sich die ersten Homo Sapiens tatsächlich von Uganda ihren Weg nach Norden und über das Horn nach Arabien und die ganze Welt gebahnt. Ganz sicher haben sich aber die Trommeln des Nilotika Cultural Ensembles zusammen mit den Tönen der Engländer Spooky J und pq von Kampala mit Marabu-Flügeln durch die Welt gefräst. Das ist vielleicht nicht ganz so wichtig gewesen, wie die Fortentwicklung des Ur-Menschen, hat aber einiges mehr an Spaß bereitet – so after all. Lars Fleischmann

Omar S
You Want
FXHE • 2020 • ab 54.99€
»You Want« ist das geilste Omar-S-Album des Jahres, das nicht das Wort »Fuck« im Titel trägt. Sicherlich, AOS’ Abrechnung mit Resident Advisor war selbst im Bizarro-Jahr 2020 einer der irrwitzigsten Dance-Music-Momente, aber die megalomanische Vierfach-LP aus dem Frühjahr bietet schlicht das hirnrissige Understatement, die Samples und die richtige John-FM-Dosierung, die eine Platte von Omar-S heutzutage wirklich braucht. Und wer nicht in »A Toast to Momma Rose« Trost finden konnte, sollte das spätestens jetzt nachholen. Kristoffer Cornils

Oumou Sangare
Acoustic
No Format • 2020 • ab 26.99€
Auf »Mogoya« (2017), an dem unter anderem der im Frühjahr verstorbene Schlagzeuger Tony Allen mitwirkte, kleidete die malische Diva Oumou Sangare ihre Songs in einen moderneren Sound. Nun hat sie das Album mit unverstärkter Band komplett neu aufgenommen. Die Texte ihrer Songs, die nicht zuletzt Frauen empowern sollen, muss man nicht zwingend verstehen, um von der enormen Energie dieser großen Sängerin hingerissen zu sein, deren Stimme »Acoustic« (No Format) eindrücklich dominiert. Andreas Schnell

Pole
Fading
Mute • 2020 • ab 27.99€
Fünf Jahre lang hat Stefan Betke nur wenig von hören lassen und dann kommt erst die massive Retrospektive seines Frühwerks und schließlich ein Album, das in seiner Thematik extrem 2011 daherkommt: Ums Vergessen geht es auf »Fading«. Betke weiß das aber produktiv umzusetzen und damit Pole nicht nur anders klingen zu lassen als alle Chefhauntolog*innen dieser Welt, sondern auch als viel seiner eigenen Musik bisher. Weniger Raum, mehr Wirkung: Das ist Pole 2020 gewesen und das mächtige »Fading« damit allemal sehr nah am Puls der Zeit. Kristoffer Cornils

Pontiac Streator
Triz
Motion Ward • 2020 • ab 23.99€
Schlammschlacht in der Redaktionssitzung: Welche Ruckel-Ambient-Platte macht das Rennen? Zur Auswahl: ULLA und Pontiac Streator, selbst schon zusammen im Studio gewesen und nun in Konkurrenz zueinander stehend. Fair? Voll nicht. Das Rennen hat trotzdem der eine gemacht und nicht nur, weil die Platte der anderen sowieso nach zwei Sekunden ausverkauft war, sondern weil er seinem Klangteppichsound auch etwas mehr Farbenfreude eingeimpft hat. Das brauchte es in diesem Jahr, sagt die Redaktion, vertreten von Kristoffer Cornils

Pop Smoke
Meet The Woo 2
Victor • 2020 • ab 51.99€
Selbst eine 8jährige im tiefsten Allgäu hat dieses Jahr Pop Smoke gehört. Ganz Deutschrap-Land wollte dieses Jahr klingen wie er. Pop Smoke, Pop Smoke, Pop Smoke, auf Youtube, auf Instagram, auf TikTok, auf deiner Mudderalder. Aber ist auch einfach unwiderstehlich brachial. Bluthund-Musik, Prime-DMX und Prime-Movado zusammen in der Shooting Range mit deinem Kopf nur für Target Practice. Nach »Meet The Woo 2« und für 2021 bleibt zu hoffen, dass man dieses riesige Talent dann aber bitte in Frieden Ruhe lässt. Pippo Kuhzart

