Wie es Kelly Lee Owen für ihr neues Album gelang, Gefühle zu verkörpern

03.09.2020
Foto:Kim Hiorthoy © Smalltown Supersound
Mit »Inner Song« veröffentlichte die walisische Musikerin ihr zweites Album, das mit einer Hand die Tränen nach dem Closing-Set aus den Augen wischt und mit der anderen das Fenster in den Alltag aufstößt. Ein Gespräch.

Kelly Lee Owens hat nach ihrem Debüt von 2017 wieder an den richtigen Reglern geschraubt. Die in London lebende Musikerin und Sängerin belässt es mit »Inner Song« nicht bei Techno mit Drüberhauch-Momenten, sondern dramatisiert den Dancefloor mit der Kraft aus dem eigenen Körper – und schmirgelt zum ersten Mal an ihrer Pop-Stimme. Für Kelly Lee Owens die 2019 für Jon Hopkins den Himmel auf die Erde geholt und mit »Luminous Space« einen Electronic-Hit produziert hatte, stimmt die Richtung. »Inner Song« hebt ab, taucht ein, blüht auf – in beliebiger Reihenfolge. Nachdem das Album mit über drei Monaten Verspätung (hey, macorona!) in den Plattenläden landet, schnippelt man bei Spotify nicht lange an der Playlist und besorgt sich das Ding mit dem artsy Cover direkt selbst. Für die Freude, für das Leben. Für den Plattenladen.

Du hast gerade dein zweites Album veröffentlicht, nachdem es wegen der Pandemie über drei Monate verschoben wurde. Wie hat sich die ursprüngliche Bedeutung der Platte verändert?
Kelly Lee Owens: Das Album sollte am 1. Mai erscheinen, aber es fühlte sich richtig an, die Veröffentlichung zu verschieben. Plattenläden mussten während des Lockdowns schließen. Die Situation war vage. Nachdem ich über zehn Jahre in Plattenläden gearbeitet hatte, wollte ich sie unbedingt unterstützen und einen Ort der Entdeckung ermöglichen. Das Album erscheint zu einem Zeitpunkt, indem die Leute wieder in die Läden kommen können. Vielleicht spielen ein paar Shops das Album. Manche werden fragen, was sie da hören – oder sie sehen das Cover. Das hat etwas Zeitloses.

Du hast in vier verschiedenen Plattenläden gearbeitet. Welchen Einfluss hatte die Erfahrung hinter der Ladentheke auf dich?
Man kann nicht anders, als sich von den Dingen beeinflussen zu lassen, die man hört. Deshalb ist Sound so wichtig. Er hat eine eigene Kraft. Man kann die Schwingung absorbieren. Sie werden ein Teil von dir. In jedem Plattenladen, in dem ich gearbeitet habe, habe ich etwas anderes entdeckt –, weil die Leute unterschiedliche Musik spielten und ihren eigenen Einfluss mitbrachten. Du wirst ständig mit neuer Musik konfrontiert. Gleichzeitig bin ich auf Dinge aus der Vergangenheit gestoßen, die genauso gut sind und ihre eigene Energie haben. Das hat sich tief in mir verankert.

Das klingt, als würde man die Einflüsse materialisieren.
Alles trägt zu etwas bei, während es gleichzeitig von irgendwoher kommt. Ich bin in Wales aufgewachsen, einem Land, das als Land der Lieder bekannt ist. Menschen singen in Chören. Lieder werden zu einer Art, sich auszudrücken, die sehr gefördert wird. Das gleiche gilt für Poesie. Jedes Jahr wird ein Festival der Literatur namens Eisteddfod veranstaltet, bei dem die walisische Kultur, das kulturelle Erbe und die nationale Geschichte gefeiert wird. Schließlich wurde Wales, wie viele andere Länder, lange von England unterdrückt. Es gab Zeiten, in denen wir nicht in unserer eigenen Sprache sprechen oder singen konnten. Erst jetzt werden Verkehrszeichen sowohl in Walisisch als auch in Englisch übersetzt. Sogar die Züge, mit denen ich nach Hause kam, sprachen bei Durchsagen den Namen meines Ortes falsch aus. Es hat Jahre gedauert, bis sich das geändert hat. Das ist absoluter Wahnsinn, weil es wichtig ist zu verstehen, woher man kommt. Ich habe all das melodische und melancholische Zeug genommen, das in meiner Community gefördert wird, und dann in Indie-Bands gespielt, in denen es wirklich um Melodie geht. Später beeinflusste mich die städtische Umgebung. Hier kommt der Techno ins Spiel.

»In einem Club wie Fabric zu sein und zu verstehen, wie groß ein Raum mit verschiedenen Floors, Momenten und Musik sein kann, hat mich beeindruckt. Es war ein körperliches Erlebnis.«

Du hast erst in deinen späten Zwanzigern Clubmusik entdeckt. Kannst du dich an deinen ersten Rave erinnern?
Ich weiß nicht, ob das langweilig oder cool ist, aber meine erste Cluberfahrung war tatsächlich Fabric. Daniel Avery hat mich dazu gebracht. Wir haben in einem Plattenladen gearbeitet und er hat mich eingeladen, Teile seines Debütalbums »Drone Logic« aufzunehmen. Er spielte auch regelmäßig im Fabric. Deshalb bekam er zusätzliche Tickets – und irgendwann sprang ich ins kalte Wasser und kam mit. In einem Club wie Fabric zu sein und zu verstehen, wie groß ein Raum mit verschiedenen Floors, Momenten und Musik sein kann, hat mich beeindruckt. Es war ein körperliches Erlebnis.

