Vinyl-Sprechstunde: Yves Tumor – Heaven To A Tortured Mind

16.04.2020
Zuerst war die Euphorie groß: Yves Tumor bringt eine neue Schallplatte raus! Dann stellte sich Ernüchterung ein. Was tun als Fan, wenn der neue Release eines geliebten Musikers enttäuscht? Nur eine Frage in der neuen Vinyl-Sprechstunde.

Philipp Kunze: Ich steige mal richtig rüde ein: Wenn ich mir ne Kid Rock-CD kaufen würde, und da läge versehentlich die neue Yves Tumor drin – würde mir beim Abspielen nicht auffallen, dass es da eine Verwechslung gab.
Kristoffer Cornils: Doch, schon, zumindest würdest du dich drüber wundern, dass der jetzt mit Childish-Gambino-Funkadelic-Rip-Off-Rip-Off-Musik daherkommt. Also, Kid Rock. Weil, ja: Neo Grunge und Nu Metal-Balladen, alles drin. Aber schon auch recht saftiger Funk aus queerer Perspektive. Ich find’s… ganz gut!? »Kerosene!« und »Strawberry Privilege« zum Beispiel.
Florian Aigner:Es geht los mit einem Just-Blaze-Beat und nach anderthalb Minuten hab ich so einen Smashmouth-Refrain im G’sicht kleben. Das fühlt sich einfach EKLIG an.
Philipp Kunze: Die guten Songs sind die, die klingen wie ein Interlude bei Kendrick Hast du mal »Dream Palette« gehört? Dazu kann man Bud Light trinken.

Kristoffer Cornils: Ja, das ist schon ein mieser Song, »Dream Palette«. Das ist halt die Britpop-B-Seite einer zurecht untergegangenen The-Band von 2005. Was hat den »alten« Yves Tumor für euch so wichtig gemacht, dass euch der neue dermaßen quer geht? Ihr wart ja doch Feuer und Flamme, als der Vorschlag für eine Tumor-Sprechstunde kam.
Philipp Kunze: Ich hasse es, weil ich Yves halt liebe und dem jeeeederzeit zutraue, den interessantesten Shit zu machen.
Kristoffer Cornils: Aber er muss sich an deine Definition von interessantem Shit halten, oder?
Philipp Kunze: Absolut.

»Ich hasse es, weil ich Yves halt liebe und dem jeeeederzeit zutraue, den interessantesten Shit zu machen.«

Philipp Kunze

Kristoffer Cornils: Ich würde noch »Kerosene!« verteidigen: Das ist wirklich in your face-Glam Rock auf ganz queer und camp gedreht, diese Nudel-Gitarre, die Flanger-Effekte in den Strophen. Harte These jetzt, aber das hätte ich mir mit noch leicht größerer Deadpan-Quote im Refrain auch bei Dean Blunt zu »Redeemer«-Zeiten vorstellen können. So, ich hab’s gesagt.
Florian Aigner: »Kerosene« ist halt einfach Lenny Kravitz.
Philipp Kunze: Stellenweise klingt das, wie wenn es bei Eminem ein weibliches Feature gibt. In guten Momenten wie N.E.R.D. ALLES, was man da hört, wurde halt schon tausend mal besser woanders gemacht. Das ist ja immer so ein unangenehmes Totschlag-Argument. Aber hier kann ich nicht anders.
Florian Aigner: LOL gibt es in »Dream Palette« nach 2 Minuten ernsthaft Feuerwerksgeräusche?

Kristoffer Cornils: Ich war ja auch abgeturnt anfangs, und das letzte Album habe ich so gut wie gar nicht mehr mitgeschnitten – obwohl ich vorhin beim nochmaligen Hören doch dann sehr schöne und interessante Tracks drauf gefunden habe. »Heaven To A Tortured Mind « ist halt die, äh, logische Weiterentwicklung des Ganzen. Irgendwie war das alles schon auf »Serpent Music« angelegt, oder?
Philipp Kunze: Dass es angelegt war stimmt! Die Entwicklung ist auch logisch. Ich wünschte mir nur, es wäre anders ausgegangen.
Florian Aigner: »Serpent Music« war für mich halt einfach die periphere Version von Coil und die brauchte es dringend. Das hier… hmmmm…
Philipp Kunze: In meiner Wahrnehmung ging es bei Yves Tumor immer sehr stark um reine Expressivität. Das war ja auch das Faszinierende: Wie der das DUNKLE zum SCHIMMERN gebracht hat. Ich mochte das Groteske, das Verzerrte. All das ist jetzt… weg. Ich glaube, davor klang Tumor einfach nach Auseinandersetzung. Jetzt nach Aneinanderreihung. Könnt ihr’s versuchen? Könnt ihr versuchen, mir näher zu bringen, was hieran eine gute Idee sein könnte?