Pretty Sneaky
Pretty Sneaky
Mana • 2020 • ab 25.99€
Pretty Sneaky bleibt/bleiben (?) ein unbeschriebenes Blatt, auch im Albumformat auf Mana. Besser noch als auf den diversen White Label Maxis wird hier einmal alles zwischen schwerstgebluntetem Waterdrum-Ambient, Chain Reaction Drones, zartem House und subbassigen, gebrochenen Beats auf vier Endlosstücke verteilt. Nach wie vor keine Ahnung wer dahinter steckt, aber in den besten Momenten knöpft das nahtlos an die größten Momente von Torsten Pröfrock an, zumindest Prä-T++. Florian Aigner

Run The Jewels
RTJ4 HHV EU Exclusive Neon Magenta & Clear Vinyl Edition
BMG • 2020 • ab 28.99€
El-P und Killer Mike sind längst zu einem Superhelden-Franchise geworden, das auch außerhalb des Rap-Lagers in Dolby-Surround goutiert wird. Doch während sich meist sogar die besseren Superheldenepen nach drei Episoden auserzählt haben, ist bei Run The Jewels noch lange kein Reboot fällig. Kein Wunder, will man meinen, haben sich die thematischen Herzensangelegenheiten von Jamie und Mike – die liebgewonnenen und die verhassten – doch keineswegs verflüchtigt. Und so werden die beiden auch auf »RTJ4« nicht müde, wuchtige Worte und Sounds nebst Mitstreitern für ihren Tanz auf ausbrechenden Vulkanen zu finden – und auf der Bildebene zu füttern. Christian Neubert


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Sault
Untitled (Rise)
Forever Living Originals • 2020 • ab 40.99€
»Untitled (Black Is) war diesen Sommer der Schlag aus dem Nichts, die unmittelbare Umwandlung der Wut in Trotz und Stolz, die Black Lives Matter in angemessener Weise würdigte. Im Herbst gehen Sault mit »Untitled (Rise)«** über dieses Unmittelbare hinaus: Sie zelebrieren Hoffnung und Lebendigkeit, wo alles von Hass zersetzt scheint. Damit schlägt die anonyme Gruppe einen Bogen in die frühen Siebziger, als schwarzes Empowerment zuletzt von einem so universellen und mitreißenden Vibe begleitet wurde. Steffen Kolberg

Shabaka & The Ancestors
We Are Sent Here By History
Impulse • 2016 • ab 26.99€
Zur Review
Mit seinen Fingern ist Shabaka Hutchings nicht nur schnell an Sax und Klarinette, sondern zwischenzeitig auch in ein halbes Dutzend hochkarätiger Jazzprojekte verwickelt – die meisten davon hat er entweder maßgeblich geprägt oder gegründet. Dass »We Are Sent Here By History« rückblickend den Beginn seiner kreativen Hochphase markieren wird, ist aber jetzt schon absehbar. Spiritual Jazz hat seit den Coltranes und Pharoah Sanders nicht mehr so aufrichtig vor subversiver Energie gestrotzt. Nils Schlechtriemen

Shinichi Atobe
Yes
DDS • 2020 • ab 27.99€
Das House-Album des Jahres liefert wieder mal Shinichi Atobe. Immer wenn der Japaner, der das Rampenlicht beständig meidet, dem britischen Duo Demdike Stare eine CD mit neuen Tracks schickt, steht potenziell Großes in den Startlöchern. »Yes« bildet da keine Ausnahme; auf sieben Tracks zelebriert Atobe Deep House auf eine ungemein angenehm produzierte, filigrane Art. Selbst die kleinsten Bestandteile der Tracks greifen reibungslos ineinander, ein unnachahmlich federnder Groove trübt die Zeitwahrnehmung immer wieder aufs Neue. Musik, die sich nicht aufdrängt und in deren Kosmos Worte wie Aufmerksamkeitsökonomie nicht existieren. Maximilian Fritz

Simo Cell & Abdullah Miniawy
Kill Me Or Negotiate
Bfdm • 2020 • ab 18.99€
Es wirkt fast so, als hätte die komplette Dance-Szene mit 140+ bpm Anlauf genommen, um mit voller Wucht an die Wand zu schmettern. Produzent *Simo Cell und Sänger Abdullah Miniawy sind die Typen, die die Scherben zusammenfegen und nochmal alles vom Hardcore Continuum ausgehend neu zu konstruieren. Spartanischer könnte dieses Kürzestalbum nicht sein, sein Impact aber auch nicht maximalistischer. Alles voller Bruchkanten, überall ein klammes Mangelempfinden spürbar, im Gesamten also das Gegenteil von Overload – und dennoch oder gerade deswegen absolut überwältigend. Kristoffer Cornils