Dieses Erlebnis hört man auf »Jeanette«, »Melt« und »Flow« – straighte Club-Tracks ohne Gesang. Wann entscheidest du dich, auf einem Track zu singen?
Es gibt zu viele Leute, die Clubtracks wie Formeln betrachten, denen sie folgen können, um Geld zu verdienen. Für mich ist das nichts. Sobald ich die Musik gemacht habe, teilt sie mir mit, was ich tun muss – oder was ich lieber bleiben lassen sollte. »Jeanette« war von Anfang an ein antreibender Track. Er wurde immer heller und heller. Meine Stimme hätte die Energie nur zerstört. »Night« ist wiederum ein pumpender Song, auf dem ich trotzdem singe. Ich halte mich nicht an Regeln, sondern an meine Intuition. Indem ich genügend Platz lasse, gebe ich den Sound seine Bestimmung. Schließlich bin ich keine Künstlerin, die den Raum aus Prinzip ausfüllen muss. Ich habe keine Angst vor ihm.

Deine Stimme steht im Vergleich zu deinem Debütalbum viel prominenter im Fokus. Du hast kürzlich gesagt, dass Kieran Hebden (Four Tet) etwas damit zu tun hat. Was ist an der Geschichte dran?
Ich spielte auf dem Big Ears-Festival in Knoxville, Tennessee. Kieran trat als Headliner auf. Da wir denselben Booking-Agent haben, hat Kieran mich gebeten, vor ihm zu spielen. Wer mal auf einem Konzert von ihm war weiß, dass er nicht oft Support-Acts hat. Die Situation hat sich aber gut ergeben. Er hat meine Show gesehen. Nach seinem Konzert kam er zu mir und sagte »Diese Vocals! Warum hast du sie bisher versteckt?« Das forderte mich heraus. Denn bei meinem ersten Album war ich nicht selbstbewusst genug, meine Stimme als echte Gesangsstimme einzusetzen. Ich habe sie als Instrument verwendet und viel Hall und Delay draufgepackt. Mit »Inner Song« wollte ich klarer werden, weil ich mehr bei mir war – und mehr zu sagen hatte. Schließlich habe ich seit der Veröffentlichung meines Debütalbums so viel durchgemacht. Diese Texte hätte ich nicht verwenden wollen, wenn ich sie unter der Musik vergraben hätte.

»Es geht immer um persönliche Dinge. Ich kann nicht über etwas Imaginäres schreiben.«

Und die Produktion ermöglichte es dir, dem Gesang einen größere Wichtigkeit zu geben.
Die Musik trägt bereits die Emotion. Ich schreibe nur auf dem Song, muss die Puzzleteile finden –, aber es geht immer um persönliche Dinge. Ich kann nicht über etwas Imaginäres schreiben. Je ehrlicher und roher und realer ich sein kann, desto stärker wird es mit Menschen in Verbindung stehen. Deshalb trage ich immer Notizbücher mit mir rum, in denen ich meine Gedanken und Gefühle aufschreibe. Sobald es darum geht, die Songs für das Album zu schreiben, besorge ich mir ein neues Notizheft und fasse alle Themen und Ideen zusammen, um die Worte und die Energie zu finden, die zur Musik passen.

In der Pressemitteilung zu »Inner Song« wurde geschrieben, dass es dir schwer gefallen sei, »deinen Sound« für dieses Album zu finden. Wie hast du ihn gefunden?
Oh, es fiel mir nicht schwer, meinen Sound zu finden. Es ging vielmehr um mein Vertrauen, eine neue Platte aufzunehmen. Ich hatte Zweifel, ob ich wieder etwas schaffen könnte, weil ich etwas Traumatisches durchgemacht habe. Ich war erschöpft und hatte nicht die Energie, Dinge so zu erschaffen, wie ich es zuvorgetan hatte. Wenn deine Energie aufgebraucht ist, verschwindet deine kreative Lebenskraft. Sobald ich mich aber dazu entschied, das Album aufzunehmen, ging es ziemlich schnell. Ich habe die Musik in 35 Tagen geschrieben.

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Ich hatte die Grundlage der Songs bereits geschrieben, als ich an dieser Sitzung teilnahm. Es war kurz vor der Woche, als ich vorhatte, zu Hause die Texte und Vokalmelodien zu schreiben. Ich habe mir in London ein kleines Studio eingerichtet, weil ich es mag, Harmonien alleine in einem Raum auszuprobieren. Nachdem ich die Session gemacht hatte, fühlte ich mich ziemlich niedergeschlagen. Ein Teil dieser Trauma-Sitzung besteht darin, dir zu ermöglichen, Traurigkeit und Trauer loszulassen, die du in deinem Körper angestaut hast. Du sollst fühlen – das ist das Ziel. Für mich hat die Session geklappt, weil ich glaube, dass alles somatisch strukturiert ist. Wir verkörpern Emotionen. Man muss ehrlich zu sich selbst sein.