Kristoffer Cornils: Um was es Tumor ging, das war mir nie so ganz klar. Das wiederum fand ich ja so anziehend. Auch diese Gospel-Ambient-Platte, die zwischendurch in den Äther geschossen wurde: Hä? Okay, geil. Zurück zum Thema: Ich kann und will dieses Album im Gesamten auch echt nicht verteidigen, aber ich finde diese Entwicklung schon interessant. Pippo meinte vorhin off the record, es ginge Tumor um Cash. Aber den Sellout-Vorwurf an einen Warp-Künstler zu richten, finde ich nun auch unsinnig. Tumor könnte, wenn er wollte, sicherlich noch wesentlich direkter auf den Hit-Buzzer drücken.
Florian Aigner: Das stört mich echt auch gar nicht. Was mich stört: Dass er nicht besser ist im Hits schreiben.
Kristoffer Cornils: Ja, »Folie Imposée« beispielsweise ist eigentlich ganz schön, nur eben nicht als Track ausgereift. Obwohl das Unausgereifte bei Tumor früher für die Reibung gesorgt hat – oder?
Philipp Kunze: Voll. »Strawberry Privilege« ist auch nett.
Florian Aigner: Das könnte das Problem sein: die Albumdramaturgie ruiniert die Sachen, die wir vor 6 Jahren genial gefunden hätten.
Philipp Kunze: Ich find’s sad, dass das höchste der Gefühle hier in Spotify-Sunday-Coffee-In-Bed-Playlists landen wird.
Kristoffer Cornils: Ich glaube, er ist einfach nach unseren Standards nicht gut darin, Hits zu schreiben. Vorhin habe ich noch gelesen, dass er mit Nirvana und Green Day aufgewachsen ist. Das hörst du total in den Refrains, du merkst es den Dynamiken an. Da schließt sich wohl ein Kreis, und Tumor uns damit aus? Weil wir einfach keinen Bock auf Green-Day-Refrains haben. Aber vielleicht versuche ich wieder netter zu sein, als ich es bin. Ein paar der Tracks, insbesondere »Gospel for a New Century« und »Dream Palette« machen mich wirklich wütend.

»Das ist doch geil, weil das Fantum ausmacht: Auch mal eine Platte scheiße finden und stattdessen auf die nächste warten.«

Kristoffer Cornils

Florian Aigner: Also, was in jedem halbwegs okay recherchierten Artikel vorkam: Er will Hits machen. Und Rockstar sein. Beides in relativ klassischem Sinn. Und vermutlich ist da bei all den kleinen Bowie’ismen vielleicht dieser Rückbezug zu Nu Metal, Pop Punk und Grunge und überhaupt tatsächlich der EINZIGE legitime?
Kristoffer Cornils: Aber will er das wirklich? Weil dann halte ich »Heaven to a Tortured Mind« schon für einen sehr halbgaren Versuch.
Florian Aigner: Was weiß ich, für mich ist es doch auch nur das schlechteste Blood-Orange-Album ever. Ich bin hier einfach der klassisch enttäuschte Fan. »Serpent Music« ist alles gewesen, was ich wollte.
Kristoffer Cornils: Fair. Kann ich als Musikhörer total nachvollziehen, nur eben als Kritiker nicht. Den Versuch finde ich halbgar, die meisten der Songs und die Sounds auch recht lazy. Aber ich sehe ein Potenzial, ich sehe ein paar gute Stücke.

Florian Aigner: Als Kritiker fühle ich mich krass in der Bringschuld. Das Einzige, was ich noch so halb anerkennend sagen kann, ist dass das genremäßig natürlich auch eine unlösbare Aufgabe ist, die vier ungeilsten Genres aller Zeiten cool und sleazy zu machen. Das erinnert mich dann fast schon wieder an PC Music. Aber vielleicht gebe ich jetzt hier verzweifelt noch Credit um mein Gewissen zu beruhigen.
Kristoffer Cornils: Auf der HHV-Punkte-Skala ausgedrückt, welche Wertung würdet ihr geben? Als Kritiker und Hörer?
Florian Aigner: Als Kritiker gelogenene 8,2, als Hörer 4,4.
Philipp Kunze: 7,9 und 3,9.
Kristoffer Cornils: 7,2 und 5,6.

Philipp Kunze: Ich halte Tumor nach wie vor für ein »Genie«. Und ich glaube auch, dass er das Album genauso wollte, dass es ihm also »gelungen« ist. Kann es für viele einfach ein »gratifying rock album« sein? Rock-Cornils?
Kristoffer Cornils: Ich habe mit Rock vor Ewigkeiten gebrochen, aber lass es mich so sagen: Dafür ist es schlicht immer noch zu schwarz und zu queer. Tumor stellt dem Männlichkeitsfimmel des Genres allein schon entgegen, dass er als nicht-binär verortet und das allein ist für die klassische Rock-Hörerschaft schätzungsweise genauso überfordernd wie die schlierige Sound-Patina auf den Songs. Das wird im Musikexpress vielleicht wohlwollend besprochen, aber beim Rolling-Stone-Blindtest würde es total durchfallen. Was der Platte definitiv zugute zu halten ist.

Yves Tumor
Heaven To A Tortured Mind Silver Vinyl Edition
Warp • 2020 • ab 21.99€
Philipp Kunze: Ich behaupte jetzt mal noch ganz frech, dass man auch der Pitchfork-Review absolute Bemühung anliest. Also Bemühung, es »konzeptuell« zu finden and shit. Also hören den Shit am Ende nur Leute, die 2010 nach Brooklyn gezogen sind?
Florian Aigner: Das Ding ist ja: ich werde halt auch auf das nächste Album komplett gespannt warten und das nicht mal weil ich müsste, sondern weil ich nicht anders kann.
Kristoffer Cornils: Das ist doch geil, weil das Fantum ausmacht: Auch mal eine Platte scheiße finden und stattdessen auf die nächste warten. Okay, fassen wir’s zusammen: »Heaven to a Tortured Mind« hätte was gekonnt, wenn Tumor etwas anderes gewollt hätte als wir. Wollte Tumor aber nicht. 
Das mag es uns als Fans von »Serpent Music« madig machen, ein bisschen Respekt davor haben wir dennoch. Und wissen also zumindest zum Schluss alle: So geil, wie es alle andere zu finden scheinen, finden wir es definitiv nicht. Passiert, vielleicht beim nächsten Mal – dranbleiben könnte sich ja immer noch lohnen.


Die Schallplatten von Yves Tumor findest du im [Webshop von HHV Records](https://www.hhv.de/shop/de/yves-tumor-downbeat-electronica-leftfield/i:A132242D2N109S6U9)