»Living off borrowed time, the clock tick faster«. Im schier unendlichen Kosmos der MF DOOM-Zitate könnte eine Hommage an »Madvillainy« nicht treffender beginnen als mit den ersten Worten auf dem Opener »Accordion«. Für über 15.000 Menschen auf YouTube »einer der legendärsten Songs im Hip-Hop«. Seit MF DOOMs Tod im Jahre 2020 hat sich seine superheldenhafte Vergötterung mindestens vertausendfacht, doch schon vorher galt »Madvillainy« als Meilenstein des Genres – als einflussreichstes Indie-HipHop-Album seit den frühen 2000er Jahren. Frag Tyler The Creator und Earl Sweatshirt, frag Thom Yorke oder The Weeknd. Doch drehen wir die Uhr zurück zum Anfang.
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Madvillainy By Will Hagle
Der Legende nach war es ein Interview in der LA Times, in dem Madlib davon sprach, dass er gerne einmal mit MF DOOM zusammenarbeiten würde. Der damalige Stones Throw-Manager Eothen »Egon« Alapatt zögerte keine Sekunde und ließ DOOM über einen alten Studienfreund ein Paket mit Madlib-Alben zukommen. Kurze Zeit später, im Frühjahr 2002, saß der Supervillain im Flieger von Atlanta nach Los Angeles, um Madlib in seinem Studio »The Bomb Shelter« im Nordosten von Los Angeles zu treffen. Das Haus diente gleichzeitig als Büro und Wohnung für Stones Throw Records, denen abgesehen von einer Turntablism-Platte bis dato nicht der große kommerzielle Durchbruch gelang.
So musste das Gesamtbudget für die Produktion des Albums – die Rede ist von 13.000 US-Dollar – auf abenteuerliche Weise zusammengekratzt werden. Während die Manager im Obergeschoss des Hauses Gerüchten zufolge den Deal für das gemeinsame Album auf einem Pappteller unterzeichneten, brüteten die beiden Hauptakteure zwischen Jazz-Platten und Aufnahme-Equipment im bombensicheren Studiokeller. Oder zogen Bongs und Bier auf der Veranda ihrer Unterkunft am Mount Washington. Ein Setting, das der Entstehung des Albums in dieser frühen Phase außerordentlich zuträglich war. Innerhalb kürzester Zeit entstanden die Songs »Meat Grinder« und »Figaro«.
Fast dem Untergang geweiht
Madlib erinnert sich in einem Gespräch mit Jeff Weiss für Pitchfork: »Alles war spontan und wir haben mit allem gearbeitet, was uns zur Verfügung stand. […] DOOM ist wie mein superschlauer Cousin. Wir tauschen Bücher und Platten von Sun-Ra oder Charlie Parker. Wir sind aus derselben Energie heraus geboren.« DOOM gab 2011 bei der Red Bull Music Academy zu Protokoll: »Wir haben kaum Worte gewechselt. Es war wie Telepathie. Wir haben durch die Musik gesprochen.«
Als jedoch kurz nach Madlibs Brasilien-Trip ein 15-Track-Demo von »Madvillainy« im Internet auftauchte, schien das Projekt dem Untergang geweiht. Bei Stones Throw glaubte niemand mehr an einen Erfolg der Platte. Doch der vierwöchige Aufenthalt sollte sich für Madlib als besonders produktiv erweisen. Der Beat Conducta kaufte in São Paulo auf Flohmärkten und in Plattenläden stapelweise Schallplatten. Während die mitgereisten DJs in der brasilianischen Metropole um die Häuser zogen, verbrachte Madlib die meiste Zeit allein in seinem Hotelzimmer mit einem tragbaren Plastikplattenspieler und einem Boss SP-303 Sampler und zimmerte einen Beat nach dem anderen auf Tape. In dem Hotel in São Paulo entstanden die Instrumentals für »Strange Ways«, »Raid« und »Rhinestone Cowboy« – allesamt Schlüsseltracks des Albums, gespickt mit brasilianischen Samples.
»Bis heute wird »Madvillainy« als avantgardistisches Meisterwerk gefeiert, das mit dem klassischen Albumformat bricht.«
Zurück in den USA und frustriert über das Leak des Albums wandten sich »America’s Most Blunted« anderen Projekten zu. Madlib veröffentlichte »Jaylib« mit J Dilla. MF DOOM brachte mit »Take Me to Your Leader« und »Vaudeville Villain« zwei weitere Releases heraus. Nach einer längeren Pause trafen sich die beiden wieder und DOOM beschloss, die Vocals komplett neu aufzunehmen. Der Villain rappte nun in einem sanfteren, entspannteren und weniger aggressiven Ton als auf dem Demo, erinnert sich Peanut Butter Wolf in Will Hagles lesenswertem Buch aus der Reihe »33 1/3«.
Zum Guten gewendet
Am 23. März 2004 stand »Madvillainy« endlich in den Plattenläden. Statt das Projekt zu torpedieren, hatte der Leak den gegenteiligen Effekt: Er ließ die Erwartungen in ungeahnte Höhen schießen, machte es zum bestverkauften Album von Stones Throw und sicherte rückblickend den Fortbestand des Labels. Bis heute wird »Madvillainy« als avantgardistisches Meisterwerk gefeiert, das mit dem klassischen Albumformat bricht. Kein Song ist länger als drei Minuten, die Stücke gehen fließend ineinander über, es gibt keine Refrains.
Die collageartige Verwendung von Samples aller Art und die verstaubte LoFi-Ästhetik von Madlibs Instrumentals, gepaart mit DOOMS kryptischen Lyrics, seinem schier unendlichen Wortschatz, der häufigen Verwendung von Wortspielen, Doppeldeutigkeiten oder mehrsilbigen Reimen, machten »Madvillainy« zu einer Referenz für die moderne Beat-Generation. Ein Album, das es in dieser unnachahmlichen Genialität weder vorher noch nachher gegeben hat und das es auch heute noch wert ist, von Jung und Alt entdeckt zu werden. Frei nach Lord Quas: »Today is the shadow of tomorrow, Today is the present future of yesterday…«.