Records Revisited: The Smiths – The Smiths (1984)

20.02.2024
The Smiths machten 1984 ein Album, das sich ganz und gar mit der Realität befasste. Die Zeiten warten hart, aber damit hatte die Band kein Problem. Sie wusste: Wir sind Loser und ihr auch – jetzt lasst uns eine schöne Platte machen.

Realität ist ein schönes Wort. Es grätscht direkt in die Gegenwart, kennt keine Illusion, keinen Schein. Nur Wirklichkeit im Moment. The Smiths, die Jedermann-Band um Morrissey und Johnny Marr aus Manchester, umarmten 1984 jedenfalls ihre eigene beschissene Realität und veröffentlichten ein Debüt, das sich weder wegwünschte noch zurückdachte.

Vielleicht auch, weil The Smiths ihre eigene Gegenwart waren. Eine, in der bei den Briten die allerletzten Baggerschaufeln zum Stillstand kamen, die Schlangen vor den Arbeitsämtern immer länger wurden, aber die Band um Morrissey und Marr genau wusste: Wir sind Loser und ihr auch – jetzt lasst uns eine schöne Platte machen.

Das mag eine Frage des Mindsets sein, das wesensverwandte Kollegen in Manchester nicht kannten, hatten oder wollten. The Smiths ersoffen dabei nicht in Selbstmitleid wie Joy Division. Sie überzeichneten auch nicht das Absurde wie The Fall. The Smiths wussten zwar, dass die Welt nicht besser werden würde. Aber hey, what difference does it make?

Schuld und Sühne lagen schon immer so nah beinander wie Glück und Unglück. Das nächste Riff musste ja nicht gleich verraten, dass man die vergangenen zwei Jahre heulend im Schlafzimmer verbracht hat. Trotzdem wurden über die Jahre viele Zeilen dafür verschwendet, die Smiths im Kontext einer Depression zu verstehen. Ja, ja, die Post-Punk-Jahre im post-industriellen Zeitalter mit Thatcher, Reagan, whatever.

Die Band um Morrissey und Marr genau wusste: Wir sind Loser und ihr auch – jetzt lasst uns eine schöne Platte machen.

Wenn ich mir die erste Platte der Smiths heute anhöre, höre ich gerade noch den Kontext, aber keine Depression. Sicher, manche – darunter ein zölibatärer Sprücheklopfer wie Morrissey – hatten keine Aussicht auf eine Aussicht. Aber deswegen muss man nicht gleich alle Fenster einschlagen, um dann die Vorhänge zuzuziehen.

Wahrscheinlich war The Smiths und Poesie-Bub Morrissey die Depression der Klasse, der sie entstammten, ziemlich egal. Johnny Marr war ein zu guter Gitarrist, um den Drei-Akkorde-Nachlass der No-Future-Kids zu verwalten. Morrissey hatte die falschen Bücher gelesen, um das Andere nur zu hassen. Was war, das wird, na ja: Die Antworten findet man nicht in der Vergangenheit, nie in der Zukunft. Damals nicht und heute noch weniger.

Realität? Keine Überraschung.

»The Smiths« setzte darum nichts voraus. Kein Wissen über das Gewesene. Keinen Wunsch für alles Kommende. Wenn überhaupt war da nur ein Gespür für den Moment, eine Adolescence Angst, die alle irgendwann haben und dann nicht mehr, weil: Die Gegenwart geht wieder vorbei. Deshalb sprangen Singles von The Smiths zwar aus dem Stand in die Charts, hielten sich dort aber nie lange. Sie bestätigten nur die eigene Präsenz – man weiß gerade jetzt, dass man lebt, auch wenn es nur so lala läuft, es könnte immer schlimmer sein.

So eine Ästhetik des Realen hat keine andere Band dieser Zeit jemals besser aus den Verstärkern brummen lassen.

So eine Ästhetik des Realen hat keine andere Band dieser Zeit jemals besser aus den Verstärkern brummen lassen. Während nämlich alle überrascht waren, wie schrecklich die Welt geworden war, hatten die Smiths diesbezüglich einen Wissensvorsprung. Sie saßen da, schulterzuckend, und zeigten einfach drauf: Da, die verflossene Liebe. Dort, das armselige Tachinierer-Dasein. Bedauerlich, bestimmt! Aber kein Grund für einen lebenslangen Trauermarsch, Freunde!

In den Achtzigern war das eine große Sache: die wirklichen Umstände herzeigen, um in ihnen zu leben. Heute wirkt das lächerlich. Die Realität ist längst nicht mehr das, was sie mal war. Und Morrissey zu einem Grantler geworden, der komische Dinge sagt, die Ulf Poschardt gut findet. Vermutlich war er das aber auch schon mit Anfang 20 und die Leute haben das einfach nur vergessen. So wie wir manchmal vergessen, bis die Realität verschwunden ist.