Sophia Loizou
Untold Black Vinyl Edition
Houndstooth • 2020 • ab 19.99€
Dass Sophia Loizou bei Houndstooth bestens aufgehoben ist, war schon länger klar. »Untold« ist nun der scheppernde Beweis dafür, dass sie den dunkelbunten Dance-Abstraktionen des Labels um ein paar Facetten ergänzen kann. Da rasen Jungle-Breaks durch knusprige Soundscapes, lässt die Isländerin ihre Stimme durch den Mix mäandern und dreht am Ende noch die Streicher rein. Scheiße, was geht denn hier ab? Weiß danach wirklich niemand, nur die Marschrichtung ist klar: immer nach vorne und niemals zurück. Kristoffer Cornils

Sun Ra Arkestra
Swirling Black Vinyl Edition
Strut • 2020 • ab 29.99€
Dass Arkestra-Chef Marshall Allen mit 96 Lenzen gerade auf Betriebstemperatur kommt, hängt entweder mit den gen-mutierten Maismischungen in seiner Heimat Louisville, Kentucky zusammen. Oder mit der der Tatsache, dass Sun Ra sich gar nicht zum Saturn aufgemacht hat, sondern in Allens Körper weiterlebt. Beides möglich, aber wie immer, wenn das Sun Ra Arkestra ruft, folgt man brav und wird auf »Swirling« mit einer Nachhilfestunde in Kosmologie, Sternenkunde und Prä-Astronautik belohnt. Christoph Benkeser

The Chi Factory
Travel In Peace
Astral Industries • 2020 • ab 22.99€
Zur Review
Kaum einer hat nach der Jahrtausendwende das New-Age-Erbe in ähnlicher Weise von Esokitsch und dem Spießertum rasch gealterter Hippies entschlackt, wie der Niederländer Jacobus Derwort. Zusammen mit Hanyo van Oosterom bastelte er ab Mitte der Achtziger einige der schönsten Meditationssoundtracks, die es im Abendland je gegeben hat – ertrunken in sphärischen Synthozeanen, beatmet durch tribalen Ambient und delikateste Field Recordings. „»Travel In Peace«:https://www.hhv-mag.com/de/review/11051/the-chi-factory-travel-in-peace ist van Oosteroms abschließende Verneigung vor der künstlerischen und menschlichen Größe seines Freundes, der 2019 die Reise ins nächste Leben antrat.Nils Schlechtriemen

Theo Parrish
Wuddaji
Sound Signature • 2020 • ab 43.99€
Theo Parrish hat wieder Bock. Nicht, dass er jemals keinen Bock gehabt hätte, auf »Wuddaji« ist es dem Sound-Signature-Betreiber aber wieder anzuhören. Theo Parrish hat aber auch die Schnauze voll. Wovon, können sich alle denken, die in den letzten paar hundert Jahren mal die Nachrichten aus den USA gelesen haben. Auch das fließt in diese massive Dreifach-LP ein, die mit einem Streich schwarze Musikgeschichte rekapituliert und zwischen spröden Drummachine-Workouts und saftiger Samplelei neue Visionen für die Zukunft formuliert. Kristoffer Cornils

Vladislav Delay / Sly Dunbar / Robbie Shakespeare
500-Push-Up Colored Vinyl Edition
Sub Rosa • 2020 • ab 19.99€
Reist ein Finnländer nach Kingston und statt einer erlösender Pointe steht am Ende ein Album, wie es sich doch niemand hätte erträumen können. Vladislav Delay trifft auf das Rhythmusduo der jamaikanischen Dub- und Reggae-Szene, Sly & Robbie, und die drei jammen sich quicksilbrige Tracks, die auf »500 Push-Up« den Mille-Plateaux-Backkatalog durch den Black-Ark-Fleischwolf drehen. Musik, die sich niemand ausdenken kann, und deshalb im transkulturellen Austausch einfach gemacht werden musste. Danke dafür. Kristoffer Cornils

William Basinski
Lamentations Black Vinyl Edition
Temporary Residence • 2020 • ab 32.99€
Zur Review
Was ist ein Loop? Neben der manifesten ewigen Wiederholung des Gleichen ist es auch ein Sprung in der Erinnerung, etwas, das man einfach nicht loswird oder nicht loslassen kann. Dass der Loop-Meister William Basinski seine jüngste Sammlung von zwölf Schleifen mit teils jahrzehntealtem Archivmaterial »Lamentations« genannt hat, passt da ganz gut. Mit jeder Repetition ändert sich zwar etwas im Gehörten, doch es insistiert zugleich. Diese Beharrungskräfte sorgen für feine Spannung in der Monotonie. Tim Caspar Boehme


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